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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869)

besucht und mir dadurch, wohl unbewußt, eine sehr liberale Anschauung in Religionssachen angeeignet.

Nun dieser Umschwung! Schon im Anfang meiner Laufbahn in X. sollte mir der Unterschied einer liberalen protestantischen und einer asketisch katholischen Erziehungsweise sehr deutlich gemacht werden. Es war nämlich eine althergebrachte Sitte, daß in den ersten Tagen jedes Jahres sogenannte geistliche Exercitien von einem Klostergeistlichen – gewöhnlich aber von einem Jesuiten – abgehalten wurden, – eine geistige Uebung, welche den Zweck hat, das menschliche Herz gleichsam zu zerquetschen, es in eine derartig mönchsmäßige, armsünderliche und deprimirte Stimmung hineinzubeten, daß es ganz verhimmelt, aus den Erbärmlichkeiten und Sünden dieses Jammerthals sich zu befreien und einen Vorgeschmack der Seligkeiten des Jenseits zu erhalten strebt, – alles dieses natürlich im Vollbewußtsein seiner Unwürdigkeit. Gleich am ersten Tage nach meiner Ankunft sollte mir Gelegenheit in Fülle gegeben werden, mein Gesicht über die im Knabenseminar herrschenden merkwürdigen Gebräuche in verwundert krause Falten zu legen. Zwar machte es schon einen eigenthümlich beklemmenden Eindruck auf mich, als um halb fünf Uhr Morgens eine alte Glocke, von einer barmherzigen Schwester in Bewegung gesetzt, ein ohrenzerreißendes Geheul anstimmte und das ganze Seminar binnen fünf Minuten auf die Beine brachte; zwar fühlte ich mich seltsam berührt, als ich, kaum aus den Federn gekrochen und nur mit Hauskleidern versehen, mich aus dem warmen Bett in die kleine, kalte Capelle versetzt sah und, die Augen krampfhaft geöffnet, mich mit undeutlicher Stimme an der Herbetung des Glaubens, eines Dutzend Paternoster, sowie unterschiedlicher anderer mit Ave Maria dicht gespickter und gemischter Gebete fromm betheiligte; zwar sträubte sich mir unwillkürlich das Haar, als ich sah, wie der Präses, indignirt über einen Alumnen, der die Frechheit hatte, statt den Rosenkranz zu beten, mit den Perlen seiner Schnur spielend die Langeweile abzuwehren, dem Unglücklichen eine beträchtliche Anzahl urkräftiger Ohrfeigen verabreichte und dies mit einer Virtuosität, die auf eine langjährige, erfolgreiche Praxis schließen ließ; – aber meine Verwunderung erreichte erst den höchsten Grad, als der Herr Präses Hochehrwürden nach gedeihlicher Beendigung des Morgensegens den Arbeitssaal betrat und seine Seminaristen ungefähr folgendermaßen anredete:

„Meine in Christo geliebten, theueren Söhne! Noch voll dankbarer Erinnerung an den reichlich gespendeten Gottessegen des heiligen Weihnachtsfestes kehrt Ihr zurück in die Euch mit einer wahren, echten, christlichen Erziehung versehende Anstalt, in die Anstalt, deren Vorsteher es sich zum heiligsten Ziele gesetzt haben, Euch zu echten Christen auszubilden, die das lautere Gotteswort hoch über irdische Weisheit stellen, Euch zu dem hohen Berufe, Diener Gottes und seiner Kirche zu sein, heranzubilden. Ihr kehrt zurück, um neuer Segnungen theilhaftig zu werden, um durch die heiligen Exercitien Euren Geist zu sammeln, Eure Seele zu Gott zu erheben, kurz, um dem Herrn allein zu leben. Eurem Wunsche soll jetzt Rechnung getragen werden. Unser gnädigster Herr Erzbischof sandte den ehrwürdigen Pater L. aus der Gesellschaft Jesu, und schon heute wird dieser voll heiligen Eifers die geistliche Uebung beginnen. Hütet Euch daher in diesen Heilstagen vor Augenlust, Fleischeslust, Hoffahrt, haltet Eure Zunge im Zaum, meidet unheilige Worte, sammelt Euren Geist, auf daß er in sich gehe, seine Sünden bereue und gute Vorsätze für’s ganze Leben fasse. Um mich kurz zu fassen, meine Freunde: wachet und betet, betet und arbeitet, arbeitet für den Weinberg des Herrn, arbeitet für Eure eigene Seele, daß Ihr nicht an dem Tage, da Rechenschaft abgelegt wird, auch zu den Schaaren zur Linken gezählt werdet, zu denen der Herr spricht: weichet von mir, ihr Verfluchten, in das ewige Feuer, das bereitet ist dem Teufel und seinen Engeln, daß Ihr vielmehr zur Rechten des Herrn gestellt werdet, zu denen, die das himmlische Reich erben, in dem sie mit Engeln und Heiligen den Herrn von Angesicht zu Angesicht sehen werden und ihm lobsingen von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen.“

