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verschiedene: Die Gartenlaube (1868)

Das Schellengeläute der Thüringer Heerden.

„Wie lieblich klingt im Walde das läutende Getön,
Wenn auf der Bergeshalde die Heerden weidend geh’n!“

Wenn auch das Voß’sche Lob „in Thüringen weiß jeder Bauer Musik“ eine starke dichterische Uebertreibung enthält, so läßt sich doch mit Recht behaupten, daß im Thüringer Volke ein reger Sinn für Musik herrscht und daß namentlich die Gebirgsbewohner eine nicht unbedeutende musikalische Begabung äußern.

Zwar schwindet mit der fortschreitenden Cultur und dem gesteigerten Fremdenverkehr auch in Thüringen die eigentliche Volksmusik, wie die Volkssitte und altväterische Tracht überhaupt. Die Schalmeientöne, welche die Bursche dem Birnbaumblatte, der Birkenrinde und der Weidenflöte abzugewinnen wußten, die lieblich summenden Klänge der Maultrommel und der süßrauschenden Bergmannscither, die als gemüthliche Hausmusik Gesang und Tanz der Waldbewohner belebten: alle diese ursprünglichen Instrumente hört man fast nirgends mehr, sie sind durch die schreiende Ziehharmonika und das moderne „Blech“ allmählich verdrängt. Selbst der frische Volksgesang, der in seiner naturwüchsigen, oft zwei- und mehrstinmig ausgeführteen Weise recht eigentlich das instinctartige Gefühl für Harmonie bekundet und den Glanzpunkt Thüringer Musik bildet, auch dieser verbleicht mehr und mehr.

Aber noch ein Zweig Thüringer Volksmusik hat sich „unbeleckt“ in uralter Weise erhalten und kann in der Art seiner Entstehung und Bezeichnungsweise mit Recht als einender bemerkenswerthesten Eigenthümlichkeiten Thüringer Volksthums, als eine der anmutigsten Erscheinungen unseres Gebirges bezeichnet werden. Es ist das Schellengeläute der Heerden, das uns zur Sommerszeit fast, aus jedem Thale so lieblich entgegentönt und vorzugsweise geeignet ist, den idyllischen Charakter der Thüringer Bergnatur zu erhöhen und den Wanderer wahrhaft zu entzücken.

Unseres Wissens theilt nur das benachbarte Harzgebirge diese Eigenthümlichkeit, denn die vielgepriesenen Kuhgeläute der Schweiz, wenn sie sich auch durch ihre kolossalen Glocken und deren wuchtige Träger auszeichnen, entbehren doch des wesentlichsten Vorzuges, der reinen, harmonischen Stimmung.

Kaum ein anderer Zug thüringischen Natur- und Volkslebens vermag einen freundlicheren Eindruck hervorzurufen, als das „läutende Getön“ der Gebirgsheerden, mögen diese am frühen Morgen den blaubedufteten, grasreichen Bergen zueilen, oder wohlgenährt und in friedlich geordneten langen Reihen am Abend nach den „gewohnten Ställen“ ziehen. Und welch’ ein unbeschreiblicher Zauber ergießt sich über die reizende Bergnatur, wenn aus tiefem Waldesdunkel oder von einsamer, waldumsäumter Bergeshalde jene wunderlieblichen Klänge erst fern und halbverschleiert, dann näher und näher kommend zu uns herüberschallen! – Außer dieser Eigenthümlichkeit, die Bergnatur gleichsam zu illustriren, hat indessen die, Thüringer Waldmusik noch eine echt volksthümliche, ja man könnte sagen, wissenschaftliche Seite, die der fremde Wanderer wohl kaum ahnt, die aber bei näherer Betrachtung unser Interesse ungleich erhöhen muß.

Schon die urkräftige wettergebräunte Gestalt des Heerdenführers, der sich selbstgefällig lieber „Hutmann“ als Hirte nennt, fesselt unsere Aufmerksamkeit. Anzug und Ausstaffirung, wenn sie die altväterische Sitte noch treu bewahrten, stimmen prächtig zu den markirten, eine gewisse Intelligenz verrathenden Gesichtszügen: ein breitkrämpiger, schwarzer Filzhut, stets mit Federn oder Blumen geschmückt, kurze Kniehosen, über den Hüften von einem breiten Leibgurt mit zahlreichen Messingschnallen gehalten, lange Gamaschen – Alles, selbst die Weste, von dauerhaftem Leder; schwere Gebirgsschuhe mit dicht „bekrapften“ Sohlen, ein grober, zu den kräftigen Waden herabreichender Tuchrock, der im Sommer mit einem weißleinenen, schmucken Kittel vertauscht wird, ein hainbuchener, „braungebebter“ Hirtenstock und eine kurzstielige Peitsche („Güschel“) mit lassoähnlichem Schlage und einer Schmitze von Kuhschwanzhaaren – kurz, Alles in Form und Stoff eigenthümlich.

