Seite:Die Gartenlaube (1869) 115.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1869)

Der Hüttenmeister biß sich auf die Lippen und die Finger seiner schönen, kräftigen Hand krümmten sich unwillkürlich zur Faust – der unglaubliche Hohn des Ministers mußte das friedfertigste Gemüth bis in seine tiefsten Tiefen empören; aber obgleich man das stürmische Herzklopfen in der Stimme des jungen Mannes hören konnte, er entgegnete doch sehr beherrscht: „Wenn unser Durchlauchtigster Herr wüßte, wie es hier oben steht, dann würde er sicher die Reise aufgeben, denn er ist edel. Und zur Ehre der Damen, die heute Abend bei Hofe erscheinen, will ich glauben, daß sie zu Gunsten der Hungernden auf das Vergnügen des Tanzes verzichten würden. … Es könnte Vieles anders sein, wenn –“

„Wenn ich nicht wäre, nicht wahr?“ unterbrach ihn der Minister, indem er mit einem sardonischen Lächeln auf die Schulter des jungen Mannes klopfte. „Ja, ja, mein Lieber, auch ich huldige dem göttlichen Princip, nach welchem die Bäume nicht in den Himmel wachsen dürfen. … Und nun genug! … Mir dürfen Sie am allerwenigsten mit dergleichen sentimentalen, völkerbeglückenden Ideen kommen, denn ich bin durchaus nicht Diener des Volkes – wie Sie vorhin so geistreich zu bemerken beliebten – sondern einzig und allein Hüter und Mehrer des dynastischen Glanzes – das ist mein Streben, ein anderes kenne ich nicht!“

Er ging mit auf dem Rücken gekreuzten Händen wieder auf und ab. Der Hüttenmeister hatte früher manchmal vor diesem Mann gestanden – im gewöhnlichen Verkehr entwickelte er bei aller undurchdringlichen Verschlossenheit der Außenseite doch so viel Liebenswürdigkeit, daß man für Momente vergaß, den bösen Feind des Landes in ihm zu sehen – es mußten außergewöhnliche Vorgänge in seiner Seele sein, welche die Leidenschaft so rückhaltslos auf die Oberfläche trieben. …

„Sie sind ein unverbesserlicher Schwärmer, ich kenne Sie!“ sagte er nach einer Pause stehenbleibend – wunderbarerweise klang seine erst so scharf zugespitzte Stimme plötzlich weich und wohlwollend. „Bei Ihrer sogenannten humanen Anschauungsweise müssen Sie sich hier oben unbehaglich fühlen – ich sehe das ein, kann Ihnen jedoch mit dem besten Willen nicht in der Weise helfen, wie Sie wünschen; … aber einen Vorschlag möchte ich Ihnen machen“ – die langen Lider legten sich bei diesen Worten tief über die Augen, es war unmöglich, auch nur einen Zug seines Gesichts zu entziffern, so starr und unbeweglich erschien es; – „es würde mir ein Leichtes sein, Sie in England brillant zu placiren.“ …

„Ich danke, Excellenz!“ unterbrach ihn der junge Mann eiskalt. „Als mein Vater starb, da legte er mir Zweierlei an’s Herz: die Sorge für meinen unmündigen Bruder und den dringenden Wunsch, daß ich dereinst seinen Posten am hiesigen Hüttenwerk bekleiden möchte. … Er war ein Neuenfelder Kind, ein wackerer Thüringer, der sein ganzes Leben lang nach Kräften gestrebt hat, seinen armen Landsleuten aufzuhelfen. … Und ich denke wie er, Excellenz! … Ich will mit ihnen leben und leiden – ich verdiente nicht, sein Sohn zu sein, wenn ich feig dem Elend den Rücken kehren wollte, das er muthig zu bekämpfen gesucht. …

„Nun, nun, ereifern Sie sich nicht!“ unterbrach ihn der Minister, indem er ihm mit wahrhaft vernichtender Ironie scheinbar besänftigend die Hand entgegenstreckte. „Leiden Sie immerhin, wenn es Ihnen Vergnügen macht!“ …

Die nächste Umgebung des Ministers würde in diesem Augenblicke gezittert haben – diese jähe Gluth, die häßliche rothe Flecken auf die weiße Stirn warf, war das untrügliche Anzeichen eines herannahenden Sturmes – er kam jedoch nicht zum Ausbruch. … Es war nur das leise Knistern und Rauschen seidener Gewänder, das sich dem Salon näherte, aber bei diesem feinen Geräusch schlossen sich die halbgeöffneten Lippen des gereizten Mannes wieder fest aufeinander; wie von einem elektrischen Schlag berührt, wandte sich sein Kopf nach der Zimmerreihe, dabei bewegte er die Hand hastig und gebieterisch als Zeichen der Entlastung nach dem Hüttenmeister zurück – allein, mißverstand der junge Beamte diese unzweideutige Geberde, oder wollte er, aller Etikette zum Trotz, eigenmächtig die Audienz verlängern? … Er wich nur bis an die Thür zurück, dort blieb er stehen, den Ausdruck eiserner Entschlossenheit auf dem blaßgewordenen Gesicht, während der Minister unter die Plüschportiere trat.

