Seite:Die Gartenlaube (1870) 103.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)


Der „Alte in Neuhaus“.

Hart an der vor Kurzem erbauten Berlin-Görlitzer Eisenbahn, und seitdem von dem öffentlichen Verkehr etwas mehr berührt, liegt die alte Kreisstadt Lübben in der Niederlausitz, ein kleiner, ruhiger Ort; so ruhig, daß Verfasser dieser Zeilen noch vor wenigen Jahren den üppigen Graswuchs auf seinem Marktplatze zu bewundern Gelegenheit hatte, über welchen hinweg das dritte brandenburgische Jägerbataillon, welches daselbst garnisonirt und dadurch die Stille des Tages und der Nacht wenigstens einigermaßen lebendig unterbricht, sonntäglich nach abgehaltener Parade mit klingendem Spiel nach der Hauptwache zu marschiren pflegte. Sonst läßt sich wenig mehr von dem Städtchen sagen, als daß es, seitdem 1815 die neue Organisation der an Preußen abgetretenen Niederlausitz erfolgte, der Sitz der Landstände für dieselbe ist.

Und doch ist das kleine Städtchen nicht ohne Verdienste, welche es berechtigen, auch in weitern Kreisen genannt zu werden.

Es hat nicht jede Stadt sich einer Luthergruft zu rühmen, wie Wittenberg, aber auch nicht der Gruft eines Paul Gerhard, wie Lübben. Wer, wie wir, die Archive der Stadt durchsuchte, den mußte es wie eine heilige Scheu überkommen, fiel sein Auge auf die vergilbten, sicher und fest geschriebenen Briefe voll rührenden Gottvertrauens, in denen der große Mann sich auf seiner Flucht an den Magistrat der Stadt wendete, um in ihren Mauern Schutz zu suchen und – zu finden. Hier war es, wo er sein herrliches Lied: „Befiehl’ du deine Wege etc.“ dichtete; hier war es, wo der Herzog Christian von Merseburg, der damalige Besitzer der Niederlausitz, ihn aussuchen ließ und zum Archidiaconus der Stadt ernannte; hier war es, wo er starb und in der Kirche beigesetzt wurde, in welcher wir seine Gruft noch heut’ finden und uns erbauen können an seinen Zügen; denn das auf des damaligen Syndicus der Landstände, des Freiherrn Ernst von Houwald, Veranlassung 1831 gestochene Bildniß des frommen Mannes, welches in derselben Kirche hängt, ist noch wohl erhalten.

Ernst von Houwald! – wie wir seinen Namen niederschreiben, so schreiben wir mit ihm das zweite Ruhmesdocument des Städtchens nieder. Denn wir müssen auch hier wiederholen: es hat nicht jede Stadt sich eines „Alten in Neuseß“ zu rühmen, wie Coburg eines Rückert, aber auch nicht eines „Alten in Neuhaus“, eines Ernst von Houwald, wie Lübben. Und indem wir dies sagen, schwebt uns die Aufgabe vor, die wir uns gestellt, der Mitwelt einige Skizzen zu der Biographie des am 28. Januar 1870 seit einem Vierteljahrhundert verewigten, seiner Zeit weitgefeierten Dichters des „Bildes“ zu liefern, in deren Besitz wir bei langjährigem Aufenthalt in Lübben und dessen Umgegend, theils durch Ueberlieferungen seiner Zeitgenossen, theils durch gütige Mittheilung eines der nächsten Verwandten des Dichters gelangt sind und welche wir bis zu dieser Stunde für den Druck sorgsam aufbewahrt haben.

Dieselben dürfen auch heute noch das allgemeinste Interesse beanspruchen; sind es doch, wie gesagt, erst wenige Decennien, daß Houwald ein vielgelesener Dichter war, dessen Erzählungen ihrer reichen Phantasie und ihrer schönen Gestaltung halber die bewundernde Theilnahme verdienten, welche sie allerwegen fanden. Es ist zu bedauern, daß Houwald sich nicht nachdrücklicher dieser Form zuwandte und daß er sie über dem Drama vernachlässigte, dem er seine besten Kräfte schenkte und in dessen Geschichte er seinen Namen dadurch eng verflochten hat, daß er sich, wie bekannt, der von Werner und Müllner begründeten fatalistischen Richtung auf’s Wärmste anschloß.

