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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)


Uebrigens sind einige blinde Schüsse – ich habe mein Leben lang nur ungern selbst schädliche Thiere getödtet – vollkommen hinreichend, um die beiden Diebesgenossen zu vertreiben, falls sie nicht schon ihre Nester in der Nähe aufgebaut haben, die man natürlich wegnehmen muß. Endlich aber suche man die Singvögel, welche man in seinen Garten gewöhnen will, durch ihr Lieblingsfutter anzulocken und zu fesseln. Austern, Caviar, Lachs etc., in die Sprache der Singvögel übersetzt, heißen aber Mehlwürmer und Ameisenpuppen. Sie sind die wahren und unwiderstehlichen Delicatessen, nicht allein für die große Anzahl aller „Insectenfresser“, sondern auch für die Mehrzahl der sogenannten Körnerfresser! Ja neuerliche Beobachtungen in meiner Volière haben mich zu meiner Ueberraschung belehrt, daß sogar Papageien ihre zarten Jungen damit ätzen, und man könnte wirklich fragen: Wer unter den Vögeln frißt keine Mehlwürmer und Ameisenpuppen?

Ich für mein Theil habe nun zwar nicht blos den Sommergästen bei ihrer Ankunft diese Leckereien entgegengebracht, sondern auch für die armen Stand- und Strichvögel, Meisen, Finken, Ammern etc., in der bösen Winterzeit Sorge getragen; eine Folge davon sind meine stets besetzten Nistkästchen aller Art! Ganz besonders aber habe ich immer dafür gesorgt, daß die ankommenden Erdsänger, Nachtigall, Roth- und Blaukehlchen, gedeckten Tisch fanden. Ich habe zu diesem Zwecke das dürre Laub unter dichtem Gebüsch stellenweise entfernt und einige Schalen mit Mehlwürmern und Ameisenpuppen dorthin gestellt, und wenn es mir auch nicht gelungen ist, das liebliche Blaukehlchen dauernd an meinen mitten im Dorfe gelegenen Pfarrgarten zu fesseln, so haben sich deren mehrere doch stets länger darin aufgehalten und mit ihrem schönen Schlage mehr erfreut, als sie es ohne diese verführerische Lockspeise sonst wohl gethan haben würden. Ein in meiner Volière herumfliegendes Blaukehlchen habe ich im vorigen Jahre durch Mehlwürmer dahin gebracht, daß es mir durch Flur, Treppe und Stuben bis zu meinem Studirzimmer folgte, spielend auf der schreibenden Hand saß und nach den Buchstaben pickte.

Mit Nachtigall und Rothkehlchen ist es mir noch besser geglückt. Sobald ich gegen Mitte April das erste „Wiidkarr“ oder „Tack“ vernahm, wurde den ersehnten Ankömmlingen ihr Leckermahl vorgesetzt und meist sofort angenommen. Man muß indeß die Procedur möglichst in ihrer Nähe vornehmen; sehen sie die laubfreie aufgelockerte Stelle, so fliegen sie sehr bald herab und ergreifen zunächst die auf den Erdboden hingelegten Würmer, gehen aber auch bald an die im Gefäße hingesetzten. Fast ohne Ausnahme begannen die trauten Sänger, sobald sie die Localitäten genauer in Augenschein genommen, ihr wunderbares Lied, und kamen einige Tage später die Weibchen an, so waren die Männchen bereits eingewohnt und überredeten jene leicht zum Dableiben, und dann erst bekam das Lied den „süß-gewaltigen Ton, der sich so trostvoll an’s Menschenherz legt“!

Noch wenige Wochen und sie kehren zurück, Königin Nachtigall und ihr ganzer Hofstaat von Minnesängern, und bringen „frisches Grün“ mit und Blüthenpracht und Blumenduft und warmen Sonnenschein, und besingen all’ diese Herrlichkeit in süß-gewaltigen Liedern.

Gieb wohl acht! Um die Mitte dieses Monats beginnt der Einzug! So etwa vom 10. an kommt der Plattmönch, um die Königin anzukündigen. Vom 15. an kannst Du sie jeden Morgen erwarten (Mitteldeutschland), später als am 26. trifft sie wohl selten ein. Sie richtet sich indeß weniger nach dem norddeutschen als nach dem Naturkalender: sieht sie die Stachelbeerbüsche blühen, den Weißdorn grünen und die Kirschblüthe sich entfalten – dann kann sie sich nicht länger halten, dann muß es endlich Frühling werden!

Halle, Anfang April 1870.

E. Baldamus.


Ein Besuch bei Henri Rochefort.[1]

Am Abend desselben Tages, an dem ich meinen ersten Besuch bei dem Deportirten von Cayenne, dem tapfern Delescluze, gemacht hatte, ging ich nochmals in das düstere Haus der Aboukirstraße, um Henri Rochefort, den Redacteur der „Marseillaise“, zu besuchen. Die „Marseillaise“ wird während der Nacht gedruckt. Rochefort pflegte deshalb allabendlich zwischen neun und zehn Uhr in das Redactionsbureau zu kommen und dort bis Mitternacht zu arbeiten. Freund Seinguerlet, der Redacteur des „Avenir National“, hatte schon einige Tage vorher an seinen Collegen von der „Marseillaise“ geschrieben, daß ich ihm einen Besuch zu machen wünsche.

