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verschiedene: Die Gartenlaube (1868)

Worte erst allmählich begriffe. Ihr Lächeln verwandelte sich, eine namenlose Angst ergriff alle ihre Züge. Sie stand auf.

„Annette!“ rief er mit halberstickter Stimme. „Annette!“ Das Blatt noch immer in der Hand, fuhr er in die Höhe und stierte sie an.

„Um Gotteswillen, was ist Ihnen?“ sagte sie ohne Besinnung. „Erschreckt Sie das?“

Er sah über sie weg und griff nach seinem Hut. „Nichts, nichts,“ stammelte er; „nur daß ich fort muß – daß ich Sie verlasse. Leben Sie wohl!“ wollte er hinzusetzen und brach mitten drin ab und trat auf die Schwelle, keines Wortes mehr mächtig.

„Mein Gott – wo wollen Sie hin?“ rief Annette ihm nach.

Aber er schien sie nicht mehr zu hören; er hatte die Thür schon aufgerissen und trat hinaus. Von ihrer Angst getrieben, eilte sie ihm nach, die Thür flog in’s Schloß, und sie stand da und hörte draußen seine hastigen Schritte.

Sie eilte an’s Fenster zurück; mit fliegenden Blicken sah sie ihn vorüberstürmen, dem Marktplatz zu. Ihre Sinne wollten sie verlassen. An der Ecke hielt sein Diener mit den beiden Pferden; sie sah Karl einen Augenblick stille stehen und nach ihrem Fenster zurückblicken, dann wieder weiter eilen, bis er die Pferde erreichte. Im Scheine der Laterne, die dort an der Ecke hing, schwang er sich vor ihren Augen in den Sattel hinauf, schien dem Diener zu winken, und in derselben Richtung, in der er gekommen war, sahen ihre sich umflorenden Blicke ihn verschwinden.




5.

Seit diesem unglückseligen Abend war etwa eine Woche vergangen; die schönen Maitage waren dahin, der Juni hatte kalten Weststurm und rauhen Regen gebracht, und die ganze Melancholie, die über einer weiten, starren Fläche unter einem sonnenlosen Himmel liegen kann, lag über der hügeligen Ebene vor Karl’s einsamen Augen ausgebreitet. Er saß in seinem ländlichen Herrenhaus am Fenster und starrte in die graue Luft hinaus und zu den fernen, niedrigen, von Pappeln umstellten Gebäuden auf dem Landsitz seines Bruders hinüber. Der treue Caro kauerte zu seinen Füßen und schien mit sorgenvoller Befremdung zu ihm hinaufzusehen. Der Tisch, neben dem er saß, war unter Büchern und Papieren begraben, die Stühle um ihn her mit Folianten bedeckt, alte vergilbte Hefte und Actenstöße lagen auf der Erde. Die Gutsrechnungen der früheren Jahre, die Wirthschaftsbücher, Pläne und Zeichnungen hatte er in diesen Tagen, wo er nur ging und stand, in dem großen Zimmer ausgebreitet und umhergestreut, wie wenn ein[WS 1] ganzes Collegium hier gearbeitet hätte. Aber müde, wie er der ewigen Arbeit war, und von seinen schmerzlichen Empfindungen übermannt, hielt er die Augen, die sich über den Papieren bei Tag und Nacht abgemattet hatten, nun einzig auf jene Häuser in der Ferne gerichtet und auf den Rauch, der dort aufstieg. Er sagte sich, daß nun bald Annette dort als junge Herrin einziehen werde. Er rief sich in’s Gedächtniß zurück, wie seine unseligen Gefühle für das Mädchen in ihm entstanden seien, wie sie so schnell, so übermächtig hätten wachsen können und wie es nur möglich gewesen, daß er sich über ihre Empfindungen getäuscht hätte. „Sie zeigte dir Güte und Vertrauen,“ sagte er sich mit kummervoller Seele, „aber ihn liebte sie! Wie eine Schwester kam sie dir entgegen –und nun ist sie dir geworden, was sie dir werden wollte! Dich ließ sie in ihren früh erwachten Geist ein wenig hineinblicken – ihm gab sie ihr Herz!“

