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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)


Das jüngste Wunder. Kurz nach Ostern fiel in Rom ein Ereigniß vor, das nur wenige Zeugen mit angesehen und dessen Kunde nur schüchtern durch alle Gassen lief. Auf die Zustände der Ewigen Stadt indessen und auf die subjective Anschauung des Papstes wirft es ein so bedeutendes Streiflicht, daß es in Deutschland bekannt zu werden verdient.

Unser Fall führt uns nach Monte Mario, in die Nähe der Villa Melini. Von der Straße, die in langen Windungen bergan führt, schaut man weit hinab auf die hellen Häusermassen, auf die Campagna mit ihren schweifenden Linien und das leuchtende Albanergebirg. Ueber dem Allen liegt der italische Himmel mit seinem unerbittlichen Blau, das Aug’ und Seele fast übersättigt. Kein dunkler Ton beherrscht die classische Landschaft, wenn es nicht die Pinien sind, die den Garten der Villa melancholisch umschließen.

Der Monte Mario ist einer der schönsten Wege vor den Thoren der Stadt; dennoch begegnet man nur selten erlesenen Gästen dort. Höchstens am späten Nachmittag, wenn die ganze Straße bereits im Schatten liegt, kommt dann und wann eine rothe Carosse gefahren mit drei Bedienten und einem gepuderten Kutscher. Der Wagen hält und ein purpurner Cardinal mit seinem Begleiter steigt aus demselben und wandelt gemessenen Schrittes die Höhe hinan, denn in Rom selber trifft man keinen Cardinal zu Fuße.

So war es denn auch an jenem Nachmittag, von dem wir erzählen, aber der Wagen enthielt noch mehr als einen rothen Cardinal. Um die Züge des alten Mannes, der mühsam herunterstieg, spielte ein stumpfes Lächeln, an dem Finger funkelte ein Demantring und die wenigen Menschen, die über die Straße gingen, blieben verwundert und verneigend stehen. Ecco il Papa, hörte man flüstern – es war der Papst.

Durch die aufreibenden Eindrücke, die die Berufung des Concils zur Folge hatte, ist Pius der Neunte ganz außerordentlich gealtert. Die Würde des Souverains in seinem Wesen ist gewichen und hat ihm nur mehr den Ausdruck jener Starrheit zurückgelassen, in welche alle autokratischen Naturen zurückfallen, sobald ihnen das Schwungvolle der Idee und das Elastische der Jugend abhanden kommt. Mühsam gestützt auf seinen Begleiter ging der Papst die Straße hinan, ein Bild der menschlichen Schwäche und Gebrechlichkeit. Allein sein Antlitz stand zu dieser in schneidendem Gegensatz, denn ein Selbstbewußtsein, eine Manie der Vergötterung lag auf demselben, die neben dieser Erscheinung fast etwas Wahnwitziges hatte. Wege und Stege sind in Rom von Bettlern belagert; Blinde, die durch die Miasmen der Malaria das Augenlicht verloren, Fieberkranke, Krüppel aller Art flehen um eine milde Gabe.

Neben den vielen anderen saß auch einer, dessen Füße gelähmt waren, der bedauernswerther als die übrigen aussah. Als dieser den Papst gewahrte, da zuckte ein Hauch der Freude über das welke häßliche Gesicht, er hob die Hände empor, und all’ seine Züge sprachen: Herr, erbarme Dich meiner. Pius ging auf ihn zu; es mochte ein Gefühl rein menschlicher Theilnahme sein, das seine Schritte beflügelte: aber bald gewann das Göttliche, d. h. die Vergötterung, über das Menschliche die Oberhand. Bei dem ausgesprochenen Hang, den der Papst für die Wunder hat, und bei der unerschütterlichen Ueberzeugung, daß er selbst das wunderbare Werkzeug Gottes sei, läßt sich der Schritt, der nun geschah, gar wohl begreifen. Leidenschaftlich bewegt erhob er die Hand und sprach zu dem Kranken: „Steh’ auf, nimm Dein Bett und geh’.“ Man kann sich den furchtbaren Eindruck, den dies Wort des Unfehlbaren auf den armen kranken Bettler machte, kaum vorstellen – er war wie vom Blitz getroffen, wie elektrisirt. Mit funkelnden Augen sprang er auf und machte einige Schritte – auch die Züge des Papstes blitzten aber wenige Secunden und der „geheilte“ Kranke brach wieder zusammen. Wie ein Krieger, der mit verzweifelter Kraft gegen eine unüberwindliche Veste stürmt, rief der Papst zum zweiten Male: „Steh’ auf und geh’;“ doch als Jener sich wieder erhob, um wieder zusammenzubrechen, da zitterten die Hände des Pontifex maximus, seine Stimme war heiser, und stammelnd sprach er zum letzten Male den Befehl. Eine Qual, wie sie in den Augen eines verendenden Thieres liegt, arbeitete auf dem Gesicht des halbwilden, schmutzigen Lazarus; denn der Schmerz und die Täuschung tritt im ungebildeten Menschen doppelt grausam auf. Ueber das Antlitz des Papstes aber flog ein Schrecken, der ehrlich gemeint war; er wurde weiß wie das Blatt, auf dem diese Zeilen stehen. Halbohnmächtig hob man ihn in den Wagen, der Begleiter winkte und im Sturmschritt rollte er von dannen. Auf der Straße lag der Bettler und stöhnte: „Madonna, Madonna!“

