Seite:Die Gartenlaube (1867) 744.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1867)

Wir schlenderten gemächlich zwischen den einzelnen Gruppen der hier und da auf den Rasen hingestreckten ‚Pintos‘ umher, welche, Säbel und Carabiner zur Seite, ihrer fast einzigen Beschäftigung, dem Hazardspiele, eifrigst oblagen. Ich mischte mich unter eine derselben, die zahlreicher als die übrigen war, warf ein paar Realen auf die Decke, die als Spieltisch diente, und war anscheinend bald in den Erfolg meiner Finanzoperation versunken. Bald gewahrte ich, daß ich nicht der einzige Zuschauer war. Mir gerade gegenüber, an eine Cocosnuß-Palme gelehnt, stand ein hochgewachsener, schlank gebauter, noch junger Mann, den ich, nach der Eleganz seiner ganzen Erscheinung und der koketten Weise, mit welcher er seine ungewöhnlich kostbare „Zarrape“ trug, für einen Fremden halten mußte.

Wenn Mexicaner Jemanden scharf beobachten wollen, so scheinen sie zumeist irgend wo anders hin zu sehen, als nach dem eigentlichen Gegenstande ihrer Neugierde. Dem Auge jenes Mannes war mein Blick jedoch kurz nacheinander bereits zwei Mal begegnet, wie es beide Male mit einem eigenthümlichen Ausdruck gespannter Aufmerksamkeit nach mir gerichtet war. Ein Umstand so ungewöhnlicher Art konnte mir nicht wohl entgehen. Ich ließ den Zeigefinger meiner linken Hand langsam und wie zufällig über mein rechtes Augenlid gleiten und wartete. Keine Muskel seines ausdrucksvollen Gesichtes zeigte die mindeste Bewegung, während ein prüfender Blick seines dunklen Auges vorsichtig und voll Argwohn im Kreise umher streifte. Dann kräuselte er mit einer raschen und koketten Bewegung seiner rechten Hand die linke Seite seines sorgfältig cultivirten, pechschwarzen Schnurrbartes drei Mal in eigenthümlicher Weise. Einer der beiden Männer, an die ich gewiesen war, stand mir gerade gegenüber.

Ein plötzliches Trompetensignal unterbrach das Spiel in unerwarteter Weise und nicht eben zur Zufriedenheit der dabei Betheiligten. Erst nachdem letztere ihre gegenseitigen Forderungen ausgeglichen, was nicht ohne verschiedene Messerstiche abging, gelang es den Officieren, die „freie und unabhängige“ Soldateska dahin zu bringen, sich nach ihren Pferden zu begeben. Als sich endlich auch der letzte der constitutionellen Vertheidiger des freien Staates aufgerafft hatte, überholte mich der Fremde mit dem fein gewichsten Schnurrbart und der eleganten „Zarrape“ und sagte im Vorbeigehen mit gleichgültigem Ton, aber mit einem Blicke geheimen Einverständnisses im Auge: „Wenn es Ihnen recht ist, so wird Obrist Ramon Rodriguez es sich zum Vergnügen machen, die unterbrochene Partie ‚Monte‘ heute Abend bei Ihnen weiter zu spielen.“ Ich verneigte mich zustimmend und wir trennten uns nach verschiedenen Seiten.

Eine halbe Stunde später waren sämmtliche Pintos aufgesessen und eine Recognoscirungsabtheilung derselben jagte im Galopp davon. Als dieselbe beim Serail ihres Sultans vorbeidefilirte, ihre Lassos nach Indianerweise über ihren Köpfen schwingend, schallte ihr wildes „El viva!“ durch die Luft. Der, dem jener Zuruf galt, war nicht sichtbar. Aber aus dem Hause mir gegenüber erklang ein durchdringender, gellender Schrei der Furcht und des Entsetzens, der selbst jenes wilde Gebrüll übertönte und langsam, wie der helle Ton einer entfernten Glocke, durch die Luft zitternd verklang. Ich dachte unwillkürlich an das marmorbleiche Mädchen mit den wundersam geheimnißvollen Augen, welches für das Leben ihres Vaters bebte, das die Rachegötter noch bis auf den heutigen Tag beschützen. Vergebens sah ich mich nach Antonio um, den ich nirgends zu finden vermochte, und legte mich endlich in meine Hängematte, um ein paar Stunden des Schlafes zu genießen.

Der Hufschlag flüchtiger Rosse weckte mich aus einem fieberhaften Schlummer. Ich eilte an’s Fenster: die Sonne verschwand soeben hinter dem Horizont. Unter meinem Fenster, vor der Wohnung des Gouverneurs, bemerkte ich einen wilden, regellosen Reiterhaufen, im Begriff, sich einigermaßen zu formiren. Die wilden Gesticulationen, das wüste Durcheinander, das unverständliche Geschrei jedes Einzelnen und Aller zusammen bot ein wahres Urbild des Chaos und der Auflösung dar. Durch die in jenen Klimaten so eigenthümlich rasch zunehmende Finsterniß glaubte ich für einen Augenblick im Hofe gegenüber einen unförmlichen, mit Decken belegten Gegenstand auf einer Tragbahre zu erkennen, die von Indianern rasch nach der Richtung des Gebirges hin fortgetragen wurde; eine Abtheilung Reiter umgab sie mit aufgenommener Waffe. Die Erscheinung war indeß zu plötzlich, um eine feste Gestalt in mir annehmen zu können, und mochte ebensogut ein Gebilde meiner Phantasie sein. Aber deutlich genug klang jener wilde Schreckensschrei, greller und unheimlicher als zuvor, zu mir herüber, dessen durchdringender Schall mir in jedem Nerven nachvibrirte.