Indem er das dachte, stieg wider seinen Willen die ganze Bitterkeit in ihm auf, die ihn diese Tage in Traum und Wachen verfolgt, gegen die er umsonst gerungen hatte. Er erinnerte sich jenes Abends, wo ihn Wilhelm auf der Bank unter dem Sternenhimmel aufgesucht und ihm in Tönen, die nur vom flüchtigsten Rausch zu zeugen schienen, den ersten Hymnus auf Annette vorgesungen. Alle die schwärmerischen Ausbrüche des Bruders, über die er damals gelächelt hatte, fielen ihm nun in unglückseliger Wörtlichkeit wieder ein: wie acut er sich verliebt habe, wie viel sie mit einander gelacht hätten, wie bereit er sei, sie auf dem Fleck zu heirathen. „Und in dieser trunkenen Wallung,“ sagte er sich, „ging ihr Wilhelm entgegen, und während ich in meiner stillen Seligkeit, mit all’ meinen Hoffnungen und ahnungsvollen Gefühlen, durch die Mondnacht dahindämmerte, entschloß er sich wie im Kartenspiel, sie zu gewinnen – und kam, sah und siegte! Und ich, der ich auf ihre holdseligen Augen vertraute – – O Karl! Karl!“ rief er sich selber an und fuhr sich über die glühend heiße Stirn, wie wenn er ihr helfen müßte, diese unaussprechliche Täuschung zu begreifen. „Sie dachte nicht mehr an dich. Sie sah ihn an und sah, daß er sehr schön war und daß er so warme, verliebte Augen hatte, und der Bund war geschlossen! Und ich Ahnungsloser mußte nun kommen und ihr mein Gefühl verrathen – –“

Sein ganzer Stolz wallte auf, sein Mund schloß sich in wilder Herbigkeit, er erhob sich, um sich leichteren Athem zu verschaffen, und ging im Zimmer umher.

Er glaubte ihr sein Herz wie ein Knabe preisgegeben zu haben. Er wiederholte sich zu seiner Genugthuung Wort für Wort den Brief, den er am nächsten Morgen an Annette geschrieben; wie er ihn sich in diesen Tagen schon hundert Mal wiederholt hatte. Als wenn sie vor ihm dasäße und er zu ihr spräche, sagte er Alles von Neuem an sie hin: daß er sie an jenem Abend durch seine Bestürzung ohne Zweifel befremdet habe; daß er bei der Nachricht von ihrer Verlobung aus einem Grunde erschrocken sei, den er ihr nicht anvertrauen dürfe; daß es sich dabei um einen Freund gehandelt habe, der ihm am Herzen liege; daß er über diesen ersten Schreck, in einer Unhöflichkeit, die er selber unbegreiflich finde, so ganz vergessen habe, ihr seine eigene Freude über das glückliche Ereigniß und seine brüderlichen Gefühle auszusprechen; daß er um jenes Freundes willen sie bitte, von diesem aufklärenden Brief und von seinem seltsamen Benehmen am Abend zuvor, ja von dieser Begegnung überhaupt, auch gegen Wilhelm, zu schweigen, und daß er das Gleiche thun werde. Jedes Wort dieses Briefs, mit bitterer, künstlicher Berechnung ausgedacht, klang in seiner gequälten Seele wieder, aber es gab ihm nicht die Erleichterung, die er hoffte.

Er ging nun unruhiger im Zimmer umher; die Lüge beschämte ihn, mit tiefer Beklemmung sah er sich in ein gemeines Gewebe von Unwahrheiten verstrickt und fühlte, daß er es nie mehr werde zerreißen können. „So beginnt nun,“ dachte er, „dieser neue Bund! Vor Annetten mußt du dein Herz verhüllen, gegen Wilhelm giebt es für dich keine Offenheit mehr – Verstellung i ist von nun an deine einzige Rettung! – Fort von hier, fort! Fort aus ihrer Nähe! bis ich das Aergste überstanden, bis ich mich abgetödtet, bis ich diese grauenhafte Ruhelosigkeit verwunden habe! bis es mir möglich ist, ohne beständige Lüge mit diesen Menschen zu leben! Warum hatte ich noch nicht den Muth, zu fliehen? Warum saß und saß ich hier Tag für Tag, als könnte etwas Plötzliches mich überraschen, mich befreien, als könnte es widerrufen werden, als könnte irgend ein unerwarteter Zufall noch dazwischentreten? Es ist keiner gekommen – und noch immer geh’ ich hier umher und hoffe auf irgend ein Wunder! O Kind! o Kind!“ – Er legte sich die geballten Fäuste vor die Stirn, er fuhr sich in’s braune Haar und zog daran, als müsse er das ganze Gehirn mit ihnen herauszerren. Alle Leidenschaft war auf einmal in ihm erwacht. Er hatte gehofft, sich zur Ruhe zu sprechen, sein Blut wallte statt dessen fieberhaft, seine Schläfen zitterten und schmerzten; er warf sich in einen hohen Sessel, über Bücher und Papiere hin und begrub sein Gesicht in beide Hände.


(Fortsetzung folgt.)




Einer vom „jungen Deutschland“.

Wer in den ersten Nachmittagsstunden die Hauptallee des Wiener Praters besucht, der kann sicher sein, dort einem Manne von mittlerer Größe und gedrungenem Körperbau zu begegnen, welcher tagtäglich in dieser herrlichen Anlage der Donauinsel spazieren geht. Mag die Sonne noch so glühenden Brand versenden, mag der Sturm die Wipfel der alten Kastanienbäume schütteln oder der Regen in Güssen herniederströmen, keines Wetters Ungemach

hindert den Mann, der dicken Atmosphäre der großen Residenz

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: eine
Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1868). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1868, Seite 516. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1868)_516.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)