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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871)


Ihnen verursachte, und wegen der Ungelegenheit, an welcher ich unabsichtlich Schuld trug, und – und um Sie um Verzeihung zu bitten wegen des großen Ungeschickes, welches ich mir vor wenigen Monaten Ihnen gegenüber zu Schulden kommen ließ …“

„Sie nennen das ein Ungeschick, mein Herr?“

„Ich weiß nicht, wie es zu nennen ist, gnädiges Fräulein; ich weiß nur, daß es ein Unrecht war, und ich bitte Sie um Verzeihung. Ich habe durch meine Mama gehört, daß Sie diese Gegend zu verlassen gedenken, und ich – ich konnte nicht so von Ihnen scheiden …“

„Sie haben kein Unrecht gegen mich begangen, mein Herr. Ich wenigstens weiß nur von einem Scherze, von einem – Scherze, wie ein Adeliger ihn sich bald erlaubt gegen ein unbedeutendes Bürgermädchen.“

Der junge Graf trat flammenden Auges vor sie hin. „Sie sind kein Bürgermädchen!“ rief er. „Sie hätten sich sonst geberdet wie eine Verletzte; Sie sind von echtem Blute! Und ich, ich bin kein echter Edelmann, ich hätte sonst meiner Passion nicht den Zügel losgelassen bei einer Dame, die ich …“

„Mein Herr Graf …“

„Eh! Sie haben kein Recht, mir Schweigen zu gebieten, gnädiges Fräulein, wo ich mich anklagen will. Sehen Sie, ich bin erzogen in einer seltsam exclusiven Atmosphäre – mein Vater lehrte mich trinken und den Edelmann aus der Börse herauswerfen; meine Mutter wieder lehrte mich die Menschen unter uns achten, aber meiden. Sie pflegte zu sagen: ‚Die Berührung des Bürgers bringt uns Vortheil, aber wir vergelten ihn mit Undank, und das bringt uns Schande, und an dieser Schande wird einst unsere ganze Kaste zu Grunde gehen!‘ Man sagt, Sie hätten Ihre Jugend einsam verlebt, gnädiges Fräulein, ich habe die meinige im Trotz verleben müssen! Ich sah Sie als Knabe oft an Ihrem Gartenzaune sitzen; aber ich durfte ja nicht heran! Dann ging ich ‚studiren‘, wie man Genossen freihält und sich auf ‚Schläger‘ prügelt. Dann kam ich heim, und mein erster Blick galt dem Gartenzaune, wo jenes Kind gesessen hatte, meine Jugendgespielin, mit der ich nie spielen durfte, die aber dennoch meine Gespielin gewesen war, denn wenn ich mich als Kind einen Tag über danach gesehnt hatte, mit ihr zu raufen, dann kam sie im Traume an mein Knabenbett und legte mir Blumen in die Hände und auf den Mund … Ich weiß nicht, ob Sie mich verstehen, aber ich habe als Kind oft mit Ihnen gespielt – im Traume.“

Der junge Graf schwieg. Marie schaute ihn an; ihre Augen waren noch rein und klar, aber der ernste Schatten des einsam gebliebenen Kindes lag über ihrem Gesichte wie ein Wolkenschatten.

„Dann sah ich Sie wieder; ich war ein langer Mensch geworden, und Sie waren ein liebliches Mädchen. Ich sprach einmal mit Ihnen dort am Anfange Ihres Gartens. Ein zweites Mal wurden Sie von Zigeunern verfolgt; ich jagte die Leute zurück. Wir waren bald los von ihnen. Sie standen neben mir und dankten mir und lachten über die überstandene Angst. Und ich –“ Graf Leon schwieg.

„Und Sie legten Ihren Arm um mich und küßten mich,“ sagte Marie mit brennenden Augen und zitternden Lippen. „Was lag auch daran?“

„Es lag daran!“ rief der junge Mensch heftig, fast zornig, „denn ich – Fräulein Marie, seien Sie mir nicht böse, aber ich liebe Sie, ich – ich dachte immer nur an Sie seit meiner Kinderzeit, und ich konnte nicht anders, als Sie lieb haben. Aber ich durfte Sie nicht küssen, denn meine Mutter ist unversöhnlich und stolz selbst gegen unsere Gleichgeborenen und um wie viel mehr erst gegen Alles, was bürgerlich ist. Und meine Mutter ist eine Frau, die beim Leben meines seligen Vaters wie eine Nonne vegetirte und die seitdem in immer tieferem Gram dahinsiechte; sie hat das Lächeln, die heiteren Reden Ihrer Hausfrauenstellung – aber sie hat einen unheilbaren Schmerz in sich. Ich fühle das, und deshalb habe ich mir geschworen, meine stolze arme Mutter nie zu kränken bis in’s Herz, und deshalb war es ein Unrecht und eine Beleidigung, gnädiges Fräulein, daß ich es wagte, Sie zu küssen; denn der Kuß ehrt nur die Braut, und ich – ich darf Sie ja nicht so lieben, wie – wie ich Sie lieben muß –!“

Graf Leon schwieg. Er hatte sehr rothe Wangen und seine Stimme zitterte. Er neigte sich über die Hand des Fräuleins, und diese legte ihre andere Hand leise, fast unfühlbar, auf sein Haupt. Ihre Lippen bewegten sich dabei, wie sie sich bewegen, wenn man Jemanden segnet oder wenn das Herz in Thränen überströmt.

