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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869)

elend für viele Jahre – er hat mich von allem Glück, allen Freuden der Kindheit ausgeschlossen.“

Wie ergreifend klang die leise Klage und Trauer in der kinderklaren Stimme des jungen Mädchens!

Der Portugiese hatte ihr längst wieder sein Gesicht zugewendet – auf seiner sonst so bleichen Stirn lag beharrlich ein dunkelrother Streifen – innere Bewegung schien alles Blut auf diese eine Stelle zu concentriren.

„Kein Wunder dann, daß der Moment so unverwischbar in Ihrer Seele hängen geblieben ist!“ sagte er in jenen bedeckten Tönen, die vorhin schon so eigenthümlich beklemmend das Herz der jungen Dame berührt hatten. Es kam ihr vor, als bebten seine Lippen, als er frug: „Aber wissen Sie auch genau, daß der Mann lediglich im Zorn handelte? … Wer weiß, vielleicht litt seine Seele tausend Schmerzen.“

Gisela senkte nachdenklich die Stirn.

„Wer weiß es!“ wiederholte sie betroffen. „Man hat mir erzählt, er sei ein bösartiger Mensch gewesen, ein Mensch, der sich nicht gescheut haben würde, uns das Haus über dem Kopfe anzuzünden – so behauptet Frau von Herbeck. … Er soll auch dem Papa sehr schlimme Dinge gesagt haben –“

„Der Vermessene!“ unterbrach sie der Portugiese heiser auflachend. „Ich hoffe doch, Seine Excellenz, der Minister, wird bei seiner entschiedenen Vorliebe für die gesetzliche Ordnung nicht einen Augenblick gezögert haben, jenen Menschen auf die eclatanteste Weise zur Rechenschaft zu ziehen?“

Die junge Gräfin sah erstaunt empor – ein wahrhaft dämonischer Zug entstellte seinen schöngeschwungenen Mund – sie sah zum ersten Mal die weißen, festen Zähne hinter den höhnisch geschürzten Lippen.

„Nun, Gräfin,“ fuhr er fort, „wurde er nicht vor strenge Richter gestellt? … Man weiß ja, daß sie hier zu Lande mit den Ohren Seiner Excellenz hören und mit seiner Zunge sprechen – lauter brave, wackere Leute, die ihre Stellung mit beneidenswerthem Tact begreifen! … Wie, sitzt er noch in Ketten und Banden, der freche Attentäter, muthmaßliche Brandstifter –“

„O mein Herr, nicht ein Wort weiter über ihn! Ich kann es nicht hören!“ unterbrach ihn das junge Mädchen und streckte ihm abwehrend die Rechte entgegen. „Sie haben eben selbst in Zweifel gezogen, ob er allein der Schuldige war!“ – Ein leises Beben lief durch ihre Glieder. – „Der Unglückliche ist noch in derselben Nacht ertrunken!“

„Er ist ertrunken,“ wiederholte der Portugiese mit sinkender Stimme – der rothe Streifen auf seiner Stirn war plötzlich wie weggelöscht; selbst die Lippen erschienen bleich. „Wie, Gräfin, Sie fühlen Mitleiden für ihn?“

„Ein tiefes.“

„Sie haben nie gewünscht, ihn bestraft zu sehen?“

„Niemals.“

„Aber er hat Ihnen das Glück, die Freuden der Kindheit geraubt – Sie wären in der That im Stande, das zu verzeihen?“

„Die schlimme Zeit liegt hinter mir,“ sagte sie mit einem sanften Lächeln – es flog wie ein Schein der Verklärung über ihr Gesicht. „Ich habe seit meinen Kinderjahren nie mehr über jenes Ereigniß gesprochen, und wenn ich’s heute that, so geschah es nur, um meine Furcht und meine Besorgniß um meinen kleinen Schützling zu motiviren.“

Sie wußte nicht, wie ihr geschah – sie fühlte ihre Hand ergriffen und von zwei heißen, zuckenden Lippen berührt – dann stand sie plötzlich allein neben dem rauschenden Wasserstrahl – der Portugiese kehrte mit raschen Schritten, ohne sich auch nur einmal umzuwenden, in das Waldhaus zurück.

Fast unmittelbar darauf erschien der alte Soldat auf der Terrasse und trug den Papagei hinein in das Haus. Gisela sah, wie er die ganze Länge der Halle durchschritt und dieselbe durch die entgegengesetzte Thür wieder verließ. Er schaffte das schreiende Thier offenbar in ein Hintergebäude – wahrscheinlicherweise aus Rücksicht für die leidende Frau.

(Fortsetzung folgt.)




Thier-Charaktere.

