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verschiedene: Die Gartenlaube (1868)

und Nachbarn in der allgemeinen Noth zu verlassen, vielmehr, wo er konnte, Hilfe geleistet und sich selbst und seine Frau durch ein mäßiges und vorsichtiges Leben lange Zeit jeder Anfechtung erwehrt. Seit sechs Tagen aber waren die Briefe der Mutter ausgeblieben, und in der Unruhe, was das zu bedeuten habe, hatte der Sohn sich plötzlich entschlossen, selbst hinzureisen und seinen Eltern, wenn es zum Schlimmsten kommen sollte, nach Kräften beizustehen. Der Hausknecht in der Post, den er sogleich befragte, war erst seit wenigen Tagen in der Stadt und kannte nicht einmal den Namen des alten Meisters; und während der Jüngling durch die finsteren Gassen hinschritt, begegnete ihm keine Menschenseele, die ihm im Vorbeigehn hätte Auskunft geben können, wie es im Hause stehe. Immer hastiger wurde sein Schritt, der Schweiß trat ihm in großen Tropfen vor die Stirn; dann und wann hörte er aus einem offenen Fenster das Stöhnen eines Kranken oder das Weinen eines armen Weibes, das neben ihrem hingerafften Manne oder Kinde die Leichenwache hielt, und in all’ den Jammer sahen die Sterne der Sommernacht so funkelnd herein, daß der Gegensatz himmlischer Ruhe und irdischer Noth dem einsamen Wanderer nur noch schwerer das Herz beklemmte.

Nun stand er vor dem alten hochgiebeligen Hause, drin seine Eltern wohnten, und that einen tiefen Athemzug, als er sah, daß alle Fenster geschlossen waren. Licht brannte hinter keinem, also wurde auch keine Krankenwache gehalten. Jetzt fiel ihm erst ein, daß die alten Leute erschrecken würden, wenn er so spät in der Nacht unangemeldet – einen Brief vorauszuschicken war nicht Zeit gewesen – ihnen in’s Haus fiele. Aber wieder fortgehen, in einem Gasthofsbette schlafen und sich bis morgen gedulden, brachte er nicht über’s Herz. Also zog er sacht an der Hausglocke, die unter einem zierlich aus Sandstein gemeißelten Dächlein zugleich als Handwerkszeichen neben der Thür angebracht war. Sie klang ganz so tief und rein, wie in den besten Tagen, aber sie schien die Kraft verloren zu haben, einen gastfreundlichen Wiederhall drinnen im Hause zu erwecken. Auch auf das zweite Läuten blieb Alles still – „todtenstill?“ dachte der späte Gast, und die Hand am Glockenzug bebte ihm. Zum dritten Mal, jetzt mit solcher Gewalt, daß die ganze Straße weithin davon erschallte, ließ er die eherne Zunge die angstvolle Frage thun, ob denn kein Lebendiger mehr hinter diesen dunklen Fenstern athme. Der schrille Klang hatte noch nicht ausgeschwungen, da hörte er oben im zweiten Stock, nicht seines Elternhauses, sondern ihm gerade gegenüber, ein Fenster klappen und eine Stimme rufen: „Wer läutet da noch so spät? Wenn es der Todtengräber ist, da drüben ist Nichts zu holen. Er soll morgen wiederkommen und an dieses Haus klopfen. Habt Ihr wohl verstanden, Meister Schwarz?“

„Bist Du’s, Lorchen?“ rief der junge Mann. „Nun, Gott sei Dank, daß Du noch wach bist und mir sagen kannst –“

„Herrgott!“ unterbrach ihn die Stimme, „Sie sind es, Lorenz? Und was wollen Sie hier? Und warum kommen Sie nun gerade dazu, wenn wir Alle sterben müssen?“

„Komm herunter, Lorchen,“ bat er, „und öffne mir das Haus und sage mir –“

Sie ließ ihn nicht ausreden. „Was denken Sie nur, Lorenz?“ sagte sie. „Was haben Sie in diesem Todtenhaus zu schaffen? Machen Sie, daß Sie aus der Stadt kommen, eh’ es Sie auch befällt. Sterben ist kein Spaß, wenn man noch so jung ist. Die Tante ist gestorben und mein kleiner Christel und zuerst der bucklige Schneider, der parterre wohnte, und nun kommt die Reihe an mich, aber bei mir braucht kein Mensch zuzusehen; denn es sieht sehr garstig aus, und helfen kann einem doch Keiner. Machen Sie also, daß Sie fortkommen, hören Sie wohl, und leben Sie noch recht lange und glücklich, und es freut mich, daß ich Ihnen noch einmal Gute Nacht habe sagen können, lieber Lorenz, und wenn Sie die Sophie sehen –“

„Um des Himmels willen, Lorchen,“ unterbrach sie der junge Mann, „was ist aus meinen Eltern geworden? Warum wird mir hier die Thür nicht aufgemacht? Und wenn es das Aergste wäre, ich muß es wissen, oder die Angst bringt mich auf der Stelle um.“