Abermaliges heftiges Pferdegetrampel, verworrenes, grelles Geschrei dicht unter mir, Trompetensignale und Flintenschüsse in der Ferne. Dann hörte ich plötzlich eilig nahende Fußtritte auf dem Corridor vor meiner Thür. Ich öffnete dieselbe nur halb; meine einzige Waffe bestand aus einem kleinen, feinen Dolche, der den Luchsaugen jener Spürhunde an der Papagayo-Fähre wie durch ein Wunder entgangen war.

„Wer ist da?“ fragte ich.

„Vive le Emperador!“ war die Antwort des mexicanischen Officiers, der mir seinen Besuch für diesen Abend selbst angekündigt hatte. Ich machte Licht an und lud ihn ein, sich zu setzen, was er jedoch ausschlug. Seine ganze Erscheinung war auffällig und imponirend; seine stattliche Figur erschien noch größer und schlanker, als er so vor mir stand, auf seinem männlichen Gesicht lag der Ausdruck finsterer Entschlossenheit, seine dunklen Augen glühten voll seltsamen Feuers.

„Die Zeit des Handelns ist da,“ sagte er, „jetzt oder niemals! In einer Viertelstunde ist es vielleicht schon zu spät und der Vogel ausgeflogen. Ein panischer Schrecken ist in diese Feiglinge gefahren und sie werden sämmtlich vor einem Dutzend Franzosen davonlaufen.“

Es kam mir vor, als sähe ich am Fenster gerade gegenüber den blanken Lauf eines Gewehres durch die Dunkelheit blitzen, aber die Erscheinung war im Augenblick wieder vorüber.

Der Ruf: „Feuer! Feuer!“ erscholl dicht neben der Herberge. Ich war im Begriff, das Fenster zu öffnen, als er mich zurückhielt. „Seien Sie unbesorgt,“ sagte er, „Antonio thut nur, was ich ihm geheißen. Wollen Sie mir ebenfalls zur Seite stehen jetzt?“

„Was haben Sie vor?“ fragte ich.

„Ihn tödten!“ war die Antwort.

Antonio trat in diesem Augenblick selbst in’s Zimmer. Unter uns brauste ein confuses Geräusch von Männer- und Frauenstimmen durcheinander; Hundegebell und Pferdegetrampel schallten dazwischen. Das entfernte Geknatter von Flintenfeuer kam augenscheinlich näher; Trompetensignale und der Lärm sich nahender Hufschläge waren überall rings umher hörbar. Der helle Schein einer auflodernden Feuerflamme erhellte wie mit einem Zauberschlage die Finsterniß draußen.

„Sie wollen also nicht?“ fuhr er fort, unbekümmert um das, was rings umher vorging. „Gut, ich kann es allein vollbringen! Er ist der Mörder meines Vaters, der Schänder –“

In diesem Augenblick riß mich ein heftiger Faustschlag Antonio’s, der dicht neben mir stand, das Gesicht nach dem gegenüberliegenden Fenster gekehrt, zu Boden. Er selbst fiel fast gleichzeitig und unmittelbar über mich weg zur Erde. In der nämlichen Secunde klirrte auch schon das Glas meiner Fensterscheibe von zwei Kugeln durchbrochen, von denen die eine dicht über mir mit jenem eigenthümlichen „Klatsch!“ in die Ziegelwand hinter uns schlug, die andere verfehlte dagegen ihr Ziel nicht und mit einem dumpfen Schmerzensschrei brach die lange Gestalt des mexicanischen Officiers zusammen.

Er war mitten durch’s Herz geschossen und kein weiterer Laut brach von seinen fest zusammengepreßten Lippen, aber deutlich meinem inneren Auge lesbar stand in jedem Zuge seines blassen Gesichtes der nämliche Fluch geschrieben, mit dem vor einem halben Jahrhundert jener andere gemeuchelte Mann seine Seele verhauchte: „Cobarde y asesino! maldito seas para siempre!“ (Feigling und Mörder! Verflucht seist Du auf ewig!)

Ein schmaler, bläulicher Streifen Pulverdampf kräuselte aus dem von der nahen Feuersbrunst erleuchteten Fenster gegenüber und verschwand dann in der Finsterniß dahinter. Ein lauter, kräftiger Ruf aus einigen fünfzig Kehlen erfüllte wenige Augenblicke später die Luft. Er klang wie eine gebietende Stimme der Ordnung inmitten dieser wilden Verwirrung, der willkommene Ruf: „Vive l’Empereur“ Eine halbe Schwadron Chasseurs d’Afrique sprengte mit verhängtem Zügel durch den Flecken und in wenigen Secunden war jedes Haus in La Providencia umringt. Einen Augenblick darauf stand, den gezogenen Säbel in der Faust, ein Officier jener Abtheilung vor mir.

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1867). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1867, Seite 744. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1867)_744.jpg&oldid=- (Version vom 5.3.2017)