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verschiedene: Die Gartenlaube (1868)

den Kopf nicht hängen und Leute mit nur einiger Spannkraft verlieren auch nicht gleich denn Muth, wenn einmal wirklich nicht Alles so nach Wunsch geht, und würden noch weit weniger daran denken, den Ihrigen daheim durch vollkommen nutzloses Klagen die Herzen schwer zu machen. Helfen konnte ihnen ja doch Niemand da draußen, das mußten sie sich selber besorgen – was hätte es ihnen also genützt?

Und trotzdem und alledem schreiben sie schwermüthige Briefe und sind schwermüthig – aber nur so lange als sie vor ihrem Tintenfaß mit der Feder in der Hand sitzen.

Da plötzlich kommt ihnen der Gedanke: dies Blatt fliegt hinüber zu den Deinen – sie sehen im Geist, wie der Briefträger mit Jubel empfangen wird, wie die Zeilen von Hand zu Hand gehen, und auf einmal ist der Schreibende nicht mehr in irgend einem fremden Welttheil, wo er bis dahin gesteckt, sei das nun Amerika oder Australien, Indien oder Afrika – nein, er sieht sich plötzlich zu Hause – er durchwandert die alten, fast vergessenen und doch so lieben Räume; er hört das fröhliche Plaudern der Kinder, schaut in die guten und sorgenden, aber jetzt freundlich erregten Züge der Eltern und Geschwister, und während er schreibt, zieht, ohne daß er es weiß oder auch nur ahnt, das Heimweh ein in seine Seele und wirft, während die Heimath dort drüben im vollen Sonnenschein vor seinem inneren Auge liegt, seinen düsteren Schatten über das eigene Herz – die eigene Umgebung.

Nicht aus der Erinnerung schreibt er dabei, nein, aus der unmittelbaren Gegenwart, wie es ihm gerade in dem Moment selber zu Muthe ist – die dunkeln Farben schildernd, die er um sich sieht, und ist der Brief dann endlich fertig, in ein Couvert gesteckt, zugeklebt und adressirt, dann – ja, dann geht er sehr selbstzufrieden, daß er wieder einmal einen etwas versäumten Brief nach Hause fertig hat – und wahrscheinlich auch vergnügt in irgend eine Restauration oder in eine Gesellschaft, spielt dort seine Partie oder tanzt auch wohl gar mit den jungen Damen, kurz amüsirt sich vortrefflich und denkt gar nicht daran, daß die eben geschriebenen und fortgeschickten Zeilen noch nach Wochen oder selbst Monaten immer und Sorge in treue Herzen tragen werden.

Er weiß auch in der That gar nicht, was er geschrieben hat, denn von Privatbriefen werden keine Copien genommen. Es war nur eben eine augenblickliche Stimmung, in der er sich befand und der er Worte gab, weiter nichts – er hatte ja nicht daran gedacht, in irgend einer Weise zu klagen. Ueber was auch? es ging ihm ja ganz vortrefflich und er fühlte sich so gesund und wohl wie nur je, kann auch nachher, wenn eine Rückantwort kommt, nicht begreifen, weshalb die Seinen immer so in Sorge sind. Er brächte sich schon durch die Welt – sie sollten sich um Gottes willen nicht seinetwegen ängstigen.

Deshalb möchte ich denn alle Solche, welche Söhne oder Verwandte draußen in der Fremde haben – und welche Familie hat in jetziger Zeit keinen Verwandten in irgend einem Welttheil! – wohlmeinend bitten, sich um Gottes willen nicht zu ängstigen, wenn sie einen derartigen schwermüthigen Brief erhalten. Die ganze Geschichte ist nicht wahr, und wenn sie in dem nämlichen Augenblick, in welchem sie den Brief lesen, den armen „Einsamen“ und „Bedauerten“ nur in Wirklichkeit sehen könnten, so würden sie finden, daß sie in der That nicht den geringsten Grund zu irgend welcher Bekümmerniß haben.

Melden jene in ihrem Brief eine wirklich gefährliche Krankheit, die sie erfaßt hat, und machen sie dieselbe namhaft, oder einen thatsächlichen Unglücksfall mit genauer Angabe, der sie betroffen, dann mag Grund vorliegen, sich darum zu sorgen, aber alle derartige Andeutungen, die nur ahnen lassen, ohne auf irgend etwas Positives einzugehen, sind nichts als ein „fliegendes Heimweh“, das sie beim Briefschreiben selber erfaßt und das in demselben Moment wieder schwindet, wo die Post jenes Papier zur Besorgung überkommt.

Fr. Gerstäcker.