„Sein Sie nur ruhig!“ erwiderte die Stimme. „Die Eltern sind seit drei Tagen fort, zu der Sophie, der Pfarrerin, die hat nicht nachgelassen mit Bitten, und wie der Vater immer noch nicht wollte, hat die Mutter gethan, als fange es auch bei ihr an, und da ist er endlich dazu gebracht worden. Mich haben sie auch mitnehmen wollen, aber ich konnte die Tante doch nicht verlassen, die ist erst gestern begraben worden. Es geht jetzt in Einem hin. Wissen Sie denn das Alles nicht, und Ihre Mutter hat es Ihnen doch in einem langen Brief geschrieben und Sie gebeten, ganz ruhig zu sein, es gehe ihnen Beiden wohl?“

„Nicht eine Zeile hab’ ich bekommen seit vorigem Samstag. Wer weiß, wo der Brief ein Ende genommen hat, da jetzt Alles drunter und drüber geht. Nun, Gott sei Dank, daß es nichts Schlimmeres ist. Du aber, Lorchen, was ist mit Dir? Also wirklich die Tante und Dein kleiner Bruder –? Was mußt Du ausgestanden haben!“

„Ja wohl,“ antwortete das Mädchen mit einer Gelassenheit, die ihm jetzt erst seltsam auffiel, „es war auch sehr schauderhaft, aber man wird es gewohnt. Daß ich jetzt an die Reihe komme, macht mir gar keinen Schrecken mehr. Ich bin ordentlich froh, bald an einen Ort zu kommen, wo ich schlafen kann und nicht mehr den Essig zu riechen brauche und immer das Weinen und Jammern hören muß. Und da Niemand übrig ist, der sich meinen Tod zu Herzen nehmen könnte, so ist ja auch nichts daran verloren, ob ich schon mit achtzehn Jahren aus der Welt gehe, oder erst mit achtzig. Sie noch einmal wiederzusehen, das hatt’ ich freilich gewünscht. Nun ist es zwar so dunkel, daß ich nur Ihren grauen Hut erkennen kann, aber ich höre doch Ihre Stimme. Wissen Sie noch, wie wir auf dem Polterabend der Sophie das Liedchen zusammen sangen? Das war noch eine gute Zeit. Jetzt singen wir nie wieder. Der liebe Gott wird wohl seine Gründe haben. Leben Sie also recht wohl, lieber Lorenz, und vergessen Sie nicht ganz –“

„Höre einmal auf mit all dem confusen Zeug, Lorchen!“ rief der junge Mann, halb unmuthig, halb mitleidig. „Statt mich hier stehn zu lassen und vom Sterben zu faseln, hättest Du mir längst das Haus aufmachen und mich als einen alten Jugendfreund willkommen heißen sollen. In meine eigene Thür kann ich nicht hinein. In der Post schlafen sie längst, und ich mag mich auch in kein Bette legen, worin vielleicht gestern erst ein Mensch gestorben ist. Wenn ich also nicht im Freien übernachten soll, wozu ich gar keine Lust habe, so mußt Du mir Herberg geben, Lorchen, und auch einen Bissen zu essen; denn die Unruhe und Ungewißheit, wie ich’s hier finden würde, hat mir unterwegs allen Hunger vertrieben. Mach auf, Kind, eh’ wir die Nachbarn aus ihren Betten schwatzen!“

Droben am Fenster schwieg es eine Weile. „Es geht nicht, Lorenz,“ sagte dann wieder die Stimme. „Ich bin ganz allein hier im Haus und da schickt es sich nicht, weißt Du, und auch davon abgesehen: wer weiß, ob ich nicht schon diese Nacht sterbe, und das möcht’ ich gern allein abmachen. Also gehen Sie mit Gott und suchen Sie sich ein anderes Nachtquartier, vielleicht beim Herrn Stadtpfarrer, wo im ganzen Haus noch Niemand gestorben ist.“

„Ich bestehe darauf, daß Du mir aufmachst,“ sagte er jetzt mit leiserer Stimme, aber sehr nachdrücklich. „Es wird hoffentlich mit dem Sterben bei Dir noch gute Wege haben, wenn Du Dich nicht selbst zu Tode ängstigst in der grauligen Einsamkeit. Ob sich’s schickt oder nicht, danach fragt in solcher Zeit der Noth, die viel zu ernsthaft ist für Zimperlichkeiten, kein Mensch, und es braucht auch kein Mensch darum zu wissen. Wenn Du nicht Lust zum Schlafen hast, ich bin gar nicht müde, da können wir bis an den frühen Morgen bei einander sitzen, und Du erzählst mir, was Du erlebt hast, und dann vor Thau und Tage geh’ ich wieder und hole Dich später in einem Wägelchen ab, daß Du nur aus der Moderluft herauskommst, und bringe Dich zu meinen Eltern. Das ist gescheidter und dem lieben Gott sicher weit wohlgefälliger, als wenn ich jetzt irgendwo eine Herberge suche und Dich mit allem Nachtspuk allein lasse.“

„Gut,“ sagte sie darauf. „Sie haben ganz Recht, Lorenz; es ist auch Alles gleichgültig, und man fragt den Menschen nichts nach, wenn man vielleicht morgen schon zu seinem himmlischen Vater kommt. Der alte Schneider sagte immer: Wer begraben ist, den sticht keine Nadel mehr. Warten Sie, ich will Ihnen aufschließen; aber erst muß ich Licht machen.“

Das Fenster oben wurde zugeklappt und Lorenz blieb einige Minuten unten auf der Gasse allein in der seltsamsten Stimmung. Das Haus hier kannte er so genau, wie sein eigenes Elternhaus;

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