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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869)

Der Graf wurde heute sofort beim Wort genommen. Durch die Reihen der Räthe und Abgeordneten drängte sich mühsam die umfangreiche Gestalt des tapferen „rothen Becker“, so roth an Haar wie an Gesinnung, aber ein lebendiger Beweis dafür, daß auch der geborene Demokrat und Agitator es zu einem höchst anständigen Leibesumfang bringen kann. Becker hatte sich heute im Reichstag selbst übertroffen. Er, der ständige Referent des Abgeordneten-Hauses und des Reichstags über Post-, Telegraphen- und Eisenbahnsachen, hatte den unglaublichen Mißbrauch drastisch geschildert, der Seiten der deutschen Fürstenhäuser mit der Paketporto- und Telegraphengebührenfreiheit getrieben wird. Er hatte geschildert, wie der ganze fürstliche Küchenzettel vom Koch telegraphisch gebührenfrei requirirt wird; wie endlose telegraphische Kleiderbestellungen zwischen den deutschen Höfen und Paris kostenfrei hin- und hergehen; wie der Bürgersmann, von dessen Depesche vielleicht Gut und Leben abhängt, warten muß, bis der fürstliche Koch für einen Thaler Petersilie durch den Telegraphen bestellt hat; wie dann all’ die umfangreichen bestellten Pakete portofrei an den Ort ihrer Bestimmung versandt werden müssen. Und schließlich hatte er zur großen Erheiterung des Hauses aus dem genealogischen Kalender nachgewiesen, daß in Lippe allein sechszig Prinzen und Prinzessinnen mit angeborener Portofreiheit existiren.

Jetzt pflanzte er sich vor dem Bundeskanzler auf, wie gewöhnlich die Hände auf dem Rücken zusammengelegt, und sah ihn mit einem Gesicht an, auf dem geschrieben stand: Nun, haben Sie von all’ diesem fürstlichen Unfug mit der Telegraphen- und Portofreiheit schon eine Ahnung gehabt?

Aber Bismarck lachte herzlich und sprach: „Glauben Sie mir, ich weiß noch viel tollere Dinge.“

„Nun, so erzählen Sie doch, Excellenz,“ sagte der ‚rothe Becker‘ mit großer Behaglichkeit.

„Ja, das kann ich nicht,“ erwiderte Bismarck, „ich habe die Mittheilungen vom Generalpostdirector von Philippsborn – der weiß noch viel tollere Dinge als ich.“

Eine Gruppe Gäste drängte sich zwischen uns und die Sprechenden. Ein Diener reichte Thee, sonderbarer Weise ohne Rum; so wenig hatte Bismarck während seines langjährigen Aufenthaltes in Petersburg russische Sitte angenommen. Beim Zurücktreten nach der Wand wäre ich beinahe gestürzt. Ein ungewöhnlich großer Gegenstand lag am Boden: der Kopf und das Fell eines Elenthieres, das Bismarck gleichfalls selbst erlegt und als Teppich vor dem Sopha seines Salons ausgebreitet hatte. Die Wände zeigten gelbe Gobelins mit chinesischem Muster und entsprechendes Meublement.

Die Versammlung hatte sich nach und nach fast ausschließlich in dieses Gemach gezogen. Abgeordnete, vortragende Räthe, Minister, Admiräle, Bundesräthe, Alles wogte durcheinander. Nichts von der Reserve und Etikette, mit der sonst die Excellenzen dem Volksvertreter gegenüber sich zu umgeben lieben, nichts von der Absonderung nach Landsmannschaften und Parteien, die sonst im Reichstag überall zu Tage tritt. Nur wenige Uniformen sind in der Versammlung sichtbar. Alle die Ecken, in denen nach Bismarcks Wort die großen Staatsactionen in fünf Minuten abgethan zu werden pflegen, waren mit eifrig flüsternden Gruppen von Abgeordneten und Bundesräthen oder den Führern verschiedener Parteien besetzt. Die Gespräche in unserer Nähe wurden laut und ohne Rückhalt geführt. Denn hier lauert nicht wie hinter jeder Thür und in jedem Erholungszimmer des Reichstags und Bundesraths meuchlings das Ohr des gedungenen Preßknechts, dessen schwierige Aufgabe es ist, die Entenzucht künstlich zu betreiben und die Saure-Gurkenzeit der Welt womöglich zu vertuschen. Hier hätte er sich auf Jahre mit Stoff versorgen können! Mit einem Male wäre hier von seiner sündigen Seele der Fluch wahrheitswidriger Anekdotenbildung genommen worden.

„Wer ist der dicke Herr hier mit der blühenden Wäsche, dem blauen Frack mit den goldenen Knöpfen, dem pfundgroßen nagelneuen Adlerorden dritter Classe und dem mühsam verhüllten morgenländischen Typus?“

„Den kennen Sie nicht? Diesen Mann, den der Sohn Bismarck’s in seiner jüngsten Stilübung als den größten seines Jahrhunderts feierte, diesen Vater von Millionen – Eisenbahn-Actien, den kennen Sie nicht? Wohlan, Sie sehen vor sich den Dr. Strousberg, geborenen Baruch Hirsch Strausberg, in Firma Dr. Ujest, Herzog von Strousberg und Comp. Soll ich Sie vorstellen?“

Aber der Geschilderte hatte sich dem argen Spötter v. Unruh-Magdeburg, dem Präsidenten der constitutionellen preußischen Nationalversammlung von 1848, schon genähert.

