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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869)

Ich sah bereits auf der Waldwiese mit prophetischem Blick, wie Sie sich beim Heimritt in den Steinbrüchen zerschmettern würden. … Wäre ich Seine Excellenz der Minister, ich würde Ihnen dies Pferd sofort confisciren.“

Oliveira zog bei diesen Worten den Hut in die Stirn, so daß Gisela, deren Blick anfänglich schüchtern auffordernd an dem braunen Gesicht gehangen hatte, von seinen Augen nichts mehr sah. … Sein Erscheinen an den Steinbrüchen wäre also kein zufälliges gewesen? Er wäre einzig und allein gekommen, um sie zu behüten? Das junge Mädchen schauerte in sich zusammen.

„Uebrigens wird wohl für mich und die dort“ – hob er wieder an und deutete nach der Richtung, von wo das ferne Rasseln der Feuerspritzen noch herüberklang – „nichts mehr zu retten übrig sein – solche altersmorsche Hütten brennen rasch zusammen, und die Häusergruppe, die Sie mir bezeichnet haben, steht isolirt. … Dafür wird schleunigst eine andere Hülfe und Thätigkeit beginnen müssen – es gilt, Obdachlose unterzubringen, und da Sie Schindeldächer und Lehmwände abscheulich finden –“

„O mein Herr!“ unterbrach ihn Gisela, „die sollen in Greinsfeld für immer und ewig verschwinden! Es wird Niemand mehr darben – es soll Alles anders werden! … Der alte, strenge Mann im Waldhause hat Recht gehabt – ich war gefühllos wie ein Stein. Ich habe es selbstverständlich gefunden, daß die arbeitende Classe auch elend und verkümmert aussehen müsse – ich habe niemals Widerspruch erhoben gegen das Uebereinkommen zwischen Frau von Herbeck und dem Greinsfelder Schullehrer, nach welchem in den Köpfen dieser Leute die Unwissenheit erhalten werden sollte – ich habe die Dorfkinder zerlumpt und verwildert an meinem Wagen vorüberlaufen sehen, ohne daß mir je der Gedanke gekommen wäre, sie zu bekleiden und ihre Seele zu bessern. … Sie haben mich bereits gerichtet – ich weiß es – und wenn Ihr Spruch auch noch so strenge lautet – ich habe ihn verdient!“

Oliveira hatte mit tiefgesenktem Kopf zugehört; kein Wort des Mannes unterbrach die vernichtende Selbstkritik, die das junge, liebliche Geschöpf da neben ihm mit der tiefernsten und doch so kindlichklingenden Stimme gegen sich schleuderte – er verhielt sich still und zuwartend, wie der Arzt, der eine Wunde ausbluten läßt, aber er war kein Arzt, den die Leiden bei diesem Ausbluten kalt lassen – er war ein leidenschaftlicher Mann, der mit sich ringen mußte, um sein heißes Mitgefühl nicht zu verrathen.

„Sie vergessen, Gräfin,“ sagte er nach einem momentanen Schweigen, während dessen Gisela mit zuckenden Lippen vor sich niedersah, „daß Ihre frühere Anschauungsweise durch zwei Einflüsse bedingt worden ist: durch den ausschließlichen Umgang mit Ihren Standesgenossen und durch die Art und Weise Ihrer Erziehung.“

„Mag ihnen ein Theil zufallen,“ entgegnete sie erregt; „das entschuldigt meine Denkfaulheit, meine Herzenskälte nicht!“

Sie sah ihn mit einem traurigen Lächeln an.

„Ich muß Sie sogar bitten, diese Erziehungsweise nicht anzutasten,“ sagte sie weiter. „Man wiederholt mir täglich, ich sei streng im Geist meiner Großmama erzogen worden.“

Oliveira’s Gesicht verfinsterte sich.

„Ich habe Sie dadurch verletzt?“ fragte er – sein Ton hatte plötzlich eine unverkennbare Härte.

„Sie haben mir wehe gethan, mein Herr. … Mir war in diesem Augenblick, als hörte ich zum ersten Mal meine Großmama schmähen. … Das ist nie geschehen. Wie wäre es auch möglich? Sie ist ja das Musterbild einer erhabenen deutschen Frau gewesen.“

Ein unbeschreibliches Gemisch von Ironie und tödtlicher Verachtung glitt durch die Züge des Portugiesen.

„Und deshalb würden Sie selbstverständlich Den entschieden verabscheuen, der es wagen wollte, an das Andenken dieser edlen Frau zu rühren.“ Er sagte das mit sinkender Stimme; es sollte keine Frage sein, und doch ließ sich das leidenschaftliche Verlangen nach einer Antwort in Blick und Stimme nicht verkennen.

„Sicher,“ versetzte sie rasch, mit einem energischen Aufblick ihrer braunen Augen. „Ich könnte ihm so wenig verzeihen, wie Einem, der das Muttergottesbild vor meinen Augen zertreten wollte –“

„Auch wenn es sich um einen falschen Heiligenschein handelte –“

Sie ließ die Zügel fallen und streckte ihm flehend die Hände entgegen.

