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verschiedene: Die Gartenlaube (1868)

einen schwereren Eindruck in ihrem Gemüth hinterlassen habe, als wir dachten, und daß es viel Pflege und Mühe bedürfen wird, bis der finstere Geist wieder von ihr weicht. Sie redet kein einziges verworrenes Wort, aber ihre Blicke hängen beständig am Boden, als fürchte sie, wenn sie aufschaute, den Tod leibhaftig vor sich stehen zu sehen oder irgend ein Gespenst, das sie sich nachlocke. Ich habe sie nicht bewegen können, einmal durch’s Fenster auf die Blumenbeete hinaus zu sehen, und von ihrem Stuhl neben dem Bett ist sie nicht wegzubringen. Als ich ihr sagte, daß der Onkel schon heut am Morgen wieder fort müsse und ob sie ihm nicht wenigstens guten Tag sagen und für seine Hülfe danken wolle, hat sie nur den Kopf geschüttelt und gesagt: ,Ich kann nicht! Gewiß, Sophie, ich kann nicht. Sage Du ihm, daß ich Ihm danken lasse, aber ich kann keinen Menschen sehen.’ Und so habe ich sie endlich allein gelassen, um ihr Frühstück zu holen. Vielleicht wird ihre Stimmung ruhiger werden, wenn ihre leiblichen Kräfte erst wieder sich gehoben haben.“

Lorenz hatte das Alles, ohne ein Wort zu sagen, in tiefer Betrübniß mitangehört und sich das Seine dabei gedacht. Es war ihm ganz klar, daß vor Allem die Scheu, nach den Vorgängen der letzten Nacht ihm wieder in’s Gesicht zu sehn, das arme Kind so menschenfeindlich machte. Was sie ihm gebeichtet hatte, in der Meinung, es sei wie ein Testament und sie nehme damit Abschied von ihm für dieses Leben, müßte ihr jetzt, da sie weiter leben sollte, als eine Entweihung ihrer heiligsten Geheimnisse, als ein unheilbarer Bruch aller jungfräulichen Sitte erscheinen, zumal da sie nicht wußte noch ahnte, wie es jetzt um sein Herz stand, vielmehr der Meinung war, es habe sich schon lange ganz von der Jugendgespielin abgewendet. Darum schien ihm nichts nöthiger, als ihr diesen Wahn zu benehmen und sie zu überzeugen, daß ihre rührende Hingebung, weit entfernt ihm unweiblich zu erscheinen, ihn vielmehr wie ein unverhofftes Geschenk überschwänglich beglückt habe. Als daher der Tag ohne neuen Zwischenfall vergangen war und die Schwester berichtet hatte, die Stille und liebevolle Pflege fange sichtbar an, wohlthätig auf ihre Stimmung einzuwirken, faßte er einen raschen Entschluß und trat, ohne Jemand davon zu sagen, in Lore’s Zimmer. Sie saß am Fenster, beschäftigt, aus dem schwarzen Stoff, den die Pfarrerin ihr hatte kaufen müssen, ein Trauerkleid für sich zu nähen.

Als sie die Thüre gehen hörte, wandte sie den Kopf ein wenig, in der Meinung, die Sophie eintreten zu sehen. Kaum aber erkannte sie den noch auf der Schwelle Zaudernden, als sie die Arbeit von ihrem Schooß gleiten ließ und mit einer Geberde des tödlichsten Entsetzens in die hinterste Ecke des Zimmers stürzte. „Bitte! bitte!“ war Alles, was sie, das Gesicht in die Hand gedrückt, mit der andern Hand ihm flehentlich abwinkend, hervorbringen konnte.

„Lore,“ rief er, „soll denn das Leben wieder scheiden, was der Tod zusammengefügt hat? Bin ich Dir plötzlich so sehr verhaßt geworden, daß Du mich nicht einmal ansehn magst? Was habe ich nur gethan, daß nun Alles vergessen sein soll, was uns zu einander geführt hat? Sieh mich nur ein einziges Mal an, damit Du erkennst, daß ich der Alte geblieben bin, nein, nicht mehr der Alte, der Dich nicht begriff und Deinen ganzen Werth nicht verstand, sondern ein unglücklicher Mensch, wenn Du Dich von mir abwendest und Alles wieder verleugnest, was mir in jenen dunklen Stunden einen ganzen Himmel aufgeschlossen hat.“

Er schwieg und hoffte, daß sie ruhiger werden und sich endlich zu ihm wenden würde. Aber als hätte sie keins seiner Worte verstanden, wiederholte sie nur immer ihre beschwörende Geberde und ihr ängstliches „bitte, bitte!“ und so verließ er sie zuletzt in rathloser Betrübniß, aus Furcht, ihren Zustand nur zu verschlimmern, indem er ihn zu heilen versuchte.

