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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871)


Vortrag selbst von außerordentlicher Sicherheit in der Sprachbeherrschung, niemals verlegen um den bezeichnenden Ausdruck, niemals überstürzt und überhastet. Weit entfernt von todtem Dictat war er vielmehr eine lebendige Unterhaltung; er verlangte von den Hörern Antwort und Gegenrede; er wandte sich an ihren Scharfsinn; er wußte ihnen den Stoff interessant zu machen und ihn dem Gedächtniß einzuprägen, weil sie ihn selbstschöpferisch sich angeeignet hatten. Einige Nüancen des Vortrags erinnerten an große Meister des Fachs; namentlich wollte man in der Handhabung des Schnupftuchs das Muster Savigny’s und seiner Vortragsweise wiedererkennen.

Ueberhaupt wußte man viel von dem noch jungen Professor zu erzählen. Er gehörte zu den frühreifen Talenten; schon mit sechszehn Jahren hatte er sein Abiturientenexamen gemacht, mit neunzehn die juristische Doctorwürde errungen. Er war während der Julirevolution in Paris gewesen; er hatte Goethe besucht, und der Altmeister deutscher Dichtung hatte seiner in einem Briefe an Zelter anerkennend gedacht. Mit sechsundzwanzig Jahren war er ordentlicher Professor der Rechte an der Königsberger Universität geworden und zugleich Beisitzer des ostpreußischen Tribunals. So rasche Laufbahn konnte nur ein glänzender und bedeutender Kopf zurücklegen. Die Gelehrsamkeit freilich, welche den Werth des Mannes mißt nach der wissenschaftlichen Leistung, nach der Bedeutung der veröffentlichten Schriften, oft auch nach der Masse der Maculatur, welche ein fleißiger Arbeiter im Weinberge des Herrn zu Tage fördert, schien wenig geneigt, den jungen Professor als „voll“ gelten zu lassen, denn es war leider eine unbestreitbare Thatsache, daß er außer einigen akademischen Gelegenheitsschriften, bei denen sich die ersten Hälften oft jahrelang vergebens nach der zweiten sehnten, kein wissenschaftliches Werk veröffentlicht hatte, welches ihm auf eine Stelle neben Savigny, Vangerow und Dirksen Anspruch zu schaffen vermochte. Und so ist es auch Zeitlebens geblieben – nulla dies sine linea, stand nicht in dem Wappen des geborenen Präsidenten, welcher zwei Mal mit der deutschen Kaiserkrone sich auf den Weg machen sollte, einmal nach Berlin, einmal nach Versailles, und das zweite Mal mit besserem Erfolg.

Denn jener junge Gelehrte war Niemand anders als Martin Eduard Simson, später der Präsident des Frankfurter Parlaments und der Norddeutschen Reichstage, einer der größten politischen Würdenträger deutscher Nation. Ich nannte ihn eben den „geborenen Präsidenten“ und er war es in der That; er besaß alle Eigenschaften, welche erforderlich sind, eine große Versammlung von Volksvertretern und Notabilitäten jeder Art zu leiten: eine Repräsentation, die nicht glatt und elegant, sondern würdevoll war, eine seltene Klarheit der Auffassung, welche rasch den Kern der Dinge erfaßte, eine Bestimmtheit und Schärfe des Geistes, welche für die zusammenfassenden Abschlüsse und Fragestellungen unerläßlich ist, vor Allem aber eine Toleranz und Unparteilichkeit, welche die verschiedensten Anschauungen gewähren ließ, fern von jeder Erbitterung, von jedem fanatischen Parteihaß, wie Zeus herabsieht auf das Kampfgetümmel der Troer und Hellenen und mit gleicher Ruhe auch den rabenschwarzen Aethiopen sein olympisches Antlitz zuwendet.

Simson war nicht blos ein anregender Docent, er war auch außerhalb der Collegien ein liebenswürdiger Schutzpatron und Freund seiner Jünger. Wie kein Anderer verstand er den Faltenwurf der Toga auf dem Katheder und dem Forum um sich zu breiten; aber in seiner Häuslichkeit und auf Spaziergängen war er ein aufgeknöpfter geistreicher Gesellschafter. Seine Wohnung auf der Kneiphöfischen Langgasse hatte patricischen Comfort; er bewohnte eines jener schmalen, aber tiefen hanseatischen Häuser, welche dieser Straße mit ihren Vortreppen ein patriarchalisches Ansehen gaben. Durch lange Vorsäle und über mehrere mit Teppichen belegte Treppen hinauf gelangte man in das Allerheiligste des Studirzimmers. Für einen jungen Musensohn hatten diese stattlichen Vorhallen, die zum Tempel führten, etwas sehr Feierliches, und er trat in denselben ein in der gleichen Stimmung, in welcher der Schüler in des Professors Faust magischem Studirgemach erscheint.

