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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869)

auch, bis die Hülfe aus der Nachbarschaft anlangt, nicht selten gelingt. Bei Gelegenheit solcher Ueberfälle besteigt eine der Frauen die hohe Warte und ruft mit nur ihnen eigenthümlichen Lauten die ferne Hülfe auf. Es ist merkwürdig, daß dieser Hülferuf bei der wunderbaren Reinheit der Luft über eine halbe Meile weit vernommen wird, und jedesmal wird ihm auch sogleich Folge geleistet. Die Angreifenden suchen denn auch die Zeit, bis diese angelangt, bestens zu nützen und die Feste zu forciren, aber die Frauen sind auf derlei Kämpfe eingeübt und ihre Musketen verfehlen nur selten das Ziel. Die Energie, die sie bei solchen Kämpfen entwickeln, macht auch großentheils die Anschläge des Feindes zu Nichte.

Die Rivalität der verschiedenen untereinander sich befehdenden Stämme gestattet diesem Gebirgsvolke nicht, sich einem gemeinschaftlichen Oberhaupte unterzuordnen. Jeder Stamm folgt seinem Aeltesten, und die Genossen eines Stammes betrachten in der Regel jene eines anderen als Feinde, welche Sympathien und Antipathien meist von ihren Ahnen überkommene Erbschaften sind, und so ist denn von einem gemeinschaftlichen Zusammenwirken der Stämme keine Rede. Nur wenn die Regierung von Athen Steuern, Rekruten oder Frohnen zur Herstellung öffentlicher Communicationswege von ihnen verlangt, erst da stehen sie Alle wie ein Mann gegen die Verordnungen auf, und lange schon wagt sich kein Regierungsbote in ihre Berge. Bei solcher Lebensweise muß nothwendig unter ihnen die größte Armuth herrschen, das heißt sie sind über die primäre Einfachheit noch nicht hinaus, sie kennen die Bedürfnisse des Culturlebens nicht, es herrschen bei ihnen noch die ursprünglich homerischen, oder besser, spartanischen Zustände, Sitten und Gebräuche, und es scheint in dieser Beziehung ein aus jener Zeit auf uns unverfälscht gekommenes Cabinetsstück zu sein. Da das Land bei seiner Armuth und bei der Lebensweise seiner Bewohner lange nicht im Stande ist, dieselben zu ernähren, so finden zeitweise Auswanderungen statt, es verdingen sich in den Hafenorten Viele zu verschiedenen Arbeiten, Andere gehen wieder dem edlen Handwerk mit Muskete, Pistolen und Yatagan bewaffnet über die Landesmarken nach. In diesem kriegerischen Schmuck bestellen sie aber auch ihre Gärten und Felder, denn hier ist man nie vor einem feindlichen Ueberfalle sicher. –

Mitten unter diesem wilden Volke im mainottischen Gebirge hat unser deutscher Landsmann, der Bildhauer Siegel sich angesiedelt und besitzt dort seine berühmten Marmorbrüche. Es gelang ihm, einen weiten Gebirgsumkreis und eine der festen Familienburgen in seinen Besitz zu bringen und, während er sich in dieser letzteren nach Landessitte eingerichtet hat, im Gebirge an seinen Marmorbrüchen großartige Werkstätten einzurichten und in denselben Tausende von Eingeborenen zu beschäftigen.