Es war fast zehn Uhr. Das Haus in der Aboukirstraße lag in tiefstem Dunkel. Im Erdgeschoß und in den beiden ersten Stockwerken war nirgends mehr ein Licht zu erblicken. Nur sämmtliche Fenster des dritten Stocks waren hell erleuchtet; im dritten Stock befanden sich die Redactionszimmer und Verwaltungsbureaux der jüngsten und am meisten verbreiteten Pariser republikanischen Zeitung. Im Januar betrug die Abonnentenzahl der „Marseillaise“ dreißigtausend, während der Straßenverkauf wenigstens ebenso viel Abnehmer brachte und häufig auf fünfzigtausend stieg. An ereignißvollen Tagen wurde die Nummer oft mit ein bis drei Francs auf den Boulevards bezahlt. Die Redacteure der „Marseillaise“ vertheilen in echt demokratischer Weise die Einkünfte des Blattes unter sich zu gleichen Theilen; das monatliche Einkommen jedes Redacteurs steigt, je nach der Ziffer des Straßenverkaufs, da die Abonnentenzahl eine bestimmte ist, oft von fünfzehnhundert bis zweitausendfünfhundert Francs. Daß der Chefredacteur aus dem Blatte für sich eine Geldquelle mache, gehört also, wie so vieles Andere, in den Kreis kläglicher und aus der Luft gegriffener Verleumdungen. Rochefort bezieht nicht mehr Gehalt aus der „Marseillaise“ als jeder seiner Mitredacteure.

Die steinerne Wendeltreppe, welche im Hause Nummer 9 der Aboukirstraße aus dem Erdgeschoß in die oberen Stockwerke führt, war in ihrer untern Hälfte, sowie die Flure im ersten und zweiten Stock, nur durch ein paar einsame Gasflammen erleuchtet. Das am Tage so belebte Haus erschien wie ausgestorben. Erst im dritten Stock war Beleuchtung, Leben und Bewegung. Das Vorzimmer der Redaction der „Marseillaise“ war überfüllt mit Menschen; jeder Stuhl, jeder Platz auf den Bänken an der Wand war besetzt; Andere umstanden einen an einem kleinen Tische sitzenden Secretär, der ihnen die Inserate für die nächste Nummer der Zeitung abnahm. Die Wände waren mit einigen Bildern des unglücklichen Victor Noir geschmückt, den Peter Bonaparte einige Tage vorher in Auteuil meuchlings erschossen hatte, unter ihnen das bekannte Bild von Gille, welches den Ermordeten nach dem Tode, die blutige Schußwunde in der Brust, darstellt. Ich überreichte dem Secretär meine Karte mit der Bitte, mich dem Chefredacteur der „Marseillaise“ zu melden. Er ließ einen Stuhl aus einem Nebenzimmer für mich holen und übergab die Karte dem Redactionsdiener, einem Arbeiter in der historischen blauen Blouse. Nach einigen Minuten kehrte derselbe zurück und sagte: „Bürger! der Bürger Rochefort bedauert sehr, Sie heute nicht empfangen zu können. Er ist gerade mit dem Leitartikel für das morgende Blatt beschäftigt, der in einer Stunde unter die Presse gehen muß. Wenn Sie aber morgen Abend um dieselbe Zeit wie heute kommen wollten, so würde Ihr Besuch ihm sehr willkommen sein.“ Jeder Schriftsteller weiß, wie wichtig der Leitartikel ist, auf den die Setzer warten. Ich beauftragte den Redactionsdiener dem „Bürger Rochefort“ zu sagen, daß ich am nächsten Abend um zehn Uhr meinen Besuch auf dem Redactionsbureau wiederholen würde, und stieg die düstere steinerne Wendeltreppe wieder in die Aboukirstraße hinab, um noch einen Spaziergang über die Boulevards zu machen.

Am nächsten Abend fand ich mich pünktlich um zehn Uhr auf der Redaction der „Marseillaise“ ein. Das Vorzimmer bot ganz denselben Anblick wie am verflossenen Abend. Der Secretär führte mich in ein nach der Straße belegenes Zimmer und ersuchte mich, einige Minuten zu warten; ein Besuch, der gerade im Cabinet des Chefredacteurs sei, würde sogleich dasselbe verlassen; er werde mich demselben melden. Auch in diesem Zimmer waren die Wände mit mehreren Bildern Victor Noir’s, außerdem mit einem großen Oelgemälde decorirt. Es stellte die von Soldaten gestürmte Barricade im Faubourg Saint Antoine dar, auf welcher der tapfere Volksvertreter Baudin am Tage des dritten December den Heldentod für die Freiheit und für die Republik starb. „Diese erste Barricade des December,“ sagt Eugen Tenot in seinem

  1. Den übrigen Schilderungen Rochefort’s gegenüber dürfte nachfolgende Charakteristik eines Freundes des Agitators wohl besonderes Interesse beanspruchen.
    Die Redaction.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 280. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_280.jpg&oldid=- (Version vom 11.5.2019)