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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)


Zur Untreue stellte sich auch das Unglück ein: das schönste Vieh, von dem sie reiche Einnahme gehofft, wurde krank und fiel, und sogar, was seit Menschengedenken nicht geschehen, trat ein – über den reifenden Feldern entlud sich ein Hagelwetter und schlug mit den Aehren und Halmen ihre letzte Hoffnung in den Boden. Ueberdies senkte das große Ungewitter, das über dem einsamen Bergwirthshause stand, sich immer näher und furchtbarer herab: die Entscheidung über das Schicksal seines Herrn, der nach langer weitschweifiger Untersuchung seinem Urtheile entgegensah; von diesem aber hingen alle die unzähligen Ersatz- und Entschädigungsansprüche ab, welche sowohl von den Verunglückten als auch von der Bahnverwaltung für die bedeutenden Kosten der Wiederherstellung dem reichen Bergwirth gegenüber geltend gemacht und zum großen Theile in vorsichtiger Weise schon vor dem letzten Ausspruch angemeldet worden waren. Das Haus wankte in seinem Grunde, und von allen Seiten stürmten steigende Wasser heran, um über dem unterwühlten Grunde zusammenzuschlagen. Es war nicht zu verwundern, daß Alles, was zu fordern hatte, aus Furcht vor dem wahrscheinlichen Falle, auf seine Deckung und Sicherheit bedacht war, und gerade dadurch beitrug, den befürchteten Einsturz herbeizuführen; die Gerichte fanden sich veranlaßt, den Vermögenszustand zu untersuchen; bei der eingetretenen Werthlosigkeit des Wirthschaftsrechtes konnte es nicht ausbleiben, daß die Schätzung von Haus und Hof sehr gering und weitaus unzureichend für Alles, was darauf lastete, ausfiel; die Vergantung wurde beschlossen, und es kam der Tag, an welchem der Notar durch das erste winterliche Schneegestöber in dem Bergwirthshause erschien, um es an den über den Schätzungswerth meistbietenden zu versteigern. Der weite Weg und das böse Wetter hatten den Herrn schon sehr ungehalten gemacht, er wurde es noch mehr, als gar kein Käufer erschien und sich ihm also die Aussicht vergewisserte, die angenehme Fahrt noch einmal machen zu müssen. Mancher hätte vielleicht gern um das schöne Besitzthum gefeilscht, aber Jeder wollte es auf die wohlfeilste Art erwerben und hoffte, diese durch Geduld erreichen zu können.

Bald zog der Winter vollends ein und begrub das Bergwirthshaus in tiefem Schnee wie die Straße über den Westerberg, bei der sonst wohl hundert Hände ineinander gegriffen hatten, um eine fahrbare Bahn herzustellen, während jetzt die Krallen der Nebelkrähe oder die Pranken eines Fuchses die einzigen Werkzeuge waren, die sich in den Schneemassen abdrückten. Es gehörte Juli’s durch eignen Willen gehärtetes Herz dazu, um in der trostlosen Einsamkeit nicht völlig entmuthigt zu werden; sie hatte Niemand um sich als die alte ihr persönlich ergebene Magd und den Knecht, der bei dem Eisenbahnunfalle dabei gewesen, einen rohen, widerhaarigen Burschen, dem sie aber eben des Erlebten wegen Vieles nachsah, und den sie dadurch noch nachlässiger und widerspenstiger machte. Er war der Einzige, der aus dem Hause kam, weil er hie und da den Weg in eine benachbarte Dorfschenke nicht scheute; Juli selbst hatte ihn schon manchmal dazu ermuntert, sich etwas gütlich zu thun, wenn auch die Wunde, die er davongetragen, längst bis auf eine unbedeutende Narbe verschwunden war. Dadurch immer übermüthiger geworden, machte er es sich bald zur Gewohnheit, von seinen Ausflügen betrunken heimzukommen, und die Vorstellungen und Vorwürfe der Herrin erst mit Nichtachtung, dann mit Rohheit zu erwidern. Als er einmal wieder spät in der Nacht und in einem Zustande nach Hause kam, daß er das Erkranken des Einen aus dem letzten noch vorhandenen Pferdepaar nicht gewahrte, und das Thier hülflos zu Grunde gehen ließ, konnte Juli trotz aller Nachsicht nicht umhin, ihm einen derben Verweis zu geben und zu erklären, daß er Haus und Dienst verlassen müsse, sobald er noch einmal betrunken heimkomme.

„Oho – mich aus dem Dienst jagen?“ rief er mit frechem Lachen. „Gehn soll ich? … Meinetwegen, wenn die Jungfer mich fort haben will, kann ich ihr gleich die Freud’ machen und brauch’ sie nit erst auf den nächsten Rausch warten zu lassen. … Zahl’ mir die Jungfer aus, was ich zu kriegen hab’, meinen Lohn von letzter Lichtmeß her und fünfzig Gulden Schmerzengeld für das Loch, das ich in den Kopf ’kriegt hab’ … billiger kann ich’s nit thun, ich möcht’ nicht um tausend den Schrecken und die Schmerzen noch einmal ausstehn! …“