Siegel war durch viele Jahre unter König Otto’s Regierung Professor der Bildhauerei an der Akademie zu Athen gewesen, wo er eine namhafte Schule errichtete, die jetzt von seinen Schülern im Gange erhalten wird. Auf seinen Ausflügen durch Morea kam er auch zu den Mainotten; er wollte sich persönlich überzeugen, ob dieses Volk in Bezug auf seine Aehnlichkeit mit der classischen Antike den hierüber allgemein in Umlauf gesetzten Gerüchten auch in der That entspreche, was für ihn als Künstler und noch dazu als Bildhauer von großem Interesse sein mußte. Bei dieser Gelegenheit entdeckte er in den Gebirgen der Maina sehr reichliche Lager der herrlichsten Marmorsorten, welche eine große Ausbeute versprachen. Der Hebung dieser Naturschätze stellten sich jedoch in den Eingeborenen selbst beinahe unüberwindliche Hindernisse entgegen. Die jetzigen Griechen sind ohne Ausnahme Alle geschworene Feinde jeder Neuerung; selbst die Allen so unentbehrlichen Communicationswege können nur mit großem Zwang hergestellt werden, und deren Bau schreitet nur äußerst langsam vorwärts. Wie sollte nun ein Fremder, und noch dazu ein aus Athen, aus den Regierungskreisen kommender Fremder, bei diesem ohnehin so mißtrauischen Völkchen eine Neuerung – eine Unternehmung in’s Leben rufen können? Hier konnte nichts weder mit Gewalt, noch mit Geld, noch mit irgend welchen künstlichen Mitteln erzielt werden, nur auf dem Wege eines gütlichen Einverständnisses war etwas durchzusetzen. Um sich unter den Mainotten niederlassen zu können, mußte man vor Allem erst selbst Mainotte werden. Jeder Andere hätte die verschiedenen Familienzwistigkeiten benützt, um sich mit Hülfe der einen Partei gegen die andere behaupten zu können. Siegel wies ein solches Auskunftsmittel als seiner unwürdig zurück. Nicht durch Intrigue, er wollte auf soliden Basen mit diesem Gebirgsvolke verkehren, er glaubte in dessen Eigenschaften Anhaltspunkte hiefür zu haben, von deren geschickter Benutzung dann freilich Alles abhing, und er täuschte sich nicht. Der griechische Volkscharakter im Allgemeinen hat einen gesunden festen Kern. Der Grieche ist sehr keusch, sehr mäßig und hängt mit exemplarischer Treue an Familien- und Verwandtschaftsbanden. Der Mainotte überdies hält viel auf seine rein hellenische Abstammung, und in der That, nirgends in ganz Griechenland, die Sphakioten auf Kreta vielleicht ausgenommen, hat sich der althellenische durch die Antike uns bekannte Typus in Gesichtszügen und in dem wunderbar schönen Ebenmaß der Körperformen, namentlich bei Frauen, welche von allen Reisenden als „antike Göttinnen in knechtischer Hülle“ bezeichnet werden, – so vollständig und so rein erhalten, wie bei diesem Gebirgsvolke. Diese Harmonie der äußeren Formen muß sich ja nothwendig auch im inneren Wesen auf irgend eine Weise reflectiren. Ist es doch allgemein bekannt, daß selbst der griechische Bandit sich durch einen gewissen Adel von allen anderen seines Gleichen wesentlich unterscheidet. In ihrem gehobenen Selbstbewußtsein halten sich eben die Mainotten auch von besserem, edlerem Stoffe als die übrige Menschheit im Allgemeinen, und es ist dieser Stolz zum großen Theile neben ihrer Liebe zur Freiheit und Unabhängigkeit, der sie in Absonderung von der Welt auf ihren Bergen hält. So erzählen sie zum Beispiel es gar gerne, daß aus ihrer Mitte die Bonaparte und die Medicäer ihren Ursprung nahmen. Beide Familien haben nämlich, wie dies seiner Zeit allgemein üblich war, nachdem sie nach Italien ausgewandert, ihre griechischen Familiennamen Kalomeros und Jatrakos in die Sprache ihres neuen Vaterlandes übersetzt.

Ein solcher Kern und in solcher Hülle mußte den Menschenfreund und namentlich den Künstler besonders interessiren; es mußte in ihm der Gedanke Platz greifen, daß eine geschickte Behandlung dieser Eigenschaften zur Entfaltung des der äußeren Form entsprechenden inneren Wesens führen müsse, auf diese Weise aber die Antike thatsächlich verlebendigt und verpersönlicht in die Wirklichkeit der Gegenwart, in das warme, thätige Leben wieder eingeführt werden könnte – was im Wege plastischer Kunst selbst bezüglich der äußeren Form noch nicht recht gelingen will. Es handelte sich darum, die thatsächlich lebendige Antike in’s Leben einzuführen. Siegel hat sich dieser großen Aufgabe unterfangen, er hat sich die Landessprache vollkommen eigen gemacht, hat sich in die Sitten und Eigenthümlichkeiten der Mainotten ganz hineingelebt, ist durch seinen persönlichen Verkehr mit den Familien ihnen auf verschiedenartige Weise nützlich geworden, ja, sie haben ihn mit der Zeit so lieb gewonnen, daß sie selbst bei ihren gegenseitigen Befehdungen sich sein Schiedsrichteramt gefallen lassen – ein Zutrauen, das in diesen Bergen ganz einzig und ohne Beispiel dasteht, und das sich Siegel nur durch sein kluges, humanes Eingehen auf die Verhältnisse der Familien erworben hat.

Auf diese Art gelang es ihm, den Thatendrang der kampflustigen Jugend in seine Werkstätte zu leiten, und die Verwerthung desselben stellte sich dieser Jugend sowohl wie deren Angehörigen so erfolgreich dar, daß man die Aufnahme dieser jungen Leute in diese Anstalten als eine Gunst zu betrachten und nachzusuchen begann. Aus diesen Brüchen, welche in reichlichen Lagern die schönsten und kostbarsten Marmorsorten liefern, versorgt Professor Siegel nicht nur ganz Griechenland, sondern auch alle bedeutenderen Orte in der Levante, von der ostafrikanischen Küste bis Constantinopel. Die gebrochenen Marmorblöcke werden an Ort und Stelle vorerst für ihre künftige Bestimmung nur roh zurecht gemacht, sodann an der für den weiteren Transport auf die Schiffe geeigneten Stelle in’s Reine gemeißelt, polirt und in der Folge auf eigens hierzu eingerichteten Maschinen auf die Schiffe geladen und verführt. Diese in großartigem Maßstabe betriebenen Arbeiten nehmen Tausende von Menschenhänden beständig in Anspruch. Auf diese Weise aber fließt das baare Geld und mit diesem auch der Wohlstand der Bevölkerung zu und gestaltet sich die Rivalität der Stämme zu einer Rivalität in der Arbeit, in welcher Einer dem Anderen es zuvorzuthun sucht, während sich gleichzeitig für Alle ein gemeinschaftlicher Lebensmittelpunkt herausbildet.

Dieser wohlthätige Einfluß wird von Allen empfunden, so daß Siegel sich der Liebe und des Vertrauens, ja einer

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869). Leipzig: Ernst Keil, 1869, Seite 507. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1869)_507.jpg&oldid=- (Version vom 7.9.2022)