Die Beredsamkeit auf den Pariser Straßen. In einer Weltstadt wie Paris ist es viel leichter, irgend ein Talent zu besitzen, als es geltend zu machen. Niemand wird hier aufgesucht; Jeder muß sich hier mehr oder minder aufdrängen und die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken suchen. Wer das nicht kann, erreicht sehr selten sein Ziel. Man sieht das so recht an den Leuten, die auf den Pariser Straßen ihre Waaren feil bieten. Wer von ihnen dieselben am geschicktesten anzupreisen versteht, wird sie auch am geschwindesten los. Ohne ein gewisses Talent der Beredsamkeit kann aber Niemand seine Waare los werden. Die Pariser Straßenberedsamkeit hat manchen Demosthenes, manchen Cicero aufzuweisen. Bleiben wir einen Augenblick vor einem jungen Manne stehen, der verstohlen einige Worte mit einem andern jungen Manne wechselt. Jener hat einen schwarzen Rock an und trägt einen Cylinder auf dem Kopfe; dieser trägt eine Blouse und eine lebensmüde Mütze, die auf Krakehl sitzt. Nach dem geheimnißvollen Wortwechsel entfernt sich der Blousenmann, während der Andere ein Stück schwarzer Kreide aus der Tasche zieht, und auf dem Asphalt des Trottoirs eine Gruppe phantastischer Fische mit vieler Fertigkeit zeichnet. „Meine Herren und Damen, oder vielmehr meine Damen und Herren,“ beginnt er, „dem menschlichen Geiste bleibt nichts verborgen. Die Fische, die ich die Ehre habe, naturgetreu vor Ihnen zu zeichnen, hatten sich alle Mühe gegeben, vor den menschlichen Augen sich zu verstecken, wahrscheinlich weil sie wußten, daß sie höchst interessant und sehr schmackhaft sind, und nicht in irgend einem Aquarium, oder auf den Speisekarten im Café Anglais figuriren wollten. Darin hatten sie so unrecht nicht; denn Niemand liebt es, die Freiheit zu verlieren, oder gar gegessen zu werden. Allein was half es ihnen? Sie wurden endlich doch in den Gewässern von Siam entdeckt. Wer aber war der Entdecker? Ein Franzose, meine Herren und Damen! Gloire à la France! Ich bin stolz darauf, daß es einer meiner Landsleute war, der die wunderbare Entdeckung gemacht hat. Ja, ich bin stolz darauf, denn unter dieser schlechten Weste (mit einer theatralischen Geberde) schlägt ein, patriotisches Herz.“

Indessen haben sich etwa fünfzig Personen um ihn versammelt, und er beginnt wieder, indem er einige kleine Paketchen aus der Tasche zieht und sie der Gruppe vorzeigt. „Was enthalten diese Paketchen? Diese Frage lese ich in Ihren Zügen und sie ist natürlich. Nun, ich will sie beantworten. Schenken Sie mir Ihr wohlwollendes Gehör. Ich bilde mir nicht ein, ein großes Genie zu sein. Ich bin weder ein großer Poet, noch ein großer Maler; ich bin auch kein großer Feldherr und am allerwenigsten ein großer Finanzmann. Ach, nicht Jedermann kann ein Victor Hugo oder Horace Vernet, ein Napoleon oder ein Herr von Rothschild sein. Ich bin auch, wie Sie sich in diesem Augenblick überzeugen, kein großer Redner, und es fällt mir auch nicht ein, mich mit Herrn Jules Favre, oder gar mit Herrn Berryer messen zu wollen. Aber ich kenne meinen Werth, und das ist kein Verbrechen. Nun, vor etwa vierzehn Tagen, als ich hier auf derselben Stelle stehe, umgeben von einem zahlreichen Publicum und hochgebildet wie dasjenige, das mich in diesem Augenblick durch die gespannteste Aufmerksamkeit ehrt, sehe ich einen hagern, blassen, schwarz gekleideten Mann, dessen Blicke jeder meiner Bewegungen folgen, dessen Ohr an meinem Munde hängt. Ich bot damals – beiläufig gesagt – dem Publicum die von mir erfundenen Gesundheitsuhrketten an. Die Waare ist, wie es sich von selbst versteht, schnell verkauft. Ich entferne mich; das Publicum zerstreut sich. Ich eile von dannen; der geheimnißvolle Mann eilt mir nach. Endlich erreicht er mich in der Rue Valois vor dem Restaurant Richard, legt mir freundlich die Hand auf die Schulter und sagt: ‚Junger Mann, Sie haben Talent! Sie wissen die Menge anzuziehen und zu fesseln. Ich habe Sie daher vor vielen Andern ausgewählt. Nehmen Sie dies (auf die blauen Paketchen zeigend). Betrachten Sie es genau. Ihr Glück ist gemacht!‘ Er verschwand. Wer war der Mann? Das ist mein Geheimniß, und man wird mir’s nicht verargen, wenn ich in dieser Beziehung ein tiefes Schweigen beobachte. Dringen Sie nicht in mich, ich kann und darf ihn nicht nennen. Aber diese Pakete, was enthalten sie? Diese Frage will ich gern beantworten. Nun, meine Herren und Damen, oder vielmehr meine Herren – denn an diese wende ich mich jetzt ausschließlich – meine Herren, Sie verstehen mich; Sie haben Scharfsinn genug mich zu errathen. Treten Sie näher, kaufen Sie und – ich sehe einen Polizeidiener. Greifen Sie rasch zu, denn meines Bleibens ist nicht länger.“

Einige Männer nähern sich, kaufen verstohlen die Pakete und – sind angeführt. Sie glaubten nämlich, Karten gekauft zu haben, die, gegen das Licht gehalten, zweideutige Bilder zeigen. Sie haben aber nur ganz gewöhnliche Karten gekauft.

