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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)

und Wasser; sonst haben wir von der Bevölkerung Nichts gesehen, da es sehr bald dunkel wurde. Nachts um ein Uhr hatten wir endlich unser Ziel erreicht und wurden dem Lazareth in der Maison de Nativité (einem Pensionat für die Kinder des Ortes) übergeben. Ein Gefühl für Götter war es, als ich meinen Feldzugsrock ausziehen und mich in ein reines Bett legen lassen konnte. So fest und tief wie diese Nacht habe ich wohl noch nie geschlafen.

Gestärkt und gekräftigt wachte ich am 20. August im Lazareth auf. Ein großer und ein kleiner Saal war für die Kranken eingerichtet, ersterer mit einigen dreißig, letzterer, in dem ich lag, mit neun Betten. Die Betten waren, wenn auch mit Strohsäcken versehen, bequem und rein. Eine Wohltat, die ich schon, ich weiß nicht wie lange, entbehrt hatte, wurde mir hier: ich konnte mich waschen; mir wurde Seife und sogar ein Handtuch gereicht. Man muß es durchgemacht haben, um zu wissen, wie Jemandem, der seit mehr als acht Tagen das Wasser nur zum Trinken benutzen durfte, zu Muthe ist, wenn er sich endlich waschen kann.

Meistens waren es Officiere, welche hier lagen, Preußen, Sachsen und Franzosen. Ich für meine Person hatte eigentlich Pont à Mousson nur als eine Etappe auf meiner Heimreise betrachtet, aber der Chefarzt, Professor Hütter von Greifswald, entriß mich rasch diesem schönen Traum, indem er mir eine Weiterreise, und zwar nicht nur heute und morgen, sondern überhaupt per Wagen verbot. Da hieß es: gehorchen. Und wirklich ging uns hier der Tag ganz gemächlich dahin; man machte sich bekannt und erzählte sich gegenseitig seine Erlebnisse. Allerdings mußte man viele kleine Annehmlichkeiten, als Cigarren etc. entbehren, und die Kost, Kuhfleisch des Mittags und Kuhfleisch des Abends, erinnerte zu sehr an das Bivouac. Ein Johanniter, H. v. Kl., welcher speciell dem Lazareth zugetheilt war, vertröstete uns indeß auf den folgenden Tag.

Die Nacht über litt ich entsetzliche Schmerzen, die erst endeten, als am andern Morgen der Arzt Hülfe brachte. Nach der Beseitigung dieser Pein sollte mich noch eine ganz besondere Lust überraschen. Der Johanniter hatte Wort gehalten, und was er brachte, war das lange am schwersten Entbehrte: Cigarren und Zeitungen! Trugen letztere auch nur die Data vom achten bis zehnten dieses Monats, so streckten sich doch alle Hände ihnen entgegen, und gierig wurde ihr Inhalt verschlungen. H. v. Kl. sorgte wie ein Vater für uns. Mit der Brieftasche in der Hand ging er zu jedem Einzelnen, fragte nach dessen Wünschen, notirte dieselben nicht allein, sondern erfüllte sie auch, wo es möglich war. So war der Wunsch nach Selterwasser laut geworden, aber trotz allen Suchens keines aufzutreiben. Da hörte H. v. Kl., daß in der Stadt ein Selterwasserfabrikant wohne. Flugs wurde derselbe requirirt, Flaschen wurden ihm gegeben, und er arbeitete sofort für die Lazarethe. Am Abend hatten wir Selterser Wasser.

Man muß nur selbst hören, was für Wünsche der verschiedensten Art laut werden. Der Eine will ein Luftkissen haben, der Andere ein Keilkissen, Dieser kleine Kissen, Jener Morgenschuhe, Andere Drahtgitter für kranke Arme, Viele möchten Briefe geschrieben haben – so viel Leute, so viel Wünsche! Daß dazu, um so vielen Anforderungen zu genügen, ein nie ermüdender Eifer gehört, ist gewiß, und daß H. v. Kl. denselben in hohem Grade besaß, davon zeugt unsere Dankbarkeit.

Dieser Tag sollte ein voller Glückstag für uns werden. Gegen Abend, als der Professor eben seine zweite Visite begonnen hatte, erschien im Lazareth König Wilhelm! Er ging zu jedem Bett und fragte jeden Einzelnen nach seinem Befinden, nach seiner Wunde, wo er sie erhalten etc. Ehe der König uns verließ, dankte er uns für unsere Dienste, und auch da noch sprach sich seine Sorge für uns aus, indem er, als Einige sagten, daß sie bald wieder zu ihren Regimentern wollten, uns mit den Worten zur Ruhe ermahnte: „Nur nicht zu früh; ich kann ja auch in meinem Interesse nur wünschen, daß es recht bald geschieht, aber lassen Sie die Wunden erst ordentlich heilen, und gehen Sie nicht zu früh aus.“

Auf den glücklichen Tag und eine stärkende Nacht folgte für mich ein froher Morgen, denn der Professor war so zufrieden mit dem Aussehen der Wunde, daß ich die Erlaubniß erhielt, weiter zu gehen, sobald die Bahn hergestellt sei. Letzteres war keine leere Hoffnung mehr, wir hatten heute schon mehrere Male eine Locomotive pfeifen hören.

