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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869)

wenn er es that, wenn er diese verbrecherische Liebe dem Manne des treulosen Weibes verrieth, war ihm dann nicht gerade deshalb die schonungsloseste Rache des Generals gewiß?

Diese Gedanken durchzuckten ihn – er hatte sie noch nicht ausgedacht, als der General längst verschwunden war.

„Mein Gott,“ sagte der Schultheiß, sich an der nächsten Stuhllehne aufrecht erhaltend, mit kreidebleichen Lippen, … „unseliger Mensch, welches Schicksal bringen Sie über mich … wie um’s Himmelswillen …“

„Mehren Sie meine Verzweiflung nicht noch,“ rief Wilderich im furchtbarsten Schmerze aus, „ich gäbe jeden Tropfen meines Blutes dafür, könnte ich wieder gut machen, was ich verbrochen an Ihnen – dies Entsetzliche – aber Sie sind ja unschuldig, was kann Ihnen geschehen, deshalb, weil ein von Gott und seinem Verstande verlassener Mensch Ihnen einen Brief bringt?“

„Was mir geschehen kann – das fragen Sie – nachdem Sie selbst es gehört, das Wort: Kriegsgericht – und wissen Sie nicht, daß in einer Stadt, wo der Belagerungszustand erklärt ist, in Tagen, wie diese sind, bei einer Armee, die auf der Flucht ist, und die sich um ihr Dasein schlägt, das Wort gleichbedeutend ist mit: Tod?!“

Wilderich schlug verzweifelt die Hände vor’s Gesicht.

„Sprechen Sie, was wollen Sie, was treibt Sie, so zu handeln? was hat den Erzherzog getrieben, mir einen solchen Brief zu schreiben, einen Brief, der mir Verrath zumuthet an dem Machthaber, der augenblicklich hier die Gewalt hat?“

„Ich … ich allein,“ rief Wilderich aus. „Ich drängte ihn zu dem Briefe. Ich liebe Benedicte – ich wollte ihr Beschützer sein, ich wollte sie retten – nun bring’ ich Ihnen den Tod durch meine Leidenschaft …“

„Sie lieben meine Tochter?!“ rief der Schultheiß mit einem unbeschreiblichen Ton von Erstaunen und Entrüstung zugleich aus.

„Sie ist Ihre Tochter? Ihre Tochter?!“

„Sie sagen, Sie lieben sie, und wissen nicht, wer sie ist?“

„Nein … und dennoch liebe ich sie, innig und tief und ehrlich, wie ein deutscher Mann je geliebt hat – ich wußte sie bedroht, dem gehässigsten Verdacht, den Peinigungen durch ein ihr feindseliges Weib ausgesetzt – ich zitterte für ihre Freiheit, ihr Leben, ich wagte Alles, um ihr Hülfe zu bringen …“

„Sie sehen, welche Hülfe Sie gebracht haben,“ fiel der Schultheiß bitter ein, während ein Paar Thränen über seine bleichen alten Wangen zu rollen begannen.

„Sie sind ein unvernünftiger hirnloser Mensch, der das Verderben über mich gebracht hat,“ fuhr er dann fort – „aber ich sehe, Sie fühlen es, wie ruchlos Sie handelten. Sie sind nicht schlecht – Sie verdienen jedenfalls den Tod nicht, der Sie erwartet, sichrer, unabwendbarer als mich – retten Sie sich – Sie müssen Ihr Heil in der Flucht suchen – fliehen Sie, bevor man kommt, Sie in den Kerker zu führen …“

„Fliehen? Wohin –“

„Das Haus unten ist voll Soldaten – aber vielleicht giebt es einen Weg über die Speicher, auf die Dächer der nächsten Häuser – was weiß ich – kommen Sie – kommen Sie –“

„Wenn Sie mich fliehen lassen, verdoppeln Sie den Schein Ihrer Schuld, Ihre Lage wird zehnfach ärger – ich bleibe!“

„Nein, nein,“ rief der Schultheiß, „was sollen zwei Menschen sterben, wenn dies bittre Loos Einem wenigstens abgenommen werden kann … ich bin ein alter Mann, ich bin zur Flucht zu alt, zu ungeschickt – Sie werden es können – vor Ihnen liegt noch ein langes Leben – folgen Sie mir –“

„Lassen Sie mich, lassen Sie mich hier, damit ich die Menschen, die Sie richten wollen, überzeugen kann …“

„Sie werden sie nicht überzeugen können. Man wird uns Beide zum Tode führen, ohne auf Sie zu hören –“

„Und doch –“

„Kommen Sie, ich will’s, ich will’s,“ rief der alte Mann hastig aus und schritt auf die Thür des Nebenzimmers zu.

Wilderich folgte ihm. Es war das Schlafgemach des Schultheißen, das sie betraten. Dieser öffnete im Hintergrunde eine zweite Thüre, die in einen ganz schmalen, dunklen Gang leitete, an dessen Ende sich wieder eine Thür zeigte.

