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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869)

„Mir?“ fragte Marcelline, forschend zu dem jungen Mann hinüberblickend.

„So ist es, Madame,“ antwortete dieser, „Ihnen, der Mutter des kleinen Leopold …“

Marcelline wurde bleich, ihre ganze Gestalt schrak zusammen – sie sah starr den fremden jungen Mann an und öffnete die Lippen, ohne daß sie ein Wort hervorbrachte.

„Ich komme, Ihnen Ihren Sohn zurückzubringen.“

„O – um Gott – Leopold – das Kind ist …“

„In meinen Händen – seit langer, langer Zeit – ich habe es treulich gepflegt, ich habe es wie einen jüngeren mir anvertrauten Bruder betrachtet, ich habe es von Herzen lieb gewonnen, so lieb, daß ich mich schwer von ihm trenne …“

„Aber wie ist es möglich,“ rief hier Duvignot aus, „daß dies Kind in Ihren Händen sein kann? Ihre Behauptung ist Wahnsinn – ist eine Lüge, und …“

„Wie das möglich ist? Ich denke, Sie, mein Herr General, können wohl ebenso viel zur Erklärung dessen beitragen, als ich …“

„O mein Gott, mein Gott, sprechen Sie weiter – sagen Sie, wo ist das Kind, wo ist es?!“

Marcelline, die dies ausrief, hob dabei wie flehend die gefalteten Hände empor.

„Es ist in Ihrer Nähe,“ erwiderte Wilderich, „und ich sage Ihnen, ich komme es in Ihre Arme zu führen – ich werde dies aber erst dann thun, wenn Sie sofort Demoiselle Benedicte rufen lassen und ihr das furchtbare Unrecht abbitten, welches Sie ihr angethan – das ist meine erste Bedingung, und die zweite, daß dieser Mann hier seinen abscheulichen Vorsatz fallen läßt, mich und den Schultheiß wegen des Briefes des Erzherzogs verfolgen lassen zu wollen!“

„Wie können Sie reden von Bedingungen!“ rief Marcelline aus, „geben Sie mir das Kind zurück, und ich will Benedicte den Saum des Kleides küssen!“

„Habe ich Ihr Wort?“ fragte Wilderich den General.

„So reden Sie doch erst, wie es möglich ist, daß Sie der Hüter dieses Knaben sind …“

„Ich verlange, daß Sie mir glauben,“ entgegnete Wilderich gebieterisch, „ich werde keine Silbe reden, bis Benedicte hier ist, nur vor ihr!“

„So lassen Sie das Mädchen holen!“ rief Duvignot.

Marcelline flog, wie von Stahlfedern geschnellt, davon.

Wilderich ließ sich müde in einen Armsessel nieder; Duvignot wandte sich schweigend zum Fenster – wie um den Ausdruck furchtbarer Bewegung und Spannung zu verbergen, der auf seinen harten gebräunten Zügen lag.

So verrannen die Minuten, bis das Rauschen von Frauenkleidern hörbar wurde; Marcelline trat mit Benedicte, sie an der Hand führend, durch die offene Thür des Nebenzimmers herein – Benedictens bleiches Gesicht hatte eine leise Röthe überflogen, als ihr Blick auf Wilderich fiel – ihre blauen Augen wurden feucht, sie streckte ihm die Hände entgegen, sie eilte mit dem Impuls des Herzens, der mächtiger war, als jede Rücksicht auf die Anwesenden, auf ihn zu, sie warf sich an seine Brust, um sich dann sofort wieder loszureißen, und dabei rief sie aus der schweraufathmenden Brust:

„Sie … Sie kommen zurück … Sie … hierher?“

„In die Höhle der Löwen,“ antwortete lächelnd Wilderich, ihre beiden Hände festhaltend, um sie in tiefer Rührung an seine Brust zu drücken – „der Löwen,“ fügte er hinzu, „die uns nun nichts mehr anhaben werden …“

„So reden Sie, reden Sie jetzt!“ fuhr Duvignot, sich wendend, stürmisch dazwischen.

„Das will ich,“ antwortete Wilderich – „Sie sollen hören, wie ungerecht, wie abscheulich an diesem jungen Mädchen gefrevelt ist! Sie haben sie beschuldigt, das Kind geraubt zu haben …“

„Wie konnte ich anders!“ rief Marcelline mit fliegendem Athem aus. „Wissen Sie denn etwas von Allem dem, was hier geschehen ist, als man mir das Kind entführte?“

„Was ich weiß, das stehe ich ja eben im Begriff zu sagen,“ entgegnete Wilderich, „Alles, was ich weiß – hören Sie nur zu.“

Wilderich begann zu erzählen – er gab über die Art, wie er der Pflegevater des kleinen Leopold geworden, denselben Bericht, den wir ihn früher der Muhme Margareth geben hörten.