Oft ging ich mit meinem Lehrer, der mich in die Geheimnisse der Pandecten einweihte, in diese den Schachvarianten und Schachräthseln so verwandten Aufgaben des juristischen Scharfsinns, auf dem „Bohlensteg“ der „Hufen“ spazieren, welcher jetzt auch den Festungswerken von Königsberg zum Opfer gefallen ist. Es war dies ein idyllischer Spaziergang zwischen Gärten und an den Landhäusern vorbei, auch nicht ohne literargeschichtliche Erinnerungen; denn gleich der erste Garten zur Rechten mahnte an den Königsberger Humoristen Hippel und seinen Lebenslauf in absteigender Linie. Das hölzerne Trottoir der zwei nebeneinander liegenden Bohlen machte auf Eleganz nicht den geringsten Anspruch, wie denn zu jener Zeit Königsberg in vieler Hinsicht noch als ein großes polnisches Dorf betrachtet werden konnte. Unsere Unterhaltungen und Debatten drehten sich oft um die Philosophie, welche damals noch mehr an der Tagesordnung war, als in unserer gegenwärtigen Zeit. Simson war ein Schüler von Herbart, der als eleganter Docent mit Sporenstiefeln und Reitpeitsche, Freund und Kenner der Musik und Mathematik, noch im Gedächtniß seiner Hörer fortlebte; wir Jüngeren aber besuchten die geistreichen Vorlesungen von Karl Rosenkranz und schwuren auf Hegel und seine Weisheit. Simson begnügte sich indeß nicht mit jener vornehmen Verachtung derselben, welche viele der damals in Ostpreußen weitverbreiteten Herbartianer zur Schau trugen; er hörte als Professor noch die Vorlesungen seines Collegen mit an, um an der Quelle die Kenntniß des ihm fremdartigen und widerstrebenden Systems zu schöpfen, welches Samland, Ratangen und Masuren auf einmal mit Anhängern des „Absoluten“ bevölkerte.

Zwei Mal trat ich in den folgenden Jahren noch in nähere Beziehung zu Simson. Einmal bei meinem juristischen Doctorexamen. Simson war Decan der Facultät – und in seinem Hause machte ich die mündliche Prüfung in lateinischer Sprache, und genoß in Gemeinschaft mit der Facultät, nach überstandenen Schrecknissen, ein erheiterndes Abendmahl. In Erinnerung ist mir, außer einigen Lücken im canonischen Recht, namentlich ein in seinem Fache sehr tüchtiger Professor geblieben, dessen Kinn in einer gewaltigen weißen Halsbinde ertrank und der außerdem in der lateinischen Rede eine vornehme Abneigung gegen den Conjunctiv an den Tag legte, dessen er sich nie bediente.

Das andere Mal, im Jahre 1848, handelte es sich um die Wahlen zum Frankfurter Parlament. Ich gehörte zu den Wahlmännern, unsere Hauptcandidaten waren Simson und Jacoby. Ueber diese Wahl, welcher die deutschen Parlamente ihren Präsidenten verdankten, ist bisher wenig bekannt geworden. Und doch hatte sie einen eigenthümlichen Verlauf genommen. In der Vorwahl, welcher fast alle Wahlmänner beiwohnten, erhielt Jacoby eine so überwiegende Mehrzahl von Stimmen, daß von der Candidatur Simson’s gar nicht mehr die Rede zu sein schien, das Verhältniß war etwa vierzig Stimmen gegen zehn. Doch nun begab sich das Wunderbare, daß bei der wirklichen Wahl, den Tag darauf, dies Verhältniß sich fast umkehrte und Simson mit einer bedeutenden Stimmenmehrheit in das Parlament gewählt wurde. Wie das Wunder bewirkt worden war, bleibt unerklärlich; man sprach von Freunden des Professors, welche Alles aufgeboten, um ihre Ueberzeugung von der außerordentlichen Begabung Simson’s noch in der letzten Stunde bei den Wahlmännern zu verbreiten; man erzählte, daß von diesem eine große Abendgesellschaft geladen worden war, um die politischen Dissenters zu bekehren. Simson selbst nahm die Wahl dankend an und schloß seine Anrede an das Wahlmännercollegium mit dem Programm aus Schiller’s „Tell“, das er als das seinige hinstellte:

Wir wollen sein ein einig Volk von Brüdern,
In keiner Noth uns trennen noch Gefahr.
Wir wollen frei sein, wie die Väter waren,
Eher den Tod, als in der Knechtschaft leben.
Wir wollen trauen auf den höchsten Gott,
Und uns nicht fürchten vor der Macht der Menschen.

Was den Gegencandidaten Simson’s, Johann Jacoby, betraf, so erfreute er sich in der Pregelstadt einer großen Popularität. Seine „vier Fragen“ hatten größeres Aufsehen gemacht, als je vorher oder nachher eine Schrift von gleichem Umfang. Sie waren eben der Ausdruck der öffentlichen Meinung, welcher sie die präciseste Fassung gaben, und sie kamen zur rechten Zeit. Das richtige Tempo entscheidet über die geschichtliche Unsterblichkeit. Ueber Jacoby schwebte, als ich ihn zuerst sah, einer jener zahlreichen Hochverrathsprocesse, welche für diesen Politiker charakteristisch blieben; doch war dieser erste ebenso resultatlos wie der spätere, der wegen seiner Theilnahme am Stuttgarter Rumpfparlament gegen ihn angestrengt worden war. Einem jungen Studenten, der

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Leipzig: Ernst Keil, 1871, Seite 217. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_217.jpg&oldid=- (Version vom 2.4.2020)