Der Präses räusperte sich mit Salbung, verdrehte seine mattwasserblauen Augen, gleichsam als wolle er die Seligkeiten des Himmels erspähen, nach dem Zimmerbalken und machte ein so fürchterlich selig verzücktes Gesicht, daß ich mich der Idee nicht verschließen konnte, er stehe mit dem Jenseits in innigster, directester Verbindung. Ob mit der Hölle oder dem Himmel, konnte ich freilich nicht wissen; jedenfalls mit letzterem, – er war ja ein sehr, sehr frommer Mann! Darauf ergriff der Herr Präses Hochehrwürden ein Papier, entfaltete es und dictirte seinen noch andachtsschauernden Zöglingen den Inhalt desselben in die Feder. Die Seminaristen schrieben Folgendes nach:

Tagesordnung während der Exercitien.
5 Uhr Aufstehen.
51/4 51/2 " Morgengebet in der Capelle.
51/2 61/4 " Betrachtungen.
61/4 61/2 " Nachdenken über die Betrachtungen.
61/2 70 " Freie Zeit.
70 71/2 " Heilige Messe.
71/2 81/4 " Kaffeetrinken und Freie Zeit.
81/4 83/4 " Gemeinschaftliche Lesung.
83/4 90 " Freie Zeit.
90 93/4 " Betrachtungen.
93/4 100 " Nachdenken über die Betrachtungen.
100 101/2 " Frühstück und freie Zeit.
101/2 110 " Nachdenken über den Gewissenszustand.
110 111/6 " Gemeinschaftliches Gebet.
111/6 111/2 " Freie Zeit.
111/2 113/4 " Lesung aus Thomas a Kempis.
113/4 120 " Gewissenserforschung.
120 11/2 " Essen und Erholung im Stillen.
11/2 20 " Rosenkranzandacht in der Capelle.
20 23/4 " Unterricht.
23/4 30 " Freie Zeit.
30 31/2 " Geistliche Lesung.
31/2 40 " Nachdenken über den Gewissenszustand.
40 50 " Kaffeetrinken und freie Zeit.
50 53/4 " Betrachtungen.
53/4 60 " Nachdenken über die Betrachtungen.
60 61/2 " Miserere.
61/2 70 " Freie Zeit.
70 80 " Essen und freie Zeit.
80 90 " Gewissenserforschung, Litanei und Abendgebet.
90 " Hinlegen.


Nachdem er diesen trockenen Tagesplan mit sehr hoher, vernehmlicher Stimme und vielem unnöthigen Pathos verlesen hatte, faltete er das Papier mit der unnachahmlichen Würde eines katholischen Geistlichen zusammen, räusperte sich im Gefühle seiner Größe unterschiedliche Male mit Kraft und verließ, nachdem er mit Späherblicken seine Opfer gemustert, mit gravitätischen, ernst abgemessenen Schritten das Zimmer.

Schweigend und wohl theilweise von dem Inhalte der Tagesordnung niedergedonnert, verharrten die zurückbleibenden Seminaristen in Ergebenheit, und jeder machte sich mit stiller Resignation daran, sein Bücherpult zu durchmustern. Der eine zog ein Exemplar der vom Jesuiten Schuster geschriebenen Medulla pietatis, der andere des gottseligen Thomas a Kempis Büchlein von der Nachfolge Christi hervor, ein dritter vertiefte sich in des Pater Cochem „Paradiesgärtlein für christkatholische Jünglinge und Jungfrauen“, einige ebenso gelehrte wie fromme ältere Alumnen beschäftigten sich sogar mit der civitas Dei des heiligen Augustinus, - kurz, Jeder griff nach einem geistlichen Trost- und Erbauungsbuche, in welchem dann mit Eifer studirt wurde. Die jüngeren, noch nicht geläuterten Alumnen schauten sich dabei bisweilen neugierig nach mir als Neuangekommenem um, um im Voraus zu erspähen, weß Geistes Kind ich wohl sei. Ich stand meinerseits da, wie Butter an der Sonne, mit einer Miene, die jedenfalls deutlich verrieth, wie wenig ich jetzt von der Wahrheit des Ben Akiba’schen „Alles schon dagewesen“ überzeugt war. Nichtsdestoweniger holte ich aus meinem Reisekoffer in Ermangelung eines Gebetbuches, eine alte Ausgabe der Vitae von Cornelius Nepos hervor, deren ehrwürdiges schweinsledernes Aeußere recht wohl eine Verwechslung mit dem schweren Einbande eines alten Familiengebetbuchs zuließ, und begann mit einem Eifer über das fatale non dubito fore plerosque nachzudenken, der mich die Außenwelt ganz vergessen ließ. Erst nach geraumer Zeit weckte mich ein leises Oeffnen der Saalthür aus meinen philologischen Träumereien.

Ein langer, hagerer, schwarzgekleideter Mann mit scharf markirten Zügen trat, nach allen Seiten sich verneigend, in

das Zimmer und an den nächsten unbesetzten Tisch, an dem er

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