Auch jetzt konnte er sich noch nicht entschließen, irgend Jemand von den Seinigen ins Vertrauen zu ziehn. Er glaubte es Lore schuldig zu sein, das, was sie jetzt sogar ihm bekannt zu haben bereute, keinen Dritten erfahren zu lassen. Als aber der Rest der Woche so hinging, ohne daß man einen Schritt weiter kam, und Lore, so sehr sie im Uebrigen aufzuleben schien, an ihrer Menschenscheu eigensinnig festhielt, fühlte er, daß zu viel auf dem Spiele stand, um nicht etwas Entscheidendes zu wagen. Am Samstag Abend also, als die Kinder zu Bett geschickt waren und die Familie in ziemlich gedrückter Stimmung beisammen saß, rathschlagend, ob man einen Arzt zu Hülfe rufen oder noch eine Woche sich in Geduld fassen solle, erklärte Lorenz plötzlich, er habe sich entschlossen, morgen abzureisen, da er gewiß wisse, nur seine Gegenwart sei die Ursache, daß die Lore sich so beharrlich von allen Menschen abschließe. Er erzählte nun mit den kleinsten Umständen Alles, was in jener Nacht geschehen und gesprochen worden war, und wie er bestimmt glaube, sie stelle sich ihren nächtlichen Besuch als etwas weit Schlimmeres vor, das sie selbst sich nie verzeihen könne und das auch ihm einen tiefen Schatten über ihr Bild werfen müsse. Darum wolle er für’s Erste ganz aus dem Wege gehn und es der Zeit und der klugen Freundschaft der Frauen überlassen, nach und nach ihr eine mildere Ansicht der Sache beizubringen.

Als er geendet hatte und die Anderen, über diese unerwartete Aufklärung betroffen, stumm blieben, wandte sich die Schwester zu ihm und fragte halblaut, ob er denn wirklich seiner Neigung für die Lore gewiß oder nur durch Mitleid und eine Art ritterlichen Pflichtgefühls für sie erwärmt sei?

„Nein, wahrhaftig,“ erwiderte Loren; mit lauter Stimme und sah dabei den Vater an, „ich fühle, daß ich nur sie und keine Andere je zum Weibe haben kann, und Gott weiß, was ich darum gäbe, es ihr je eher je lieber sagen und die Eltern um ihren Segen bitten zu können.“

„Den hast Du,“ sagte der alte Meister und stand in großer Bewegung auf, den Sohn zu umarmen, und als er ihn los ließ, stand die Mutter neben ihm, ihren Liebling gleichfalls an’s Herz zu drücken, worauf er, keines Wortes mächtig, in die Arme der Schwester und des Schwagers sank.

Als aber die erste Rührung, die Alle stumm machte, sich wieder gemäßigt hatte und Lorenz, wie man denken kann, von der Schwester gescholten worden war, daß er diese wichtigen Enthüllungen ihnen so lange vorenthalten hatte, wurde eifrig bis tief in die Nacht hinein berathen, was nun geschehen sollte, um auf möglichst zarte und sichere Art den peinlichen Knoten zu lösen. Zuletzt vereinigten sich Alle dahin, einem Vorschlage der Pfarrerin beizustimmen, gegen den nur ihr Mann einige schwache Bedenken hatte, da er selbst eine Rolle dabei spielen sollte. Aber der munteren Beredsamkeit seines klugen Weibes konnte er auf die Länge nicht widerstehen, und so ergab er sich und man trennte sich mit fröhlichen Hoffnungen für den anderen Morgen, wo der Plan zur Ausführung kommen sollte.

Dieser andere Morgen war, wie gesagt, ein Sonntag und hierauf hatte die Pfarrerin ihren Plan gebaut. Als sie nämlich zugleich mit der Lore, neben der sie noch immer schlief, aufgestanden war, fragte sie, während das Mädchen zum ersten Mal ihr schwarzes Kleid anzog, ob sie heute nicht mit ihnen in die Kirche gehen wolle, es werde ihr gewiß wohlthun und ihre Stimmung beruhigen. Das Mädchen, das überhaupt die Art hatte, auf jede Frage erst nach einem kleinen Besinnen zu antworten, schüttelte schwermüthig den Kopf und erwiderte dann: „sie habe selbst das lebhafteste Verlangen, die Predigt zu hören, aber es sei über ihre Kräfte, heute schon unter Menschen zu gehen, und man möge noch ein wenig Geduld mit ihr haben.“

„Das wollen wir gewiß,“ versetzte die Pfarrerin. „Aber um meinen Bruder thut mir’s leid, der wieder in seine Schule zurück muß, heute schon, und nun mit dem Gedanken von hier weggeht, Du habest, obwohl er Dich so herzlich lieb hat, einen Haß auf ihn, und sein Anblick sei Dir so widerwärtig, daß Du seinetwegen auch uns Anderen auswichest.“

Während sie das sagte, stand das arme Kind abgekehrt, um zu verbergen, daß sie über und über von tiefer Schamröthe übergossen war. „Wie soll ich ihn hassen?“ brachte sie endlich stockend hervor. „Ich bin ihm so vielen Dank schuldig, und gewiß, Sophie, ich habe meine Gesinnung gegen ihn nicht geändert und wollte, ich könnt’ es ihm beweisen, und wenn es mich das Leben kostete. Aber verlange nicht, daß ich ihn sehen soll, und frage auch nicht, warum; er soll gehen und mich vergessen. Ich bin nicht werth, daß er nach mir fragt.“

„Mag’s darum sein,“ sagte die Pfarrerin mit verstellter Gleichgültigkeit, während sie heimlich über die Bestätigung von Lorenz’ Vermuthung frohlockte. „Du bist eben ein krankes Kind, dem man seine Launen zu Gute halten muß, und mit der Zeit machen wir Dich schon wieder gesund. Aber wenn Dich so nach der Predigt verlangt, die kannst Du hören, ohne in die Kirche zu

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