Treibt der Hirte in’s Gebirge, so trägt er in einem ledernen Quersack („Ranzel) der mit Messingringen, „Otterköpfchen“ (Kauri, Cypraea Moneta) und dergleichen verziert ist, seinen Mundvorrath für den ganzen Tag. Auch eine kleine Holzaxt und ein kräftiger „Schnitzer“ dürfen nicht fehlen, denn er füllt gar manche müßige Stünde mit Schnitzereien, Besenbinden, Rechenmachen, Holzsammeln etc. aus, ja er versteht sich selbst auf die Kunst des Instrumentenmachens und weiß das Hirtenhorn, auf dem er als praktischer Musikus eine besondere Zungenfertigkeit entwickelt, wenn er am Morgen das Signal zum Austreiben der Heerde giebt, recht sinnreich aus starken Fichtenwurzeln herzustellen. Nebenbei ist er wohl auch Schneider, Schuster und Sattler, so weit es seine Bedürfnisse erheischen, vor Allem aber Thierarzt und Operateur seines Dorfes. Als solcher kennt er die hauptsächlichsten Heilkräuter und deren Zubereitung und quacksalbert zuweilen selbst mit Geheimmitteln und Wundercuren an Menschen. Einzelne, wie u. A. der durch Ludwig Storch verherrlichte „Vorwärts Hens“ in Thal bei Ruhla, hatten seiner Zeit bei Hoch und Niedrig eine Berühmtheit, wie sie wohl kaum ein moderner Wunderdoctor trotz aller Reclamen zu erschwindeln vermag. Kurz, ein Thüringer Hutmann von echtem, altem Schlage ist eine gar wichtige, hochangesehene Person.

In seinem Schellengeläute lernen wir ihn aber auch als theoretischen Musiker kennen. Er ist dies allerdings mehr unbewußt und instinctmäßig, denn die Gesetze der wissenschaftlichen Harmonielehre, nach denen er sein Geläute einrichtet und stimmt, bezeichnet er eben auf seine eigene Weise. Aber diese ist nicht nur höchst originell und volksthümlich, sondern beweist auch andrerseits, wie tief das musikalisch Gesetzliche („die Natur der Harmonik“) selbst in dem einfachen Natursohne begründet, und wie der musikalisch-richtige Ausdruck eben nur ein natürlicher, ein vernünftiger und darum allgemein verständlicher ist.

Lassen wir uns indeß von ihm selbst in seine Hirtentheorie einführen. Der Beifall, den wir seiner Heerdenmusik zollen, wird den freundlichen Volksmann bald zutraulich und redselig machen; ein schönes Geläute ist ja seine ganze Freude und sein oft sauer erworbenes oder von den Vorfahren ererbtes Eigenthum. Gern und mit einem gewissen Stolze wird er uns erzählen, wie viel dasselbe „Schock und Mandel“ Schellen hat, wie viel „General und Contrabässe“, „Stumpfe und Octävchen“, „Mengel und Auwschellen“, „Beller und Gitzerchen“, wie es weit und breit keines giebt, das so an den Bergwänden „wummert“ und in den Thälern wie „völlige Musik“, wie die „ganze Orgel“ klingt! Er wird uns ferner mit gewichtiger Miene auseinanderzusetzen versuchen – und es kann niemals fehlen, daß er bei der Unterhaltung sich mit gekreuzten Armen und vorgebeugter Stellung auf den Hirtenstecken stützt und sein Stummelpfeifchen behaglich schmaucht – ob das Geläute nach der „Bergmannscither“, oder nach der „Clarnetten“, oder nach der „Drompedden“ (Signalhorn) gestimmt („gerichtet“) ist. Kurz, wir stehen verwundert vor einem Stück ungeahnten Volksthums, das uns um so mehr fesselt, je weniger wir Sinn und Bedeutung dieser originellen Bezeichungsweise verstehen und begreifen.

Noch höher muß aber unsere Achtung vor dem schlichten Manne steigen, wenn wir gewahren, daß das Geläute selbst in inniger Beziehung zu seinem tieferen, religiösen Gefühlsleben steht, wenn er uns gleichsam in gehobener Stimmung anvertraut, daß es ihm die heimathlichen Sonntagsglocken, die feierlichen Orgelklänge seiner Kirche, die er ja den ganzen Sommer missen muß, ersetzt. „Sehen Sie,“ so äußerte sich einst ein solcher Mann, „wenn ich an einem schönen Sonntagsmorgen so allein in dem stillen Walde mit meiner Heerde weide, dann klingt mir mein Geläute so feierlich wie eine Orgel, und ich muß immer an den Choral denken:

„Je-ru-sa-lem, Je-ru-sa-lem!“

Erinnert uns dieser Ausspruch nicht an Uhland’s „Schäfers Sonntagslied“? –

„Nein, welch’ ein prächtiger und doch so wenig gekannter Zug echt thüringischen Volksthums!“ rief begeistert unser unvergeßlicher, leider zu früh verschiedener Freund, Berthold Sigismund, der feinfühlende Beobachter und liebevolle Maler thüringischen

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verschiedene: Die Gartenlaube (1868). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1868, Seite 599. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1868)_599.jpg&oldid=- (Version vom 22.9.2021)