Von Karl und Adolph Müller.
6. Aus dem Räuberleben des Hühnerhabichts.

Ich durchstreifte buschirend die Flur, als außer Schußweite ein sogenannter Dreiläufer (ein noch nicht ausgewachsener Hase) aufstand und über das frischgepflügte Feld dem nahen Walde zurannte. Da drang plötzlich heftiges Rauschen durch die Luft mir ins Ohr, und kaum hatte ich überrascht den Blick aufwärts gerichtet, so sauste schon ein Hühnerhabicht wenige Ellen über dem Hasen nieder und schlug im Nu seine Fänge in dessen Weichen. Der Hase brach unter der Wucht des Anpralls zusammen und klagte laut in dem ihm eigenthümlichen näselnden Ton. Doch suchte er sich wieder zu erheben und die Last abzuwerfen. Mit den Hinterläufen zappelte und schlug er aus, den Leib schnellte er mit Anstrengung aller Kräfte empor, er überschlug, wälzte sich und rutschte niedergehalten am Boden hin. Mit ausgebreiteten Flügeln deckte ihn der Habicht, der ihn mit Fängen und Schnabel zu verwunden und zu betäuben strebte. Zuweilen löste sich die Wolle des Hasen in kleinen Fetzen, und ein Fang gleitete nieder, eilig aber schlug ihn der Habicht von Neuem in den Balg ein, um sein Opfer sicher zu bannen. Wild funkelten des Räubers Augen, Wuth, unbeschreiblich leidenschaftliche Hingebung an den Augenblick der That, eine Art Berauschung unter der Wirkung der Mordgier fesselte ihn an das widerstrebende Opfer.

Jetzt aber ward meine Aufmerksamkeit durch eine neue Erscheinung getheilt. Mehrere Krähen kamen eilend mit lautem Feldgeschrei herbei; ihr scharfes Gehör hatte die Klagetöne des Hasen vernommen, und ihr weitschweifender Blick entdeckte aus der Ferne die feindliche Scene. Entschlossen griffen sie den Habicht an, indem sie sich mehrere Ellen hoch über ihn erhoben und dann ihre Schnabelhiebe herabstoßend auf ihn richteten. Dieser beugte sich jedoch zurück und wehrte den Angriffen mit freigehaltenem Fang. Das machte die Krähen vorsichtig, so daß es selten eine derselben wagte, dicht genug auf ihn zu stoßen. Die Stellung des Habichts wurde indessen immer schwieriger und unhaltbarer. Verzweiflungsvoll krallte er sich an den Hasen fest, während er mit dem abwehrenden Fang nach den Krähen hieb. In buntem Durcheinander ward der Kampf so eine Zeit lang mit großer Erbitterung einerseits und mit hartnäckigem Widerstand andererseits fortgesetzt. Wolle vom Hase und Federn von zuweilen sich überpurzelnden Krähen und dem Habicht flogen davon. Endlich konnte sich der Räuber nicht mehr in seiner Doppelstellung halten, er mußte in der Bedrängniß den Raub fahren lassen, und mit dem Aufgeben desselben war auch sein Abzug von dem Schlachtfelde verbunden. Aber die Krähen, noch nicht zufrieden mit ihrem Sieg, verfolgten den weichenden Feind unter stets erneuerten Angriffen, wobei der Fliehende nur selten sich zur eigentlichen Wehr setzte, sondern sein ganzes Streben darauf richtete, außerhalb des Bereichs der feindlichen Zeugen seines Raubanfalls und seiner ungestümen Dränger zu kommen. Weit in die Ferne ward er von ihnen getrieben, und dann erst kehrten diese nacheinander zurück. Wäre der Hase von den Fängen des Habichts tödtlich getroffen worden, unfehlbar würden die Krähen ihn nun zerfleischt haben, wie sie es mit anderen Beuten auch machen, welche sie dem Raubgesindel abjagen.

Wer ergründet aber die ganze Absicht der Krähen, dieser anscheinenden Polizeiwacht der Felder, mit Sicherheit? In dem vorliegenden Falle hatten offenbar zwei Beweggründe Antheil an dem Unternehmen der schwarzen Gesellen, einerseits der unaustilgbare Haß gegen den Räuber der Lüfte, und anderntheils ein innewohnender Trieb, einem bedrohten und bedrängten Thiere, vorzugsweise einem ihnen wohlbekannten, behülflich zu werden. In vielen Fällen mag die eigne angeregte Raublust ein wirksamer Antrieb sein.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869). Leipzig: Ernst Keil, 1869, Seite 228. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1869)_228.jpg&oldid=- (Version vom 19.9.2021)