Der Schultheiß pochte an dieselbe und rief flüsternd:

„Mach’ auf, mach’ augenblicklich auf, Benedicte!“

Wilderich erbebte bei diesem Namen. Sie – sie war’s, die er sehen sollte … sehen sollte, um nur einen Blick mit ihr zu wechseln, ein Wort, und dann weiter zu fliehen, um nie wieder vielleicht nur ihren Namen nennen zu hören … nein, das war nicht möglich … wie ein Blitz durchfuhr es ihn – hier lag vielleicht die Rettung … bei ihr … die Rettung für den Vater Benedictens, wie für ihn – sein Entschluß stand fest!

Die kleine Thür bewegte sich, ein Riegel wurde im Innern fortgeschoben, sie öffnete sich, Benedicte stand auf der Schwelle.

Aus dem kleinen Zimmer, aus welchem sie getreten, fiel das Licht der Dämmerung, die draußen begonnen, auf die Gestalt ihres Vaters und Wilderich’s.

„O mein Gott,“ flüsterte sie, erschrocken, daß ihre Worte kaum vernehmlich waren – „Sie, Sie hier?“

„Du kennst ihn also – es ist so, wie er sagt, er kommt um Deinetwillen – Alles, Alles dies ist um Deinetwillen – Du entsetzliches, mir zum Unglück geborenes Geschöpf,“ rief der Schultheiß aus.

Benedictens Augen öffneten sich weit – sie starrte den Vater an – aber sein Ausruf, seine Empörung konnte sie nicht zerschmettern, weil sie ihn nicht begriff, nicht verstand.

„Starr mich nur an,“ fuhr der Schultheiß im heftigsten Zorn auflodernd fort, „Du, Du warst es, Schlange, die mein Leben vergiften wollte …“

„O nicht das, nicht noch einmal, nicht immer wieder das – Vater, Vater, ich flehe Dich an, sei barmherzig!“ rief Benedicte, wie bittend die Hände erhebend.

„Du warst es, die mir das Kind stahl, verdarb, tödtete …“

„Es ist nicht wahr, es ist nicht wahr, es ist nicht wahr, der Himmel ist mein Zeuge!“ rief Benedicte mit einer Heftigkeit dawider, wie sie sie vielleicht nie noch so maßlos gezeigt hatte.

„Es ist nicht wahr – nicht wahr, daß Du, nur Du jetzt auch an meinem Tode schuld wirst, daß dieser unselige Mensch hier nur um Deinetwillen sich mit einem Briefe an mich drängt, der mich verdirbt, der mich vor diesen erbarmungslosen Franzosen zum Verräther stempelt …“

„O mein Gott – was, was ist denn geschehen … welche neue Sünde habe ich begangen?“ fiel Benedicte außer sich ein.

„Ich sag’s dir ja – ich sag Dir’s – dieser Mensch hier dringt zu mir und giebt mir in Duvignot’s Gegenwart einen Brief, einen Brief, der mein Todesurtheil ist, und das um Deinet-, nur um Deinetwillen …“

Benedicte wußte nicht länger sich aufrecht zu erhalten, sie wankte zurück, sie ließ sich rückwärts auf das Lager fallen, das an der Wand ihres Zimmers stand, sie schlug die Hände vor’s Gesicht und begann bitterlich zu weinen.

„Sie sind ein böser, schonungsloser, grausamer Mann!“ sagte Wilderich jetzt mit unterdrücktem Zorne. „Wüthen Sie wider mich, und nicht gegen sie, die keine Schuld hat. … Ihre wilden Vorwürfe machen die Sache nicht besser. Gehen Sie! Ich will nicht fliehen. Ich verlange, daß Sie mich mit Ihrer Tochter allein lassen. Ich verlange eine Unterredung mit ihr … ich will, ich verlange es … ich flehe Sie an darum – wenn man kommt, mich gefangen zu nehmen, so stellen Sie sich vor mich – nur eine Viertelstunde lang schützen Sie mich, bis ich mit ihr geredet habe …“

„Sie sind ein Thor, wenn Sie nicht fliehen. … Dort hinter jener Thür“ – der Schultheiß deutete mit zitternder Hand auf einen Ausgang im Hintergrunde von Benedictens Zimmer – „führt eine Treppe hinauf … sehen Sie, wie Sie da weiter kommen!“

„Ich sag es Ihnen, ich will nicht – gehen Sie, lassen Sie uns allein – nur eine kurze Zeit schützen Sie mich hier vor dem Verhaftetwerden, das ist Alles, was ich will!“

Er drängte den Schultheiß zurück, er schloß die Thür des Zimmers, er ergriff eine der Hände Benedictens, und sich neben sie setzend, sagte er hastig: „Benedicte, hören Sie auf mich, die Augenblicke sind kostbar. Sie müssen sich ermannen, Sie müssen mir in kurzen Worten sagen, um was es sich handelt bei den Vorwürfen, die man Ihnen macht, dann kann ich handeln danach, dann, glaub’ ich, kann ich den Frieden in dies Haus zurückbringen und uns Alle retten! Aber ich muß Alles, Alles wissen und Sie müssen reden augenblicklich … es hängen Menschenleben davon ab …“

„O mein Gott, wie kann ich Ihnen das sagen … jetzt … jetzt das Alles sagen …“

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