Ein stärkeres Streiflicht, als dieser merkwürdige Fall auf den Charakter Pius des Neunten wirft, läßt sich kaum denken. Sein Allmachtsstreben, seine Unfehlbarkeitsmanie ist nicht Politik, sondern Glaube, und erst die Andern machen seinen Glauben zu ihrer Politik. Gerade der Umstand, daß Pius ein untaugliches Exemplar für seine Wunderthätigkeit sich aussuchte, zeigt am meisten, wie fest er daran glaubte, gerade seine Niederlage gereicht seinem Charakter zum Ruhme. Die Jesuiten waren natürlich wüthend: hätten sie geahnt, daß der Papst auf diesem Spaziergange einen derartigen Anfall von Unfehlbarkeit erleiden würde – dann wäre das Wunder ohne Zweifel glücklicher verlaufen. Denn man braucht sich nur obenhin zu erinnern, daß es in Rom viele hundert Lahme giebt, die gern Galopp laufen, wenn das Laufen besser bezahlt wird, als die Lahmheit. Ein prächtiges Sensationsstück ist damit der infalliblen Partei entgangen! In allen Blättern, vor aller Welt hätte man das neue Wunder verkünden können und Monte Mario wäre ein heiliger Berg geworden.

Daß unter den bestehenden Umständen das Geheimniß ängstlich gehütet ward, läßt sich erklären; dennoch drang es schnell in die öffentliche Meinung. Freilich wagte Niemand, laut davon zu berichten, aber flüsternd ging es von Mund zu Munde, und wer es Abends auf den Straßen erzählte, der blickte vorsichtig über die Achsel. Denn es giebt in Rom nicht nur lange, sondern auch spitze Ohren.


Kleiner Briefkasten.

Ml. in Dr. Ihre zahlreiche Gesellschaft ist ja gerade einer der zahlreichen Beweise, daß es mit der „Verplattung und Austrocknung des Lebens“ so schlimm nicht bestellt ist. Um sich zu überzeugen, daß der viel beklagte „materialistische Zug“ unseres Zeitalters vor Allem die Poesie nicht aus dem Leben und dem Interessenkreise der Menschen verdrängen konnte, brauchen Sie nur einen flüchtigen Blick auf den jährlichen Verlauf des Büchermarkts zu werfen. Aus unzähligen Herzen blühen nicht blos fort und fort Gedichte und dichterische Gestaltungen hervor, sondern was auf diesem idealen Gebiete mit ernster Hingebung irgend Gutes und Eindrucksvolles geschaffen ist, das findet auch weit und breit ein empfänglich hingehendes und andächtiges Publicum. Und nicht blos die Freude an der poetischen Schöpfung ist den Zeitgenossen geblieben, Anfragen, wie die Ihrige, welche fast täglich an uns gelangen, zeigen uns deutlich: es hat sich in den letzten Jahrzehnten die Unterscheidungskraft geschärft, das Urtheil vertieft und der Geschmack veredelt, es ist gerade in unseren vom lärmenden Gewühl realistischen Strebens durchbrausten Tagen der Drang nach Einblick in Geschichte, Gesetz und Wesen der Dichtung über die specifisch wissenschaftlichen und künstlerischen Schichten hinausgewachsen.