Graf Leon war aus dem Zimmer schon lange verschwunden. Marie Kärner hatte ihm sagen wollen, er solle warten, der Regen rausche so heftig auf die unbeschützte Straße nieder; aber sie hatte es nicht gethan, sie hatte es nicht vermocht.

Graf Leon war auf seinem Rosse schon längst hinter dem Gitterzaune im Regennebel verschwunden, und Marie stand noch immer auf derselben Stelle des Zimmers, die Augen auf das kleine Bild ihres todten Vaters gerichtet, das jetzt im Regendämmern wie ein Schmutzfleck an der Wand dunkelte.

Nachmittags kam der gute Herr Volkner in einem lederüberzogenen Wagen, um seine Mündel abzuholen. Er selber hatte einen studentenhaften grauen Radmantel um. Sein Bräunchen wieherte den ganzen Rückweg über vor Ungeduld über das Nebelwetter und über die zwei Garderobekoffer hinter ihm, die sich ihm auf die Nerven legten.

Marie Kärner. hatte ein Handtäschchen im Schooße und in ihr Sacktuch eingewickelt das altmodische kleine finstere Bildniß ihres Vaters, auf welchem sein letzter Blick geruht hatte. Herr Volkner redete davon, daß seine alte Frau schon dreimal die Kaffeetücher gewechselt habe zum Empfange ihres lieben Gastes. Der Kutscher sang dem Bräunchen ein heiseres Hohnlied über die empört wackelnden Ohren hinüber, und der Regen plätscherte eintönig über dem Lederdache des Wagens, in welchem das unbeschützte Haupt der Waise einer fremden Zukunft entgegengerüttelt wurde.




5. Testamentsvollstrecker.

Schloß Lobenstein war ein altes Gebäude, aber im modernsten Stile renovirt. Es war ganz im Florenzer Geschmack der Medici gebaut. Galerien liefen rings um den Hof. An den unteren Simsen waren die Wappen der verschiedenen angeheiratheten Stämme angebracht, an den oberen Simsen Ritterbüsten und Ritterfrauenbüsten. Die Zimmer selber hatten noch den altflorentinischen Stil, aber sie waren von Mr. Jasmin möblirt.

Das intime Empfangszimmer der alten Gräfin war ein wahres Bijou in seiner Art, ein graues Tapetennest, mit hellgelben Seidenflaumen ausstaffirt. Die Gräfin in einem rosenfarbenen Mousselin-Deshabillé lag wie ein verwehtes Rosenblatt auf ihrem Sopha. Die alte Dame hatte soeben den Besuch ihres Sohnes gehabt. Der junge Graf hatte ihr le bon jour gegeben, und sie hatte ihm gesagt: „Und wenn Du in die Stadt hinüberkommst, Leon, erkundige Dich nach dem Befinden des Fräuleins.“

„Ah!“ rief Graf Leon, „Mama, ist das unbedingt nothwendig?“

„Mein lieber Sohn,“ sagte die Gräfin in ihrem südländisch sanften Französisch, „wir werden übermorgen Besitzer ihres Landhauses, und man muß ein Geschäft mit Artigkeiten maskiren.“

In demselben Augenblicke hatte ein Bedienter die Ankunft eines „Gespannes“ gemeldet und in zweiter Reihe die Ankunft eines Fräuleins, welches aus dem Gespann gestiegen war. Und er nannte den Namen des Fräuleins aus hochadeliger Dienerverachtung mit falschem Accente.

„Sie kommt, um mir die Condolenzvisite zu erwidern!“ sagte die alte Gräfin fast athemlos. „Sie kennt die Convenienzen, die Du ignoriren willst, Leon!“ Dabei war die alte Gräfin sehr blaß; sie war in eine sehr luftige Mousselin-Sommerwolke gekleidet und sah sehr bekümmert und ängstlich aus. Wie der Besuch eintrat, lag sie wirklich einem verwehten Rosenblatte gleich auf dem Sopha. Graf Leon hatte sich erhoben.

Marie Kärner, in einfache Cachemir-Trauerkleider gehüllt, das von der Hitze zerrüttete Haar aus ihrer Stirn streichend, trat ein. Man sagte ihr freundlichen Empfang, Marie erklärte, sie komme, um dafür zu danken, daß die Frau Gräfin so freundlich gewesen sei, und Graf Leon sprach etwas dazwischen hinein, endlich trat die Pause des Geplauders ein. Und während sowohl die Gräfin als Leon den Mund öffneten, um diese Pause zu brechen, begann Marie Kärner zu sprechen:

„Und nebenbei, Frau Gräfin, hat mich noch eine Pflicht hierhergerufen. Ein Vermächtniß, einen letzten Befehl meines Vaters möchte ich es nennen –“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Leipzig: Ernst Keil, 1871, Seite 463. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_463.jpg&oldid=- (Version vom 1.10.2017)