„Du weißt,“ erwiderte Juli, „daß ich über keinen Groschen mehr eigener Herr bin, daß ich dem Gericht für Alles verantwortlich sein muß … den Lohn kann ich Dir drum wohl auszahlen, dazu wird das Bissel wohl noch ausreichen, was da ist, aber Schmerzengeld, Hies … das kann ich Dir nit geben, wenn ich auch wollt’, da mußt Du schon an’s Gericht gehen, wie die Andern …“

„Warum nit gar!“ rief der rohe Bursche. „Das wär’ mir schon zu dumm, daß ich meinem Geld’ langmächtig nachlaufen sollt’ und auf die Letzt’ doch nichts bekäm’! Ich mach’s kürzer und gescheidter; es ist noch genug Sach’ im Haus, das ich brauchen kann, und wenn mir die Jungfer mein Geld nit giebt, so nehm’ ich, was mir gefallt, und mach’ mich bezahlt …“

„Das darfst Du nicht, es ist Alles aufgeschrieben vom Gericht …“

„Um das werd’ ich mich viel kümmern! Und wenn das Haus inventirt ist, dann geh’ ich in den Stall und reit’ mit dem Bräunel fort, er ist ohnedem einschichtig jetzt …“

Er wandte sich trotzig der Thür zu aber Juli rief ihn zurück; sie hatte sich auf einen Ausweg besonnen und aus einem Wandschranke ein kleines Schächtelchen hervorgeholt. „Den Bräunel kann ich Dir nicht lassen, weil er mir nicht gehört,“ sagte sie, „aber Gott soll mich bewahren, daß Ein Mensch, der durch uns ein Unheil erfahren hat, aus dem Haus’ ging’, ohne daß ich ihm gegeben hätte, was er verlangt, und wenn’s mein Allerletztes wäre. … In dem Schächterl da ist auch mein Allerletztes, ein goldnes Ringel mit einem guten Stein, das Einzige, was ich noch hab’ von meiner lieben Mutter … aber nimm’s nur, Hies, und geh’ in Gottes Namen, so viel ist es wohl werth, daß Dir Deine Schmerzen bezahlt sind …“

Gierigen Blicks betrachtete der Knecht den feinen funkelnden Reif; er schien einen Augenblick betreten und unentschlossen, ob er das Anerbieten annehmen solle – aber die Habgier siegte über die edlere Regung; er ergriff den Ring und eilte fort, unbekümmert um den Mann, der an der Thür stehend Zeuge des Vorgangs geworden war.

Es war ein wohlbekannter Gast des Hauses, der freilich selten einsprach und meist nur dann, wenn ein besonderer Anlaß ihn rief oder wenn er, was wieder nicht sehr häufig vorkam, eine kleine Reise machen mußte – der Pfarrer der Gemeinde, welcher das einfache Bergwirthshaus zugetheilt war, dessen Pfarrhaus wie dieses eine Einöde war und tiefer im Gebirge, auf einem ziemlich hohen Berge lag, allein mit der Kirche, während die eingepfarrten Dörfer und Weiler rund herum zerstreut lagen. Er war auch an jenem Abend mit dem Stellwagen durchgereist, als der verhängnißvolle Besuch in das Bergwirthshaus gekommen; seine Erscheinung hatte eine gewisse wohlwollende Würde, wenn auch die starke Beleibtheit und der etwas schlaffe Ausdruck des vollen Gesichts vermuthen ließen, daß große Festigkeit keineswegs ein Hauptzug seines Wesens war.

„Ein böser Bube das,“ rief er, indem er den Arm mit dem Silberknopf eines altmodischen Rohrstocks erhob, als ob er auf der Kanzel stünde, „ich hätte gute Lust, ihm nachzueilen und ihm das unrechte Gut wieder abzunehmen, das er an sich gerissen mit Gewalt und Hinterlist wie Ahab den Weinberg des Naboth.“ … Es hätte der abwehrenden Geberde nicht bedurft, mit welcher Juli ihm entgegentrat, das Wort wäre nicht zur That geworden; denn der Knecht war ein baumstarker und ungeschlachter Mensch und wohl dafür bekannt, daß gütliches Zureden bei ihm ebenso viel ausrichtete, als ein Steinwurf in’s Wasser. „So gehe hin,“ fuhr er in gesteigertem Tone fort, „geh’ hin Du Sohn von der Rotte Korah – das geraubte Scherflein der Waise wird Dir keinen Segen bringen und möge Dir auf der Seele brennen in Ewigkeit!“

„Um Gotteswillen, Herr Pfarrer,“ unterbrach ihn Juli. „Helfen Sie mir aus dem Traum, der mich ängstigt. … Sie kommen zum Bergwirth? In der jetzigen Jahreszeit? Das muß was ganz Besonderes zu bedeuten haben … und wie haben Sie gesagt? Haben Sie mich nicht eine Waise genannt? … Reden Sie, Herr Pfarrer, was ist’s mit meinem Vater?“

„Erschrick nicht, meine Tochter,“ sagte der Pfarrer, indem er sich niederließ, „es ist allerdings keine gewöhnliche Veranlassung, die mich zu Dir führt, aber was ich da soeben von einer Waise sprach, war gewissermaßen nur im figürlichen Sinne gesprochen; aber da Du Deine Mutter verloren und auch Dein Vater für Dich so gut wie ein Verlorener ist, kann man Dich wohl ein Waislein nennen …“

(Fortsetzung folgt.)
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 404. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_404.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2019)