Den mannigfachen schriftstellerischen Producten, welche diesen Drang geweckt und gefördert haben, ist stets in den „Deutschen Blättern“, unserer literarisch-politischen Feuilleton-Beilage, eine besondere Aufmerksamkeit gewidmet worden. Sollen wir Ihnen ein Werk empfehlen, das den Zwecken Ihres Vereins entspricht, so glauben wir kein geeigneteres nennen zu können, als Rudolf Gottschall’s „Poetik“. Dieses zweibändige Buch ist kürzlich (bei Trewendt in Breslau) schon in einer zweiten Auflage erschienen, bis jetzt aber sicher nur der kleineren Zahl jener Bildungsbedürftigen bekannt, denen es wahrhaft nützen und ein Quell erhebender Belehrung werden könnte. Was Gottschall in seiner „Poetik“ geben, welchem speciellen Bedürfnisse der Zeit er damit entgegenkommen wollte, darüber hat er selber in der Vorrede und Einleitung so klar und ausführlich gesprochen, daß wir uns wohl auf die allgemeine Hinweisung beschränken können: das Buch soll die Dichtkunst und ihre Technik vom Standpunkte der Neuzeit aus beleuchten. Diese letztere Aufgabe ist bestimmend für Inhalt und Form der ganzen Arbeit geworden, die wir nach beiden Seiten hin für eine der gediegensten und glänzendsten des vielseitigen Autors halten.

Gottschall’s „Poetik“ ist ein systematisch-wissenschaftliches Lehrbuch und trägt doch in Ton und Haltung den elegant und fein sich zuspitzenden, dem Geschmacke und den Gewohnheiten heutiger Leser zusagenden Charakter einer publicistischen Leistung. Während das Werk sich frei erhält von der vornehmen Trockenheit und Abstraction, welche derartige Bücher selbst der größeren Masse der Gebildeten oft so ungenießbar machen, zeigt es doch auch nichts von jenem spielenden und flüchtigen Dahingleiten, dessen die Aesthetiker der Zeitungsfeuilletons sich befleißigen müssen. In einer großen Reihe von zusammenhängenden Abschnitten und Capiteln, die sich als eben so viele anregende und geistvolle Essays bezeichnen lassen, sehen Sie vielmehr hier einen Dichter über die innersten Geheimnisse, die verschiedensten Seiten und Materien seiner Kunst in möglichst erschöpfender Weise sich verbreiten und in diese lebendige Darstellung auch die kritische Gedankenschärfe und die Fülle von Bildung, Belesenheit und Wissen verweben, die ihm zugleich unter den ästhetischen Kritikern Deutschlands einen anerkannten Rang gesichert haben.

Daß der Leser deshalb auf die Worte des Verfassers schwören möge, soll damit keineswegs gesagt sein; es sind abweichende Ansichten in dem Buche, die geprüft und erörtert sein wollen, und mit denen nicht Jedermann sich einverstanden erklärt. Als Ganzes aber ist es unzweifelhaft eine positiv werth- und inhaltsreiche, von schwungvollem Ernst getragene, vom edelsten Geschmacke durchleuchtete Schöpfung, die unserer modernen Literatur zur Ehre gereicht, ein Werk, das den Sinn für ernstes Studium in vollem Maße zu befriedigen und doch auch dem Verlangen nach einer anziehenden und anmuthigen Lectüre zu entsprechen weiß. Solcher wissenschaftlichen Bücher haben wir bei uns noch nicht viele, und es muß ihnen zu stärkerer Einwirkung auf den Bildungsgang der Nation verholfen werden.

Fr.

A. Z. in Kl. Das Passionsspiel zu Oberammergau findet statt am 22. und 29. Mai; am 6., 12., 19. und 25. Juni; am 3., 10., 17., 24. und 31. Juli; am 7., 14., 21. und 28. August; am 8., 11., 18., 25. und 29. September.



Ehrengabe für Roderich Benedix.

Als erste Erfüllung unserer Bitte gingen folgende Beiträge ein: Dr. H. Laube in Leipzig 30 Thlr. – Alphons Dürr in Leipzig 25 Thlr. –

Louise Kd. in L. 1 Thlr. – Redaction der Gartenlaube 50 Thlr. – Otto Wigand jun. 10 Thlr. – J. Merfeld in Leipzig 5 Thlr. – L. K. in L. 2 Thlr. – Dem Dichter, der so oft mich erfreut, von Herzen dies Scherflein sei geweiht. M. in Gera 10 Thlr.

Die Redaction.

Inhalt: Der Bergwirth. Geschichte aus den bairischen Bergen. Von Herman Schmid. (Fortsetzung.) – Ein Dichter des Wupperthales. Von Albert Traeger. Mit Portrait. – Die verlassene Frau eines Bonaparte. – Der gebändigte Strom. Mit Abbildung. – Das Bernsteingold des Samlands und seine neueste Gewinnung. Von einem Ostpreußen. (Schluß.) Mit Abbildung. – Blätter und Blüthen: E. Marlitt als Ehestifterin. Von C. Spielmann. – Auskunftsmappe der Gartenlaube. – Weitere Liste der vermißten Landsleute jenseits des Oceans. – Das jüngste Wunder. – Kleiner Briefkasten. – Ehrengabe für Roderich Benedix.


Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 384. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_384.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)