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verschiedene: Die Gartenlaube (1868)

Helene liebte, und war sich dessen voll bewußt. Mit tiefen Zügen trank sie aus dem perlenden Becher des unbekannten Glückes, dessen Inhalt ihr so süß, und doch schon jetzt so fremdartig erschien. Was war es, das so oft einen Schatten über ihre Stirn, einen verschleierten Blick in ihr Auge warf? Sie konnte nicht daran zweifeln, daß ihr Gefühl lebhaft erwidert ward, und doch lebte in ihrer Seele neben Otto’s Bilde eine seltsame Ahnung von Sorge. Was konnte sie zu fürchten haben? Kein Hinderniß lag zwischen ihr und ihrem Glück – nur das entscheidende Wort durfte von seinen Lippen fallen, und das Leben, die Zukunft strahlten ihr licht entgegen.

Dies Wort aber blieb aus, noch immer aus, so oft es auch schon auf dem Rande der Lippen zu wiegen schien, die ihre Hand so lebhaft zu küssen verstanden. Es war etwas da, was sich nur allzu oft wie eine unsichtbare Schranke zwischen Beide stahl, etwas, was man nicht sah, nur fühlte, das mit ihm bei ihr eintrat und, wenn es in ihrer siegenden Gegenwart auch wich, doch immer wiederkam und sie wie mit dunklem Flügelschlag umschattete.

Helene hätte lange sinnen und suchen können, nimmer würde sie herausgefunden haben, daß die Schranke, die sie ahnungsvoll empfand, in ihrem eigenen Wesen lag.

Otto Schaumberg gehörte zu den Naturen, die der Anziehungskraft leicht nachgeben, der Beherrschung aber entschlüpfen. Das originelle und fesselnde Wesen der jungen Frau hatte eine feurige Empfindung für sie rasch geweckt, und in kürzerer Zeit, als er für möglich gehalten, drängten sich die Consequenzen dieses Gefühls in seine gewohnte, mit Ueberzeugung adoptirte Lebenssphäre. Trotz allem Genuß, der in dem in jeder Weise interessanten Verkehr mit Helene für ihn lag, fühlte doch Schaumberg bei all den fremdartigen Beschäftigungen, in die sie ihn hineinzog, bei der zuversichtlichen Weise, wie sie seine Zeit in Anspruch nahm, ein wachsendes Unbehagen. Ihm, dessen Charakter intensiv war, bis zur Pedanterie sogar, war jede Zersplitterung von Zeit und Kräften störend und verstimmend. Er empfand es scharf und deutlich, daß Helenens Weltanschauung von der seinigen gänzlich verschieden sei, daß er, mit dieser Frau als Gefährtin auf seinem Lebenswege, entweder ihr eigenthümliches Wesen umschmelzen, oder die festgeschlossenen Bahnen verlassen mußte, die er sich vorgezeichnet. Was ihn trotz dieser Ueberzeugung fester an sie band als all ihr Reiz, war die Gewißheit, ihre Liebe zu besitzen.

Man muß es empfunden haben, wie die Liebe eines Andern uns überrascht und erwärmt, wie sie uns gefangen nimmt und zuletzt mit uns fortzieht, um der ganzen Macht eines solchen Bewußtseins gerecht zu werden! Otto’s Ahnung, daß Helene jene Briefe an ihn gerichtet habe, ward ihm bei öfterem Zusammensein mit ihr zwar durch keinen sichtbaren Beweis, aber durch manche Zufälligkeit bestätigt und hatte sich als feste Ueberzeugung in der Tiefe seines Herzens eingenistet. Eine eigenthümliche Rührung ergriff ihn bei dem Gedanken, daß dies schöne, reichbegabte Geschöpf ihn aus der Fülle des eigenen Gemüthes heraus erfaßt hatte. Oft, wenn ihr allzu selbstständiges, kühnes Verschmähen der öffentlichen Meinung ihn verletzte, stieg versöhnend der Gedanke an jenen zweiten Brief in ihm auf, der eine so echt weibliche, ja mädchenhafte Gesinnung verrieth. Dann sagte er sich gern, daß ein Weib, die ihn so selbstlos und innig liebe, sich seiner Denkweise, seinen Lebensgewohnheiten anpassen würde, sei ihr Wesen auch noch so ausgeprägt.

Wochen und Monate vergingen ihm so in wachsender Aufregung und Spannung, die sich oft bis zum Unerträglichen steigerte. Ein unwiderstehlicher Zug führte ihn immer von Neuem zu der Geliebten, aber oft und öfter kehrte er mit einem Gefühl der Müdigkeit und Abspannung von ihr heim in sein stilles Studirzimmer, unfähig, nach seiner einstigen Gewohnheit dort zu schaffen und zu leisten, wozu er sich berufen und verpflichtet fühlte. Helene war eine Künstlernatur, sie gab unaufhörlich, gab, ohne es zu ahnen, oft allzu viel – solche Frauen haben nur eine Weise etwas zu lieben oder zu thun, und das ist, von ganzer Seele! Weil ihnen selbst die Verschwendung so natürlich, so leicht ist, erwarten und fordern sie beständig mehr, als der Mann zu gewähren vermag, will er nicht Alles von sich werfen, was seine Wesenheit ausmacht.

