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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)

Der Wohlthäter der Taubstummen.


In der Nähe von Hamburg liegt an der seenartig sich erweiternden Alster das Dorf Eppendorf. Im Sommer ziemlich belebt, da die hübsche Lage des Orts viele Hamburger anlockt, ist es im Winter desto stiller und einsamer. So war es auch schon vor hundert Jahren. Eine Ausnahme machte jedoch das Jahr 1769. Da hatte in der Neujahrszeit eine seltsame Erregung die sonst so stillen Eppendorfer ergriffen und in den Familien, vor Allem aber in der Schenke wurde viel und heftig debattirt über – den neuen Schulmeister, der vor wenigen Tagen im Dorfe eingezogen war.

Samuel Heinicke.

„Dat ist gar keen richtiger Schulmeister,“ meinte der Eine, „er ist ja so stark und groß, daß er kaum in der Schulstube gerade stehen kann.“

„Er soll auch früher Soldat gewesen sein,“ sagte ein Anderer, „aber das möchte Alles sein, wenn er nur nicht, wie unser Pastor erzählt, ein Freimaurer wäre.“

Alle entsetzten sich, fanden es aber schließlich kaum glaublich, da die Freimaurer ja bekanntlich nicht in die Kirche gingen, und der Schulmeister doch morgen zum Neujahrstage die Orgel spielen müßte. Da würde sich die Sache schon ausweisen.

Die Kirche war gedrückt voll, weniger der Predigt wegen, als um den neuen Schulmeister zu sehen und zu hören. Ein großer Mann war er, das sahen nun Alle; er schien gar nicht auf das kleine Chor und die schmale Orgelbank zu passen. Als er aber die Orgel zu spielen begann und mit wohltönender voller Baßstimme das Morgenlied anfing, da winkten die Eppendorfer vergnügt einander zu; denn ein Mann, der so erbaulich singen und spielen konnte, war gewiß kein Freimaurer.

Jetzt betrat der Pastor, ein ziemlich unbedeutend aussehendes Männchen, die Kanzel. Wie wurden nun die guten Leute erschreckt, als dieser, nachdem er viel von der Verderbniß der jetzigen Menschheit gepredigt, mit erhobener Stimme gegen die falschen Aufklärer, die Freimaurer, donnerte, die überall die fromme Christenheit verführen wollten und sich nun auch hier in der stillen Gemeinde Eppendorf eingeschlichen hätten!

Das konnte nur dem neuen Schulmeister gelten. Nun war’s also doch wahr. Aller Augen richteten sich nach dem Chore, dort stand der falsche Aufklärer, der Freimaurer. Aber anstatt von der Wucht der schweren Anklage zerknirscht zusammenzusinken, stand er hoch aufgerichtet da und blickte den erregten Pastor ruhig an. Ja, einige Näherstehende meinten sogar, ein flüchtiges Lächeln auf seinem Gesichte bemerkt zu haben. Der Mann mußte furchtbar verstockt sein.

Am Abende war die Gesellschaft im Wirthshause lebendiger denn je. Der Bälgetreter hatte Genaueres beim Pastor erfahren und erzählte nun, daß der neue Schulmeister von Haus aus ein Obersachse sei, der früher Soldat gewesen, dann desertirt und sich nun viel herumgetrieben habe. In Hamburg habe er vielen Umgang mit Komödianten und Freimaurern gehabt und sei dann lange beim dänischen Grafen Schimmelmann gewesen, der solche Freigeister liebe. Der habe ihm nun auch zu der Stelle hier in Eppendorf verholfen. Der Pastor sei wohl dagegen gewesen, weil er die gute Stelle gern seinem Vetter verschafft hätte; er wäre aber rundweg abgewiesen worden.

Die Stimmung wurde immer bedenklicher. Man wollte zu einem solchen Menschen die Kinder nicht schicken; ja, einige Hitzköpfe hielten es für das Beste, den Schulmeister mit Kind und Kegel zum Dorfe hinauszuwerfen. Da erhob sich der Pachtmüller, ein angesehener und erfahrener Mann, und erklärte, wenn der Schulmeister das Schulehalten so gut verstände, wie heute in der Kirche das Singen und Orgelspielen, da möchte er immerhin ein Freimaurer sein. Der Pastor sei wahrscheinlich nur deswegen so fuchswild, weil sein Vetter die Stelle nicht bekommen habe. Das war denn auch den Meisten einleuchtend, und so war wenigstens zunächst der Friede gesichert. – Am andern Morgen erzählte der Bälgetreter dem Pastor, wie der Pachtmüller, den doch der liebe Gott mit seinem taubstummen Kinde hart genug gestraft, den Freimaurer in Schutz genommen habe. „Ja,“ meinte der Pastor, „das sind hartgesottene Sünder, aber wir werden sie schon zu beugen wissen.“

In der stillen Küsterwohnung saß an demselben Abende still und allein der neue Küster, Cantor und Schulmeister Samuel Heinicke. Weib und Kind waren längst zu Bette, ihn ließ die Sorge um die Zukunft nicht schlafen. Was sollte daraus werden. Nach einem vielbewegten Leben meinte er endlich ein arbeitsvolles, aber friedliches Wirken gefunden zu haben, und nun begann ein neuer Kampf mit dem bigotten, hochmüthigen Pastor und der aufgehetzten Gemeinde. – Lassen wir den Mann jetzt weiter sinnen und überlegen und sehen wir uns einstweilen seine Vergangenheit etwas genauer an. – Im Jahre 1729, dem Geburtsjahre Lessing’s, geboren, blieb Samuel Heinicke der einzige Sohn wohlhabender Landleute. Da er später das väterliche Gut bewirthschaften sollte, so sah es der Vater gar nicht gern, daß sein kleiner Samuel so große Lust zu den Büchern zeigte. Und als dieser gar den Wunsch zu studiren äußerte, da nahm der Bauer, außer Bibel und Gesangbuch, alle Bücher weg. Wozu brauchte ein rechtschaffener Bauer solchen gelehrten Krimskrams! Der arme Junge fügte sich mit schwerem Herzen und war nur froh, daß er bei seinem Großvater das Violin- und Orgelspielen lernen durfte. Später wollte der Vater wieder gewaltsam in das Leben des Sohnes eingreifen. Er meinte eine Frau für ihn aussuchen zu müssen. Samuel hatte aber bereits gewählt, und als sein Mädchen dem Alten nicht gefiel, war der Friede wieder auf lange Zeit gestört. Da nun auch die Eltern des Mädchens einen andern Freier bevorzugten, so faßte der hitzige Bursche raschen Entschluß. Er prügelte seinen Nebenbuhler tüchtig ab und ging dann heimlich nach Dresden, wo sich der kräftige, hochgewachsene Bauernbursche, eine wahre Siegfriedsgestalt, in die kurfürstliche Leibgarde aufnehmen ließ. Hier brach der lang zurückgehaltene Wissensdurst mächtig durch und mit Aufopferung jeder freien Zeit suchte er sich Kenntnisse zu erweitern. So lernte er mit Hülfe des Feldpredigers französisch und lateinisch,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 85. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_085.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2019)