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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869)

und verlassen wie damals; ich nahm mir heute Zeit einen Blick durch die Fenster des ansehnlichen Gebäudes zu werfen, ach, und er erfüllte mich mit einer unsäglichen Wehmuth, als ich drin in dem einzigen großen Saale, aus welchem derselbe besteht, eine neben der andern die Bänkereihen sah, von denen die frommen Bergleute an jenem unvergeßlichen Montagsmorgen ihr letztes gemeinsames Gebet zum Himmel gesandt hatten! Dicke Liederbücher von fleißigem Gebrauche abgegriffen und unscheinbar geworden, lagen auf den Bänken umher: aus ihnen hatten die unglücklichen ihren Chor gesungen! Weiter oben, schon jenseits des Dorfes Burgk, etwa hundert Schritte links von dem Wege, der nach dem Windberg einbiegt, liegt an einem Wiesenhange zwischen Obstbäumen ein hübsches modernes Haus; auch dahin wandten sich meine Augen mit schmerzlichem Interesse. Es muthet ganz idyllisch an, das schmucke Haus in seiner lauschigen grünen Umgebung, jetzt ist’s in eine Stätte tiefster Trauer verkehrt; denn hier hat einer der beiden Obersteiger gewohnt, die mit der von ihnen zur Schicht geführten Arbeiterschaar in den empörten Wettern ihren Tod fanden. Noch liegt seine Leiche unter den wenigen welche man aus den Bruch- trümmern des Neuen-Hoffnunsschachtes bis jetzt nicht hat zu Tage fordern können, während die seines Collegen schon vor Wochen in die geweihte Erde des Döhlener Friedhofs gebettet werden konnte. Wie man behauptet – ich erzähle nach, was ich vielfach aus dem Munde von Bergleute vernahm, ohne meinerseits für die Wahrheit des Gehörten einstehen zu können – soll es jener noch ungefundene Obersteiger gewesen sein, der von einem Befahren des Segengottesschachtes unter den derzeitigen Temperatur- und Wettercirculationsverhältnissen abgerathen hat, allein aus Furcht, seine Stelle zu verlieren, seine Ansicht nicht geltend zu machen wagte.

Auch oben bei den Schächten sah es, auf den ersten Blick, völlig aus wie damals. Rechts als die höchsten von allen, ragten die Baulichkeiten des nach Potschappel gehörenden Windbergschachtes empor; links schimmerten aus dem Grunde und von den Elbhöhen die freundlichen Dörfer, Ansiedelungen, Villen herüber; vor mir brodelten die Coaksöfen mit ihrem dicken, brenzlichen, die Athmungswerkzenge reizenden Qualme; daneben zog die Kohlenbahn nach der „Goldnen Höhe“ empor, und an ihr erhob sich der Neue-Hoffnungsschacht. Noch immer lag er wie aufgegeben und ausgestorben, denn auch heute entstieg seinem Schlote nicht das leiseste Rauchwölkchen; dafür arbeitete, weiter nordwärts, die Maschine auf Segen-Gottes um so emsiger, und mit jedem Schritte, der mich diesem meinem abermaligen Ziele näher führte, schlugen die einzelnen Cadenzen ihres Schnaubens und Stöhnens, ihres Pustens und Aechtens mir immer lauter und unheimlicher an’s Ohr. Nach wie vor verrichtete sie ihr grausiges Werk: unermüdlich, in den letzten Tagen schier rastlos, wand sie die Todten aus der nächtigen Tiefe herauf an’s Licht. Dazu heulte der Wind über das weite Plateau und trieb nur den schwarzen Staub in die Augen – wenn irgend einer, trägt ja der Windberg seinen Namen mit vollstem Rechte – mit Einem Worte, das Alles erschien genau so wie damals, als ich es zuletzt geschaut und wahrgenommen hatte.