Die ländliche Abgeschiedenheit, in welcher er lebte und in welcher ihm der jüngere Contessa ein treuer Freund und Begleiter war, förderte seine dichterische Production auf das Beste und als er, im Jahre 1822 von den niederlausitzer Landständen zum Landsyndicus erwählt, sein Landgut „Neuhaus“ bei Lübben bezog, verließ er seine Heimath nicht wieder und lebte fortan seinem Amte und in der freien Zeit seiner Muse. Wer ihn aus jener Zeit gekannt, der schildert unsern Dichter als einen Mann von ungemeiner Menschenfreundlichkeit, Offenheit und Hingebung, der allzeit für Jeden das hatte, was er suchte: in Sachen seines Amtes Rath und That, für den Bedürftigen offene Hand und offene Tafel, für Menschen von Geist, Herz und Gemüth ein behagliches Asyl. Sein Haus war der Sammelplatz für Alle, welche mit dem Dichter Eines Strebens waren, und alte, ehrsame Bürger der Stadt erzählten uns, wie sie, des Nachts zu der oder jener Stunde nach Hause zurückkehrend, vor den noch immer hell erleuchteten Fenstern der Dichterwohnung stehen geblieben seien und, wenn aus denselben endlose Heiterkeit und Fröhlichkeit erklungen, den Kopf geschüttelt und bei sich gedacht hätten, was die da drinnen doch gar so Wichtiges vorhaben möchten, daß die Mahnungen der Uhr und des einsamen Wächters der Nacht spurlos an ihren Ohren vorüber gingen!

Es war dem Dichter nicht gegeben, eine Bitte abzuschlagen, wenn sie von einem Bedürftigen an ihn gestellt und ihre Erfüllung ihm möglich war. Mehr als einmal begegnete es ihm hierbei, daß er das Letzte aus seiner Tasche zog, um sie nicht ungewährt zu lassen; – daß er das, was er hingab, vielleicht selbst gerade nöthig brauchte, machte ihm keine Sorge. Er wurde öfter hierin auf die Probe gestellt. Einmal besonders, an einem schönen Sommertage, saß er vor seinem Hause in Sellendorf unter dem schützenden Dach einer alten Linde und gab sich dem Genusse der würzigen Düfte hin. Da kam ein Wanderbursche des Weges, ein armer, dürftiger Geselle, aber mit einem so klaren, freundlichen Gesicht, wie der Himmel über ihm. Er blieb vor dem Dichter stehen und sprach ihn, den Hut in der Hand, um eine Gabe an. Houwald fuhr, wie immer bei solchen Gelegenheiten, mechanisch in die Tasche – aber siehe! es befand sich darin nur noch ein einziger harter, blanker Thaler. Er dachte vielleicht daran, das Stück zu wechseln, aber wie er sich umsah und sein Blick immer wieder nur auf den lustigen Burschen vor ihm fiel, da lächelte er und – warf ihm den Thaler in den Hut. Der Bursche wurde vor Verlegenheit, Ueberraschung und Freude roth, noch mehr, als er es schon war von der Hitze und seinem Marsche; er drehte das Geldstück hin und her und sagte endlich stammelnd: „Hoher Herr, ich habe noch nicht ganz so viel zusammengebracht, um dieses Stück einzulösen!“ – aber der Dichter lächelte auf’s Neue und winkte, daß es schon gut sei. Wie sich der Wandersmann nun hierbei gebehrdete, mußte dem Dichter noch mehr gefallen, denn er ließ sich mit ihm in ein längeres Gespräch ein und nahm ihn mit an seine Tafel, um ihn erst dann seines Weges weiter zu schicken, nachdem er überzeugt war, daß er auch die nöthigen Kräfte dazu gesammelt.

Ein noch schönerer, in weiteren Kreisen nie bekannt gewordener Zug der Herzensgüte des Dichters soll den Lesern dieses Blattes gleichfalls nicht vorenthalten werden. Wir haben oben seines Dramas „Das Bild“ Erwähnung gethan, eines Kunstwerkes von hochpoetischem Werth, welches unstreitig mit zu dem Besten zählt, was der Genius des Dichters geschaffen. Es erschien 1821 und fand den allgemeinsten wohlverdienten Beifall, als es über die Bühne ging. Die Räume des Theaters konnten in der ersten Zeit die Menge der Zuschauer nicht fassen. Die Fama hiervon war auch zu den Ohren eines lustigen Bruders Studio gekommen; und es scheint, als ob er in seinem Drange, das Stück zu sehen, vergessen, daß er seinen augenblicklichen Vorrath an „Spießen“ erheblich erschöpfe, wenn er es sich gönne, für den nächsten Abend, an welchem „Das Bild“ wiederum gegeben werden sollte, sich ein Billet zu lösen. Doch der Zweck war ja ein guter, und erst, als er seinen Sitz im Theater wieder mit dem Schemel seiner Mansarde vertauscht hatte, überfielen ihn Gewissensscrupel. Solche Scrupel sind unleidliche Gefährten, besonders in der heitern Jugend, und man muß sie kühn in die Flucht schlagen. Das mochte sich auch unser Musensohn sagen, denn seine Stirn leuchtete von einem Entschlusse auf und, mit seinen Gedanken halb noch im Theater, halb bei [[Aloys Blumauer]]’s Travestie der „Aeneide“, welche aufgeschlagen vor ihm lag, griff er zur Feder und schrieb unter der Nachwirkung des poetischen Hauchs, welcher ihn bei dem eben gesehenen Stücke entzündet haben mochte, folgendes Gedicht an Houwald nieder und sandte es nach Sellendorf, wo der Dichter eben lebte:

Mein Herr Baron! Verzeihet mir,
Falls ich etwa gestöret;
Laßt von des Dichters Luftrevier
Euch jetzt herab und höret! –

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 103. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_103.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2019)