Am Vierundzwanzigsten endlich konnte ich von den guten Schwestern Abschied nehmen. Zwei Bonner Studenten trugen mich auf einer Trage nach dem Bahnhofe, und hier wurde ich mit fünf anderen Officieren in einem Güterwagen gebettet. Die Johanniter hatten auch hier wieder für uns gesorgt; schöne Matratzen bedeckten den Boden, auch die nöthigen Decken wurden uns gereicht. Stundenlang dauerte das Einladen der Verwundeten. Endlich pfiff der Zug. Anfangs hieß es, wir sollten in Nancy bleiben, das wir nach einer dreistündigen Fahrt erreichten. Hier war eine Verpflegungsstation der Johanniter. Hätten wir damals gewußt, daß wir noch sechsunddreißig Stunden ununterbrochen fahren müßten, so würden wir uns hier besser vorgesehen haben.

Der Zug fuhr sehr langsam, weil viele schwerer Verwundete ein schnelleres Fahren nicht aushalten konnten; auf jeder Station dehnte sich der Aufenthalt für unsere Ungeduld viel zu lange aus, aber was half es? mußte doch bei jedem Halt ein großer Theil der dreihundert Verwundeten des Zuges frisch verbunden werden, und das ging natürlich nur langsam, da nur ein Arzt den Zug begleitete.

So lange es Tag war, hatten wir trotz der Erschütterungen des Wagens eine ganz angenehme Fahrt; wir sahen lieblich gelegene Thäler, schroff emporsteigende Felsen, welche theilweise von Ruinen gekrönt waren, mit den schönsten Wäldern abwechseln. Als aber die Nacht die Aussicht uns verschloß, schlich die Langeweile sich ein und die Stimmung wurde eine weniger rosige. Jeder versuchte zu schlafen, keinem gelang es recht. War man eben eingenickt, so hielt der Zug und weg war der Schlaf. Dabei hatten wir keine Laterne und konnten nicht die Hand vor Augen sehen.

Als mitten in der Nacht der Zug wieder einmal hielt, meinte einer unserer Burschen, der aus dem Wagen gesprungen war, vor uns blitze es sehr stark. Als wir eine halbe Meile weiter gefahren waren, wiederholten sich diese Blitze häufiger, und wir kamen auf den Gedanken, daß vor uns aus Geschützen geschossen würde. So war es denn auch. Die Bahn, auf der wir jetzt fuhren, theilt sich erst später bei Frouard in einen nördlichen Strang – unser Weg – und eine südliche Bahn, welche nach Straßburg führt. Jetzt lag Straßburg fast in der Verlängerung unserer Schienen. Deutlich sahen wir im Dunkel der Nacht die Blitze der Geschütze, deutlich sah man die Granaten ihren Weg beschreiben und dann crepiren. Dazu leuchtete ein riesengroßer Feuerschein weit über das Land. Der Anblick war ein großartiger. Infanteriefeuer konnten wir nicht hören.

Weiter ging es in die Nacht hinein im feindlichen Lande. Wie leicht konnte ein fanatisirter Elsässer einige Schienen ausgerissen haben, wie leicht ein Franctireur uns aus den Weinbergen eine Kugel senden! Nichts dergleichen, die Fahrt ging glücklich von statten und bald begrüßten wir heimathlichen Boden. Der erste größere Aufenthalt war in Mannheim. Damen und Herren eilten an die Wagen, um uns zu erquicken. Wir hatten es aber auch wirklich nöthig. In Nancy hatten wir zuletzt gegessen, und das war vor vierundzwanzig Stunden gewesen! Am Abend des 24. August hatten wir Frankfurt erreicht. Der Bahnhof stand dicht gedrängt voll Publicum, meist Neugierige, die nichts nutzten, nur im Wege standen und uns mit ihrem Angaffen belästigten. In einer außerordentlich bequemen Trage wurde ich in das mir angewiesene Gasthaus „Zur Stadt Wien“ gebracht. Ein vorzügliches Bett, brillante Verpflegung und das liebenswürdige Entgegenkommen des Hausherrn und seiner Gemahlin ließen mich bald die Strapazen der Reise überstehen. Nach einer vierundzwanzigstündigen Ruhe wurde die Reise fortgesetzt. An den Abends halb acht Uhr aus Frankfurt abgehenden Courierzug wurde durch die Bemühungen eines Johanniters, Graf S., ein Pferdewagen für uns angehängt, wurden Strohsäcke hineingeschoben und eine Laterne oben am Plafond des Wagens befestigt. Anfangs ging Alles gut, aber bald wurden die Schwankungen des Wagens so groß, daß wir uns festhalten mußten, um nicht von unseren Strohsäcken herunterzufallen. Die Laterne oben am Wagen gerieth ebenfalls in bedenkliche Bewegungen, und plötzlich erlosch sie.

Für unsere Wunden war diese Fahrt mehr als nachtheilig; wir Alle kamen wie zerschlagen in Leipzig an. Aber das Gefühl, zu Hause zu sein und Weib und Kind wieder zu sehen, ließ Alles ertragen und vergessen und Wunden heilen ja. Nur Eines blieb, das tiefe Dankgefühl gegen Gott! Hatte doch seine Hand uns sichtbar beschützt.




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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 695. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_695.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)