Auch das Verhältniß der jungen Frau zu Feldheim störte und verstimmte Schaumberg immer von Neuem. Er empfand zu lebhaft für Helene, um, trotz aller Selbstbeherrschung ihres älteren Freundes, dessen heißes Gefühl nicht bald errathen zu haben. Es schien ihm unzweifelhaft, daß auch Helene hierüber klar sehen müsse, und darum verletzte und erbitterte es ihn, wenn er sah, wie die Geliebte mit Feldheim schmollte, so oft er ausblieb, wie sie ihn mit Jubel empfing, wenn er wiederkam, und durch hundert unwillkürliche Aeußerungen verrieth, daß der Umgang, die Freundschaft des Majors ihr unentbehrlich waren.

Vielleicht war es doch vor Allem diese stachelnde Empfindung, die unserem jungen Freunde endlich den Entschluß abrang, sich um jeden Preis von der Kette loszureißen, die ihn von Tag zu Tag fester umschlang und zu ersticken drohte.

Ein äußerer Anlaß brachte diesen Entschluß zur Reife. In Berneck, einem nahegelegenen Badeorte des Fichtelgebirges, ward durch einen plötzlichen Todesfall die Stelle des Bade- und Bezirksarztes erledigt, und von Seiten des Medicinal-Collegiums erging an Schaumberg ganz unerwartet die Anfrage, ob er geneigt sei, diese Stellung zu übernehmen.

Trotz aller vorhergegangenen Kämpfe warf dennoch die nun drängend vor ihm stehende Entscheidung einen Brand in die Seele des jungen Mannes, der von der Macht seines energischen Willens zwar gelöscht ward, dabei aber gar Vieles in ihm verheerte. Als er seine Zusage an die Behörde unterzeichnete, in welcher er sich bereit erklärt hatte, in den nächsten Tagen nach dem neuen Berufsorte abzugehen, ging es wie ein Riß durch seine Seele. Nur wenige Meilen waren es zwar, die ihn fortan von Helene trennen sollten, ihm aber bedeuteten sie ein Scheiden auf Nimmerwiedersehen. –

Es dämmerte. Helene saß, von den schweren Gardinen halb verhüllt, in der tiefen Fensternische ihres Wohnzimmers und sah unverwandt auf die menschenleere Straße hinaus.

Die junge Frau sah heute leidend aus, eine durchsichtige Blässe war über ihre feinen Züge ausgegossen, tiefe Schatten lagen um die fieberisch glänzenden Augen. Obgleich sie sich nicht rührte, würde doch ein Beobachter leicht erkannt haben, daß sie heftig erregt war; die kleine Hand, die auf dem Fensterkissen lag, erzitterte mitunter, und eine der blauen Adern, die ihre freien Schläfe durchzogen, pulsirte unaufhörlich. Seit vorgestern hatte sie von Schaumberg weder etwas gehört, noch gesehen, diesen Morgen aber seine Versetzung und Beförderung als amtliche Ankündigung im Tagblatt gelesen. Seitdem saß sie und wartete auf ihn.

Das Warten einer Frau, die liebt und leidet – was käme Dem wohl gleich! Man hat oft gesagt und geschrieben, die Liebe des Weibes sei deßhalb so viel tiefer und ausdauernder als die des Mannes, weil ihr so viel Zeit bleibt, mit dem eigenen Herzen zu verkehren – das aber ist es nicht, was ihr Gefühl so vertieft, es ist das stumme Warten auf ein Glück, das sie sich nicht selbst erobern darf. Sie kann nichts thun für ihre Liebe, sie kann nicht hinaus aus dem Zauberkreise, den Sitte und Zartgefühl um sie ziehen; will sie handeln für das Glück ihres Herzens, so handelt sie gerade dagegen – sie kann nichts thun, als warten! Oft allerdings mit lächelnder Zuversicht, die das Ersehnte sogar freiwillig verzögert, weil solches Warten so süß ist – oft aber auch mit stockendem Herzschlag, der jede Secunde zur tödtlichen Qual werden läßt! Und so wartete heut Helene.

Als die ihr unglaubliche Neuigkeit von Schaumberg’s bevorstehendem Wegzug so unerwartet ihr Auge getroffen hatte, war ihre erste Regung auflodernder Unwille. Er wollte fortgehen – er hatte diesen in sein Leben eingreifenden Entschluß gefaßt, ohne ihren Rath, ihre Wünsche zu befragen, der Entschluß war zur That geworden, und sie wußte nichts davon! Der Gedanke an Vergeltung, der in leidenschaftlichen Gemüthern so rasch aufwallt, färbte ihre Wangen mit dunkler Gluth – sie wollte ihn Das fühlen lassen, ihn dafür strafen, auch er sollte leiden, scharf und glühend leiden, wie sie in diesem Augenblick! Sie würde ihn kalt empfangen, wenn er heute käme, mit gleichgültiger Miene seine Mittheilung anhören, ihn nichts von dem Aufruhr ahnen lassen, der sie in diesem Augenblick durchwühlte! Mit fliegender Brust wanderte sie rastlos in ihrem Zimmer auf und nieder, dazwischen immer von Neuem athemlos aufhorchend. Bei dem leisesten Geräusch im Hause drohte ihr wilder Herzschlag sie zu ersticken – sie haßte Otto in diesen Stunden fast, um all der Qual willen, die sie um ihn litt.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1868). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1868, Seite 738. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1868)_738.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)