„Ich weiß nicht, aus welchem Grunde Sie einen solchen Zweifel aussprechen!“ sagte sie in bebenden Tönen. „Vielleicht haben Sie Schlimmes erfahren an den Menschen, und es wird Ihnen schwer an den makellosen Heiligenschein einer Verstorbenen zu glauben. … Sie sind ja fremd und können von meiner Großmama nichts wissen – aber gehen Sie durch das ganze Land, Sie werden sich überzeugen, daß man nur mit Ehrfurcht von der Reichsgräfin Völdern spricht.“

Sie deutete nach dem Himmel, während ihre Augen innig fragend und fest den seinen begegneten.

„Haben Sie kein Wesen da droben, das Ihnen heilig ist?“ fragte sie, das schöne Haupt leise schüttelnd. „Wissen Sie nicht, daß man über dem Namen der Todten streng wachen soll, weil sie es selbst nicht mehr können? –“ Sie sah vor sich nieder, und in die klare Stirn gruben sich leise Linien des Schmerzes. „Das Andenken an meine Großmama ist das Einzige, was ich rette aus der Sphäre, in der ich geboren bin. … Wie Vieles muß ich verachten! … Ich will auch etwas behalten, das ich verehren darf, und wer es mir zu rauben versucht, der macht sich einer schweren Sünde schuldig – er macht mich arm.“

Sie ritt weiter.

Daß der Portugiese hinter ihr verharrte, als seien die Hufe seines Pferdes an den Waldboden festgezaubert, bemerkte sie nicht; sie sah auch nicht, wie er die Hand über die Augen legte und vergebens mit dem Ausdruck der bittersten Verzweiflung kämpfte, die um seinen Mund zuckte.

Nach einigen Augenblicken war er wieder an ihrer Seite. Noch lag eine fahle Blässe auf den braunen Wangen, aber die verräterischen Linien des inneren Sturmes waren wie weggelöscht. … Wer hätte bei dem Gepräge eiserner Entschlossenheit und Energie, welches diesen stolz getragenen Männerkopf, die ganze gewaltige Erscheinung charakterisirte, annehmen mögen, daß der Mann innerlich für Momente auch zusammenbrechen könne!

Nun wurde nicht mehr gesprochen. Es ging weiter wie auf Sturmesflügeln. Der Wind trieb ihnen einen unerträglichen Brandgeruch entgegen, und oben durch die lichter werdenden Wipfel zogen die letzten Ausläufer der Rauchwolken.

Oliveira hatte Recht gehabt, die altersmorschen Hütten waren in unglaublicher Schnelligkeit niedergebrannt. Als die Rettenden aus dem Wald hervorkamen, da lagen bereits drei rauchende kleine Brandstätten vor ihnen – ein Haus stand noch in vollen Flammen, und auf dem fünften und letzten der Reihe begannen eben die grauen Schindeln lustig aufzulodern.

Aber man hätte sich fast versucht fühlen mögen, den ungeheuren Wasserstrahl aufzufangen, der jetzt zum ersten Mal emporschoß, um prasselnd und zischend in die Flamme niederzustürzen – die Feuerspritzen thaten wacker ihre Schuldigkeit; diese Anstrengung erschien geradezu wie ein Hohn gegenüber der Menschenhabe, die sie retten sollte. … Waren diese vier windschiefen Wände mit den papierverklebten Fensterlöchern in der That eine menschliche Wohnung? Und sollten und mußten diese Wahrzeichen irdischer Ungerechtigkeit stehen bleiben, damit das Elend wieder unterkriechen und eine gott- und menschenverlassene Kaste ein ihrer „angeborenen Lebensstellung“ entsprechendes Obdach behalten sollte?

Die fünf Hütten bedeckten kaum so viel Raum des Erdbodens, wie der große Saal im schönen, stolzen Greinsfelder Schlosse beanspruchte. Fünf Familien hausten eingepfercht zwischen den zerbröckelnden Wänden, die jeder starke Sturmwind über den Haufen blasen konnte – sinkendes und aufblühendes Leben athmete zugleich durch Sommer und Winter hindurch in der Handvoll eingesperrter, ungesunder Luft. … Und im großen Saal des Schlosses, das in diesem Augenblick fern und nebelhaft durch den Qualm herüberschimmerte, standen die todten Bronzefiguren auf ihrem Marmorsockel, und die Krystalltropfen der mächtigen Kronleuchter schaukelten in der Luft, die sorgfältig erneuert wurde, ohne je verbraucht zu werden; und wenn die Stürme draußen an den Wänden hinbrausten, da bewegten sich nicht einmal die Damastgardinen vor den Fensternischen – die aufgethürmten Steinquadern

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869). Leipzig: Ernst Keil, 1869, Seite 322. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1869)_322.jpg&oldid=- (Version vom 19.9.2021)