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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)


worin ich Ihnen nützlich sein kann. Ich komme morgen wieder zu Ihnen, Fräulein; nicht wahr, ich darf ja?“

„O, gewiß wird es mich freuen.“

„Und wenn es Ihnen lästig wird, so lange deutsch zu reden, ich rede auch französisch.“

„In der That?“

„Freilich – aber sehr schlecht. Meine Mutter hat es mich gelehrt – schon früher, bevor noch Ihre Landsleute kamen und es nun alle Welt hier lernen muß. Sie reden so geläufig deutsch!“

„Das ist kein Wunder – ich bin in Deutschland aufgewachsen.“

„Finden Sie, daß der Graf gut französisch redet?“

„Sehr fließend, aber nicht correct – das müssen Sie selbst oft gehört haben!“

„O nicht doch – er redet nie mit mir; er erwidert meinen Gruß, er sieht mir, wenn ich an ihm vorübergehe, wohl nach – dann aber kümmert er sich nicht weiter um mich, und wenn er mich wieder sieht, macht er dasselbe verwunderte Gesicht, als sähe er mich zum ersten Male in seinem Leben. So ist er überhaupt – so zerstreut; neulich sah ich ihn, wie er vom Felde herkam, und als er auf den Hof trat, blieb er plötzlich stehen, erhob langsam wie verwundert das Gesicht und sah das Schloß an, als ob er es in seinem Leben nicht gesehen habe. Oft denk’ ich, er ist nicht recht gescheidt! – er will die ganze Bibliothek durchlesen, Joseph muß ihm jeden Abend einen Arm voll Bücher herunterholen – aber wissen Sie, wie er es macht? er sieht von dreien oder vieren den Titel an, dann schiebt er mit Verwünschungen den ganzen Haufen von sich und Joseph kann sie wieder fortbringen; er legt sich in den Sessel zurück und raucht und starrt die Decke an – so studirt er die ganze Bibliothek durch! Nicht wahr – dabei wird er klüger werden?“

Die Thurmschwalbe lachte laut.

„Und verkehrt der Graf nicht mit dem Herrn Pfarrer oder Ihrem Herrn Caplan?“

Annette schüttelte blos den Kopf. „Mit dem Caplan?“ sagte sie dann das Näschen rümpfend, „dem, sehen Sie, dem verböt’ ich’s nun geradezu – der würde gewiß nur recht garstige Reden und schlechte Dinge von ihm lernen! Aber wie ich wieder in’s Plaudern gerathe; und gewiß bin ich Ihnen schon längst lästig geworden! Adieu, adieu – bis morgen, nicht wahr? Adieu!“

Und damit war die Thurmschwalbe davongeflattert, ehe Melusine nur hatte antworten können, daß sie sie morgen gern wiedersehen werde.

Melusine sah ihr sinnend nach, an alles das denkend, was sie ihr in ihrem Geplauder verrathen. Die wunderlichen Zustände zunächst in der Pfarrei! Ihrem Vater und ihr war der Pfarrer ja selbst schon aufgefallen als ein sehr weltlich denkender Herr, als sie zuerst sich an ihn gewandt und ihn um Aufschlüsse gebeten über die Verhältnisse und den Charakter des Schloßherrn, und ihm anvertraut, daß sie entfernte Verwandtschaftsbeziehungen zu diesem hätten, und daß viel für ihre Zukunft davon abhänge, ob der Graf geneigt sein würde, ihnen seine Hülfe zu gewähren, um nach Frankreich heimkehren und dort ihre Ansprüche geltend machen zu können. Der Pfarrer hatte sich dabei als einen verständigen Mann bewiesen und sich gern erboten, sie zunächst zu Frau Wehrangel zu führen, die in der Zeit des vorigen Schloßherrn dessen rechte Hand und Eins und Alles gewesen, und die ihnen bei dem jetzigen auch am besten als Unterstützung dienen werde. Aber das hatte er gethan, wie jeder Andere es gethan haben würde, kühl und fremd; Salbung lag so wenig in seinem Munde, wie auf den Lippen eines Getreidehändlers oder Notars. Und nun dieser „Pastor“ erst, der von Convertiten nichts wissen wollte, und dieser Caplan, in den die Thurmschwalbe verliebt schien und nun gar die wunderbare Naivetät erst, womit das junge leichtfüßige Geschöpf das ganz offen ausplauderte. Melusine fand sich nicht darin zurecht; sie wußte nicht, wie hier in diesem Lande des gesunden Menschenverstandes der großartige Durchbruch gesunden Menschenverstandes im Nachbarlande, den man die Revolution von 1789 nennt, gewirkt und der Menschen Köpfe erhellt hatte: wie das Natürliche, das rein und ehrlich Menschliche sich so bald geltend gemacht, wo man nur ihm Luft gegeben, und wie das durch bloße Willkürgesetze und nicht durch die Vernunft zur Sitte Gemachte sofort erschüttert ist und sich dem Verfalle zuneigt, sobald das geschichtliche Wesen einen Stoß bekommt und die Willkür ohnmächtig wird.

Mehr aber noch dachte Melusine an das, was Annette ihr über den Schloßherrn erzählt hatte.