Und doch war es nicht ganz das gleiche Bilde was sich heute mir darbot. Wo sich neulich Menschengewühl und Menschenlärm über das Gehenna des zweiten August verbreitete; wo mir unaufhörlich Gruppen von Teilnehmenden und – Neugierigen begegneten; wo der Pfad den Windberg heran und längs den Strängen der Eisenbahn zwischen den beiden Schächten einem Wallfahrtswege glich; wo ich die Ellbogen brauchen mußte, um zum eigentlichen Schreckensorte, zur Kaue des Segengottesschachtes vorzuringen: – da war’s heute still, recht still geworden; Ereigniß und Schauplatz besaßen ja nicht mehr den Reiz der Neuheit und was zu sehen war, das hatte man gesehen; nur sehr einzeln erschien da und dort noch ein verspäteter Nachzügler aus der Nachbarschaft und aus Dresden, oder ein wissensdürstiger Berichterstatter, welcher, gleich mir, sich von den jüngsten Vorgängen auf den Schächten zu unterrichten trachtete. Aber auch der Schmerzensscenen, der Scenen jenes beispiellosen Jammers, wie sie bei meinen früheren Besuchen der Unglücksstätte mir das Herz mit einem unnennbaren Weh erfüllt hatten, traten mir jetzt nur wenige vor die Augen. Hatte der Schmerz sich schon ausgeweint? War das Leid schon gestillt, das neulich so laut zum Himmel schrie und in seiner übermächtigen Qual die unglücklichen Wittwen und Waisen, Väter und Mütter, Brüder und Schwestern schier der Verzweiflung überantwortete? Ach, nein, sicher nicht; aber es hatte sich still in die Häuser zurückgezogen, wo die Pflichten des täglichen Lebens riefen, die ja auch mitten im tiefsten Kummer ihre Rechte fordern und nun um so dringender forderten, als so viele Hunderte von armen Kindern ihres Erhalters und Beschützers beraubt und jetzt doppelt auf die ihnen gebliebene Pflege und Sorgfalt augewiesen waren. Ueberdies umschloß bereits die Mehrzahl der erstickten, verbrannten, erschlagenen Bergleute das große Massengrab oben hinter dem Segengottesschachte, der Passionsgang hinauf nach den Gruben hatte also für die meisten der Hinterbliebenen seinen nächsten Zweck, in den heraufgeförderten Leichnamen die sterblichen Ueberreste ihrer Lieben zu erkennen, mittlerweile verloren. Ab und zu wohl stieß ich auf ein Häuflein von Frauen und Kindern, welche, das Gesicht mit den Händen bedeckt, in Thränen gebadet, schluchzend oder still vor sich hin wimmernd, vom Segen-Gottesschacht in’s Thal hinabstiegen; sie waren oben gewesen am Thor der Kaue, und in der qualvollsten Spannung hatten sie Stunde um Stunde gelauscht, ob das schauerliche Hebewerk und der grausige kleine Wagen endlich brächten, was sie fürchteten und doch – hofften; immer und immer aber hatten sie noch vergeblich gehofft und vergeblich gefürchtet. Wie oft schon mochten die Unglücklichen diesen ihren fürchterlichen Weg gewandelt sein! Und wer vermißt sich, die Empfindungen zu schildern, mit denen sie tagtäglich ihn von Neuem antraten, mit welchen sie tagtäglich wieder hinabzogen in ihre verödete Heimath? Nur dieses einen Momentes braucht es, uns den Ueberschwang von Seelenweh zu vergegenwärtigen, welches die Schreckensstunde über den engen Kreis weniger Bergmannsdorfer ausgegossen hat. Was vermag menschliche Mildthätigkeit, und wenn sie Millionen spendete gegen solchen Jammer! Das möge man beherzigen, wenn man, wie mir dies leider gar oft begegnet ist, und von Lippen, von denen es doppelt und dreifach Wunder nehmen muß, die lieblose Aeußerung zum Angehör bekommt: „Was wollen Sie? die Hinterbliebenen werden noch Gott danken für die Katastrophe; wie die von Lugau werden sie durch das Resultat der Sammlungen schließlich besser daran sein als je zuvor!“

Ich trat abermals in die Kaue – seit gestern, den 16. August, waren die den Cordon bildenden Soldaten wieder abgerückt, nur die Gensd’armerie versah noch den Wachdienst – drin aber ging das Seil herauf und hinunter, klangen die ominösen sechs Glockenschläge, erschienen die kleinen Wagen mit ihrer in essiggetränkte Tücher gehüllten unheimlichen Last zu Tage, wie damals. Ganz wie damals rollte der Wagen hastig in den nahen Schuppen, wie damals waren die „Wäscherinnen“ bei der Hand, welche seit Wochen Tag und Nacht nicht gerastet haben von ihrer unbeschreiblich gräßlichen Arbeit, wie damals ward hurtig die desinficirende Säure über den entseelten Körper gespritzt, wie damals ging es mit dem schnell gefüllten Sarge hinaus in die große Steingruft, wo jetzt, mit Ausnahme der achtunddreißig früher auf den benachbarten Friedhöfen beerdigten, die sterblichen Hüllen sämmtlicher bis jetzt aufgefundener Verunglückter, zusammen zweihundertdreiundzwanzig, beigesetzt worden sind eine Reihe Särge dicht an der anderen.

Auch dieses Bild wich doch in manchen Stücken von dem während meiner früheren Besuche auf den Schächten gesehenen ab. Seit länger als einer Woche schon waren die im Segen-Gottesschachte selbst um das Leben gekommenen Bergleute wohl sämmtlich heraufgefördert, die Körper, welche die Dampfmaschine jetzt emporhob, gehörten den Opfern des Neuen-Hoffnungsschachtes an. Es waren meist nicht so grausig anzusehende Menschentrümmer wie jene, weniger verbrannt, verkohlt, zerrissen, zerschlagen, die Leiber hielten vielmehr noch zusammen, sie waren in ihrer Grubenkleidnug und noch versehen mit ihren Blenden und Arbeitsgeräthen, ihren kleinen Habseligkeiten und Gebrauchsgegenständen, aber von der Verwesung, welche, trotz der so gerühmten Carbolsäure, bis in weiten Umkreis ihren Pesthauch entsandte und dem Auge Schauderstücke vorführte, mit deren Darstellnug ich die Leser der Gartenlaube nicht wiederum peinigen will, oft genug schon zu völliger Unkenntlichkeit zerfetzt und zerflossen. Einige der Köpfe, die ich sah, wie sie aus den noch wohl erhaltenen Kleidern hervorquollen, mit ihren zerfressenen Lippen und Nasen und über und über mit gelben Jauchenflecken bedeckt, gewährten einen Anblick, welcher mich noch heute mit Grausen erfüllt und sich nie wieder aus meiner Erinnerung verwischen wird.

Häufig mußte denn auch hier jenes schauerliche „Unkenntlich“

auf die Särge gekreidet werden, das ich schon so manchmal hatte

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869). Leipzig: Ernst Keil, 1869, Seite 571. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1869)_571.jpg&oldid=- (Version vom 13.9.2022)