„Dieser abscheuliche Bube, diese Schlange, dieser Grand de Bateillère!“ fuhr bei dieser Erzählung mehrmals Duvignot dazwischen, in furchtbarem Zorn hin und her rennend, „ich werde ihn erwürgen, ich werde ihn tödten!“

„Also Er – also Du, Ihr wart es?“ stammelte kaum hörbar und in ihren Sessel zusammensinkend, wie entsetzt und verzweifelt, Frau Marcelline – sie barg das Gesicht in ihren Händen und brach in furchtbares Schluchzen aus.

„O, so bringen Sie mir das Kind – bringen Sie mir es!“ rief sie dann, das mit Thränen überströmte Gesicht zu Wilderich emporhebend.

„Ich will es,“ versetzte Wilderich – „ich denke ja, meine Bedingungen sind bewilligt, mein Herr General und Commandant …“

„Zum Teufel, so gehen Sie doch, statt all’ dieser überflüssigen Worte!“ schrie Duvignot in Wuth.

„Lassen Sie mich, mich, die es geraubt haben sollte, es in dieses Haus zurückbringen!“ bat leise Benedicte.

„Ja, Sie, Sie sollen es,“ antwortete Wilderich bewegt, die Hand des jungen Mädchens ergreifend, „um Ihretwillen geschah ja Alles, wären Sie nicht gewesen, ich wäre nie hierher gekommen – Sie sollen das Kind in den Arm dieser Frau legen, Ihnen, der man seinen Tod schuld gab, Ihnen allein verdankt sie es – o kommen Sie!“

Benedicte eilte in’s Nebenzimmer, nach irgend einem Tuch, einem Hut zu greifen, dann kam sie zurück, legte ihren Arm in den Wilderich’s und Beide gingen.

Duvignot war noch in seinem wüthenden Auf- und Ablaufen begriffen … Marcelline lag still weinend in ihrem Sessel, endlich stand er vor ihr still und sagte:

„Höre, Marcelline … höre mich an … Du wirst mich dann weniger schuldig sprechen … ich hatte meine Gründe, meine guten Gründe, als ich im Einverständniß mit Grand handelte…“

„Was sollen mir Deine Gründe?“ versetzte Marcelline, ohne ihr Gesicht zu erheben „was sollen sie mir?“

„Sieh,“ fuhr er fort, „Benedicte war lange, lange Deines Mannes Erbin, die einzige Erbin … ihr gehörte einst Alles … der ganze Reichthum der Vollraths … da wurde Leopold geboren und Benedicte war nun arm, es mußte Alles dem männlichen Erben zufallen … wir hatten meinem Vetter Grand Benedicte verlobt … er murrte darüber … über diesen Knaben, über das furchtbare Unrecht, das seiner Braut dadurch zugefügt werde … ich sagte ihm endlich: ‚nimm den Knaben, nimm ihn, laß ihn verschwinden, bring ihn in unsere Heimath, in die Bretagne und sorge dort für ihn, bis ich komme, mich meines Kindes anzunehmen … mir ist der Gedanke unerträglich, daß er hier bleiben und dieses alten Schöffen Erbe werden soll‘ – und, um aufrichtig zu sein, Marcelline, um Dir Alles zu gestehen … ich sah ja ein, daß meines Bleibens nicht für immer hier sein könne, ich sah bei Deinem Charakter die Stürme voraus, die wir gestern und heute richtig erlebt haben … es war mir willkommen, Leopold in die Heimath voraus senden zu können, nicht allein mir das Kind zu sichern, sondern dadurch auch ein unfehlbares Mittel zu haben, Dich zu zwingen …“

Marcelline machte eine abwehrende Bewegung mit der Hand.

„Es ist entsetzlich!“ sagte sie leise, sich aufrichtend, die Hände im Schooße haltend und den Boden anstarrend.

Er fuhr fort:

„So geschah’s. Die Ausführung war so leicht … ich selber holte das Kind aus der Kammer seiner schlafenden Wärterin und brachte es die Hintertreppe hinab, auf die Straße hinaus, wo Grand es mir abnahm. Er nahm es unter seinen Mantel und ging damit zum Gallusthore, wo er es seinem Diener übergab, der das Kind bis zu einem Orte jenseits Mainz brachte, wo er auf Grand warten sollte. Dieser kehrte in sein Quartier zurück.

Was am andern Morgen geschah, weißt Du: Gedrängt, Grand, dessen Abreise bevorstand, das Jawort zu geben, hatte sich Benedicte entschlossen, in dieser selben Nacht das Vaterhaus zu verlassen und sich vor der Verbindung, die sie eingehen sollte, durch die Flucht zu retten. Sie war verschwunden, ein Brief, den sie auf ihrem Tische zurückgelassen, war Deinem Manne gebracht worden – und zugleich durcheilte heulend die Wärterin des Kindes das Haus, das Kind war verschwunden – wer anders konnte es geraubt haben, geraubt um sich zu rächen, geraubt vielleicht, um es verschwinden

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