Der junge Mann hatte ihr einen ganz eigenthümlichen Eindruck gemacht. Er hatte sie abgestoßen; es schien ein Mensch zu sein, den man fürchtete; nicht blos Annette ja hatte sich so über ihn geäußert, als ob er eine leidenschaftliche und wilde Natur sei, die man zu reizen scheuen müsse, auch der Pfarrer, auch Frau Wehrangel. Was er selber über sich geredet, die rücksichtslose Art, womit er sich gab, Alles das bestätigte diese Reden. Aber der Eindruck, den Melusine von ihm empfangen, war nicht wie der von einem Menschen, den man zu fürchten habe, gewesen, sondern ihr schien sein Charakter mehr „Sturm und Drang“, wie man’s damals nannte, zu enthalten, als eigentlich Wildes und Unbezähmbares; er schien ihr eine verkehrt gerichtete Kraft, ein gährendes Wesen ohne hinreichende Einsicht, um sich selbst zu leiten und zur Klärung zu bringen. Er war wie ein Reiter auf einem launenhaften Pferde, ohne Zügel in der Hand. Es war etwas Wirres in ihm, schien ihr und das stieß sie ab. Dann auch zog sie sein Wesen an, wie etwas Verlassenes, freundlos Alleinstehendes, dem nur die rechte Leitung zu Hülfe zu kommen, die rechte Intelligenz zur Seite zu treten und ihm die rechte Bedeutung des Lebens zu zeigen brauche, um eine tüchtige und starke Natur aus einem Menschenkinde zu machen, das sich sonst innerlich aufreiben und verzehren könne, wie so manche andere Kraft, die in einer so wirren Zeit aufgelöster Verhältnisse, wie damals, kein Ziel fand.

Diesen Eindruck zerstörte nun vollständig das, was eben die Thurmschwalbe erzählt hatte: der junge Mann habe schon drei Menschenleben auf dem Gewissen. War das möglich, war das wahr? Melusine hatte sich schon erhoben, zu ihrem Vater hinaufzugehen und mit ihm darüber zu reden. Gleich darauf ließ sie diesen Vorsatz fahren und setzte sich wieder. Fürchtete sie, daß ihr Vater egoistisch darin nur etwas sehen würde, was ihm persönlich eine Beruhigung sein könne? Daß er sagen werde, desto weniger kann man uns verdenken, wenn wir wider einen solchen Mann unsere Rechte geltend machen wollen? Sie selbst hätte ja so denken können, sie that es nicht, die Mittheilung Annettens hatte sie blos tief erschrocken gemacht, unruhig; sie fühlte vor Allem nur den Drang, zu ergründen, ob die Anschuldigung wahr sei oder nicht!

Und wo es erfahren? Sollte sie Frau Wehrangel aufsuchen und ihr Vertrauen gewinnen? Würde diese gegen Fremde über ihren Herrn reden? Und wäre es edel gewesen, die Hausgenossen des Mannes, der sie und ihren Vater aufgenommen und so sehr verpflichtet, über jenen auszuhorchen? Nein, das war nicht möglich. Sie durfte, sie konnte es nicht; sie konnte nichts thun, als die Aufklärung abwarten, die ihr der Zufall, die vielleicht er selber ihr geben werde; er sprach ja so rücksichtslos und unverhohlen über Alles, sich selbst nicht ausgenommen! Und in der That sollte sie auf eine Aufklärung von ihm nicht lange zu warten haben!




8.

Melusine wendete sich eben nach langem Sinnen ihrer Arbeit wieder zu, als es klopfte, und brüsk und rasch Graf Ulrich bei ihr eintrat.

„Ich komme, Sie und Ihren Vater zu einem Spaziergange aufzufordern, schöne Cousine,“ sagte er – er gebrauchte zum ersten Male diese Verwandtschaftsbezeichnung; „Sie verzeihen, daß ich so unangemeldet bei Ihnen eindringe – ich hätte mich melden lassen sollen; um die Wahrheit zu sagen, ich denke daran erst in diesem Augenblicke, wo Sie mich so ernst und überrascht anschauen; verzeihen Sie mir’s, lassen Sie Ihre Pergamente und kommen Sie in den schönen sonnigen Morgen hinaus.“

„Sie sind sehr gütig,“ versetzte Melusine, die sich erhoben hatte und stehen blieb, ohne dem Grafen einen Sitz zu bieten, „aber ich möchte in der That meine Arbeit fördern, wie sicherlich mein Vater, der oben in seinen Folianten vergraben sein wird, auch – doch haben wir uns natürlich nach Ihren Wünschen zu richten –“

„O, meine Wünsche,“ fiel der Graf hastig und wie durch die steife und ablehnende Haltung der jungen Dame gereizt, „meine Wünsche sollen bei Ihnen nicht in’s Gewicht fallen. Ich dachte nur, Sie müßten selbst sich ein wenig hinaussehnen, von Ihren trockenen alten Scharteken, diesem ledernen Plunder da fort.“

„Darin haben Sie Recht,“ entgegnete Melusine, „ein wenig trocken ist die Beschäftigung mit diesen Blättern … es sind nur Namen zu copiren, bei keinem erhalten wir auch nur die geringste

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 467. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_467.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2019)