„Nun, meine beste Frau von Herbeck, ist Ihnen die Zeit unten gar so lang geworden, daß Sie meine Zurückkunft nicht erwarten konnten?“ rief Seine Excellenz der Gouvernante entgegen, die in Jutta’s Begleitung rasch auf ihn zuschritt.

„Ich konnte unmöglich annehmen, daß Excellenz noch einmal nach dem Speisezimmer zurückkehren würden,“ entgegnete die Dame, tief betroffen von dem heftigen Unwillen in seiner schneidend scharfen Stimme. „Der Wagen wartet bereits.“

Diesen Moment benutzte ein Bedienter, der den Damen gefolgt war – er meldete mit einem tiefen Bückling, daß Alles zur Abfahrt bereit sei.

„Ausspannen und um sechs Uhr wieder Vorfahren!“ herrschte ihm der Minister zu. Der verblüffte Mensch flog davon, wie eine fortgewirbelte Handvoll Spreu.

Mittlerweile glitt die kleine Gisela von ihrem Fauteuil herab, aber nicht, um der Verhaßten, die jeden Augenblick in den Salon treten konnte, aus dem Wege zu gehen. Sie war dem Wortwechsel zwischen ihrem Stiefvater und dem Hüttenmeister regungslos gefolgt; ihr kleines trotziges Herz mußte wohl über den Worten „Hungersnoth“ und „Sterben“ den eigenen Groll und Kummer für einen Moment völlig vergessen haben, denn ohne nur einen Blick auf den Minister und die draußen stehenden Damen zu werfen, trat sie vor den Hüttenmeister hin und fragte hastig, mit nicht zu verkennender Angst: „Haben die Kinder in Neuenfeld wirklich gar nichts zu essen?“

Bei diesen kindlichen Lauten fuhr der Minister herum – er hatte ohne Zweifel gemeint, der Bittsteller habe das Zimmer verlassen, und nun stand er noch dort, so „unanständig selbstbewußt und zuversichtlich“, als sei der Salon der kleinen Gräfin Sturm und das Schloß Seiner Excellenz des Ministers der Boden, auf den er von Rechtswegen gehöre.

Durch die rasche Wendung des Ministers war die Thür frei geworden, an deren Schwelle Jutta stand. Der Moment schien gekommen, wo dies junge Mädchen neidlos an das schimmernde Atlasgewand des mütterlichen Portraits denken konnte. … Sie hatte zum ersten Mal die tiefe Trauer abgelegt. Ein hellgrauer, schillernder Seidenstoff fiel in starren, schweren Falten von den Hüften nieder, um die Büste aber legte er sich glatt und knapp, einen wahren Silberschein über die plastisch hervortretenden, wundervollen Linien gießend. Ein kleiner Kamm von geschliffenen Lavasternen nahm das Haar leicht von der Stirn zurück und ließ es an den Schläfen niederfallen; fast erschienen diese dunklen Lockenmassen, die sich bis auf die Mitte der Brust ringelten, zu wuchtig für den kleinen Kopf – er bog sich in diesem Augenblick leicht vornüber wie das süß hinneigende Haupt der weißen Narcisse. Sie hielt ein prachtvolles Hyacinthenbouquet in den gefalteten, lässig niedergesunkenen Händen – es sah aus, als ruhe ihr gesenkter Blick innig auf den duftenden Blumenglocken; auch nicht ein Zug von Dünkel und Hochmuth entstellte augenblicklich diese Mädchenerscheinung, auf deren Haupt die Natur noch einmal all’ jenen verführerischen Zauber ergossen, der das nun erloschene Geschlecht der Zweiflingen zu allen Zeiten fast noch gefährlicher gemacht hatte, als sein ritterlicher Muth, seine gerühmte Sicherheit in der Waffenführung.

Die Frage des gräflichen Kindes blieb unbeantwortet – der hochgewachsene Mann, an den sie gerichtet, wußte offenbar gar nicht, daß zu seinen Füßen das kleine Mädchen stand und mit den angstvoll fragenden, braunen Augen zu ihm aufsah. … Jutta trat ja eben über die Schwelle, und ihr Blick fiel auf ihn – eine brennende Röthe lief ihr über Gesicht und Hals unter den Augen, die unabweisbar auf ihr ruhten. … Welche Veränderung war mit ihm vorgegangen! Er, der keusch zurückhaltende Charakter, der sich scheute, in Frau von Herbeck’s Gegenwart auch nur einen Finger seiner Braut zu berühren, er schritt jetzt, unbekümmert um die Anwesenden, rasch auf die junge Dame zu und ergriff ohne Weiteres eine ihrer Hände – dabei fiel das Bouquet zur Erde – er dachte nicht daran, es aufzuheben, vielmehr legte er seine. Rechte auf Jutta’s Scheitel, bog ihren Kopf zurück und sah tiefernst und forschend in ihre Augen.

Hätten Frau von Herbeck’s Blicke nicht in namenloser Verlegenheit an dieser Gruppe gehangen, sie wäre tödtlich erschrocken über den Anblick des Ministers. … Einen Moment schien es, als wolle er sich wie ein Tiger auf den Verwegenen stürzen und ihn mit der geballten Faust zu Boden schlagen – wer ahnte

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1869). Leipzig: Ernst Keil, 1869, Seite 115. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1869)_115.jpg&oldid=- (Version vom 18.9.2021)