„Ich weiß ein hübsches Geschäft für Sie, College,“ sagte Unruh. „Kaufen Sie sich den Abgeordneten für die große Seestadt X. zu dem, was er werth ist, und verkaufen Sie ihn zu dem, für was er sich hält.“

„Werd’ ich verdienen neunundneunzig Prozent,“ lachte Strousberg.

Das finanzielle Alterego des großen Eisenbahnbarons, der Herzog von Ujest, war jetzt auch in die Nähe getreten; er ist Vicepräsident des Reichstags, fünf Stimmen waren bei seiner Wahl aus Versehen auf den Dr. Strousberg gefallen.

Jetzt tauchte neben ihm auch das ehrwürdige Haupt Simson’s auf, des ewigen Präsidenten aller deutschen Parlamente.

„Kennen Sie das beste Mittel, den Franzosen Respect einzujagen?“ fragte mein Nachbar. Ich dachte an die Million unserer Krieger. Er aber fuhr fort: „Sie brauchen den Franzosen nur das Eine zu sagen, daß unsere drei Präsidenten Simson, Ujest und Bennigsen zusammen siebenundzwanzig Kinder haben, jeder neun.“

Inzwischen war zur Erfrischung der Gäste Maitrank und aus prachtvollen silbernen Humpen schäumendes Bier geschenkt worden. Aber die Hitze wurde immer empfindlicher. Freund Lasker brachte zuerst das Amendement ein, die weißen Handschuhe auszuziehen, und wie die meisten Lasker’schen Anträge fand der Vorschlag zahlreiche Unterstützung unter den Abgeordneten, diesmal sogar unter den Bundesräthen. Nun luden auch die näheren Freunde und Verwandten des Kanzlers zum Eintritt in das letzte der Reihe von Gemächern, die man bis dahin durchschritten hatte, in den Speisesaal des auswärtigen preußischen Ministeriums. Dieser Saal, ein längliches Rechteck, stößt im rechten Winkel auf den zuletzt geschilderten Salon; nur seine Schmalseite geht nach der Straße. Die äußere Ausstattung dieses Speisesaals weicht von derjenigen aller übrigen Wohnräume des Grafen erheblich ab. Dieser Saal nämlich ist unverändert so gelassen, wie Bismarck ihn von seinem Vorgänger überkommen hat; und wohl seit fünfzig Jahren ist dieser Raum unverändert geblieben. Da hängt noch derselbe schwerfällige Kronleuchter mit achtundvierzig Kerzen, da ziert ringsum an den Wänden noch dasselbe weiße Getäfel mit Goldleisten, dieselben muschelförmigen Lichtspiegel, dieselben gelben Marmorwände, wie unter Hardenberg und Manteuffel und Schleinitz. „Das letzte Mal war ich unter Manteuffel hier,“ sagte der ehrliche alte Graf Schwerin, der Minister der „liberalen Aera“, zu mir, wie immer die Hände in den Hosentaschen.

Die erste Scheu vor dem Zulangen nach den lieblichen Rehrücken und Filets, Mayonnaisen und italienischen Salaten, die auf der Mitteltafel prangten, war bald überwunden. Auch der ehrliche sächsische Geheimerath, der noch vor drei Minuten die Einladung mit den Worten: „nee, ich danke scheene,“ und einer gemütlichen verneinenden Rückwärtsbewegung vom Buffet abgelehnt hatte, war jetzt dem Kriegspfad der Pioniere des Essens gefolgt. An ein Sitzen während der Mahlzeit war nicht zu denken. Man ergriff einen der Teller, die auf der Tafel über einander geschichtet waren, und das nöthige Handwerkszeug und machte sich stehend mit den verschiedenen Herrlichkeiten vertraut. Nur einer Anzahl sächsischer und rheinischer Particularisten war es gelungen, sich an einem Tische seßhaft zu machen und sich hier gegen die annexionistischen Tendenzen des norddeutschen Bundesappetits zu verschanzen. Sie ließen sich ihren Mundvorrath nur durch den bundesstaatlich-constitutionellen Apparat der Bismarck’schen Dienerschaft reichen.

Indessen, ich habe immer gesagt, der Rehrücken ist der größte Verführer zu Jagdgeschichten; und das bestätigte sich auch diesmal. Mein verehrter Freund, Apotheker Neubronner aus dem vormaligen Herzogthum Nassau, den gewiß Niemand für einen mordsüchtigen Jäger von Profession halten wird, hatte, als er Bismarck vorgestellt wurde, daran erinnert, wie sie weiland, als Bismarck Bundestagsgesandter in Frankfurt gewesen, zusammen in der Nähe Frankfurts gejagt hatten.

„Ach, ja wohl,“ erwiderte Bismarck und schilderte nun den umstehenden, meist der annectirten Provinz Nassau angehörigen Abgeordneten die ihnen bekanntesten Persönlichkeiten Nassau’s und

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869). Leipzig: Ernst Keil, 1869, Seite 314. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1869)_314.jpg&oldid=- (Version vom 12.9.2022)