Die Leute, die mit einem höheren oder geringeren Grade von Beredsamkeit auf den Trottoirs ihre Waare feil bieten, nennt man „Camelots“, die Waare selbst wird „Camelotte“ genannt, ein Wort, das sich am besten mit Schund übersetzen läßt. Ein Camelot ist niemals allein, sondern stets von einem Genossen begleitet, der in einiger Entfernung Wache steht und, wenn sich ein Polizeidiener blicken läßt, sogleich das Signal zum Aufbrechen giebt. Es ist nämlich verboten, auf den Trottoirs Waaren auszukramen, oder Leute um sich zu versammeln, da dies die Circulation hemmt. Die Polizei sieht übrigens den Camelots ziemlich durch die Finger. Der scharfsinnige Leser wird nicht erst fragen, warum der Camelot, von dem eben die Rede war, die Fische auf den Asphalt gezeichnet. Er wollte durch seine Fertigkeit im Zeichnen ein Publicum herbeilocken. Die marktschreierischen Reden, durch welche die Camelots oder sonst Leute, die aus öffentlicher Straße ihren Trödel anbieten oder Kunststückchen zeigen, die Vorübergehenden anzuziehen suchen, werden „Boniment“ genannt. Dieses Wort hat zwar keine Aufnahme in’s Dictionnaire der französischen Akademie gefunden, es wird aber darum nicht minder von allen Schichten der Gesellschaft und sogar von den Akademikern in der täglichen Unterhaltung gebraucht.

Kalisch.


Instinct oder Ueberlegung? Seit einer ziemlichen Reihe von Jahren Abonnent und Leser der Gartenlaube, habe ich dieser Zeitschrift immer mit Interesse die Notizen über den Instinct, oder richtiger das Vermögen der Thiere, aus den einzelnen vorkommenden abnormen Verhältnissen Schlüsse zu ziehen, die man beinahe Verstand zu nennen berechtigt ist, entnommen, und ich bin in der Lage, diese Sammlung von auffallenden Begabungen der Thiere um eine Thatsache zu vermehren, deren volle Richtigkeit nur durch die glaubwürdigsten Persönlichkeiten übereinstimmend verbürgt ist.

Bei dem großen verheerenden Brande am 27. Juni d. J., der in dem kurzen Zeitraum von halb elf Uhr früh bis drei Uhr Nachmittags über einhundertundacht Wohnhäuser und einhundertsiebenunddreißig Nebengebäude in Asche und Schutt legte und dadurch die Hälfte des Städtchens Auerbach in der Oberpfalz vernichtete, waren die Hitze und das durch die Schindeldachungen der Nebengebäude hervorgebrachte Flugfeuer so groß, daß Porcellan, Steingut und Glas in den Häusern die sechs großen Glocken von etwa einhundertundfünfzig Centner Gewicht im Pfarrkirchenthurm schmolzen und ungefähr vierhundertundfünfzig Schritt vom Hauptheerd des Feuers entfernte Ställe und Wohnhäuser im Nu sich entzündeten und in Trümmer sanken. Ganz in der Nähe des größten Feuers, keine zwanzig Schritt entfernt, und gerade in der Richtung des zur Zeit des Brandes herrschenden Windes, liegt nun ein gegen achtzig Fuß hoher Stadtmauerthurm, der, ganz massiv mit Ziegeln eingedeckt, seit einer langen Reihe von Jahren auf der Spitze des Daches ein Storchennest beherbergt – deshalb auch unter dem Namen Storchenthurm bekannt ist. Im Neste befanden sich während des Schadenfeuers drei Junge, die, noch nicht flügge, von den Alten geätzt wurden, wie dies heute noch geschieht. Da, wie bekannt, die Nester der Störche aus Reisig, Stroh und andern leicht feuerfangenden Theilen bestehen, die seit Monat Mai herrschende enorme Hitze aber diese Stoffe noch mehr ausgedörrt hatte, so war die Gefahr der Entzündung des Nestes und mit demselben die des Thurmes bei den Tausenden von Funken und brennenden Theilen, welche die Wucht des Feuers in die Höhe riß und nach allen Seiten streute, eine ganz außerordentlich große, und die armen Thiere müssen nicht wenig von der intensiven Gluth und Hitze zu leiden gehabt

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