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verschiedene: Die Gartenlaube (1867)

Sie schnitt rasch ein schönes Bouquet ab, steckte zwei Töpfe mit Aurikeln – Tante Cordula’s Lieblinge – in ihren Korb und legte den Weg über die Dächer mit weit schwererem Herzen zurück, als sie gekommen war.

Nun hatte dies junge Mädchen bereits drei Gräber da draußen auf dem weiten, stillen Todtenfelde! Die liebsten Menschen, die ihr warmes Herz mit Inbrunst umfaßt, deckte die Erde. Sie warf einen unsäglich bitteren Blick gen Himmel, als sie die Blumen auf Tante Cordula’s frisches Grab streute – er konnte ihr nun nichts mehr nehmen! Ihr Vater war seit vielen Jahren verschollen – er moderte längst in fremder Erde; dort drüben auf einem kostbaren Marmorblock leuchtete in Goldschrift der Name Friedrich Hellwig, und hier – sie schritt auf das Grab ihrer Mutter zu, es war, Dank der Fürsorge der alten Mamsell, seit neun Jahren zur schönen Jahreszeit stets mit köstlichen Blumen bedeckt. Aber heute lag der Grabstein herausgerissen neben dem Hügel; Heinrich hatte erst vor einigen Tagen erklärt, die Inschrift müsse endlich einmal erneuert werden, sie sei am Erlöschen – wahrscheinlicherweise war auf seinen Betrieb der Stein herausgenommen worden. Er war bis dicht an den Namen der Verstorbenen eingesunken gewesen; heute nun zeigte er sich in seiner ganzen Länge. „Meta d’Orlowska“ las Felicitas mit verdunkeltem Blick; aber da stand ja weiter drunten noch ein Name, den die Erde bis jetzt vollkommen verdeckt hatte. Von der schwarzen Farbe zeigte sich freilich nur noch hier und da ein schwacher Rest an den Schriftzügen; allein sie waren in den Sandstein vertieft – „geborne von Hirschsprung aus Kiel“ ließ sich ohne Mühe entziffern.

Felicitas versank in tiefes Sinnen. … Dieser Name hatte auf dem Bach’schen Opernmanuscript gestanden; er hatte ferner dem uralten, thüringischen Rittergeschlecht gehört, dessen Wappen noch auf allen Wänden des alten Kaufmannshauses prunkte – das kleine, silberne Petschaft in Felicitas’ Kindertäschchen zeigte aber auch denselben springenden Hirsch … wunderbares Räthsel! Das stolze Geschlecht, das in seinen letzten Generationen zu Hobel und Pfrieme hatte greifen müssen, war ja längst erloschen. Heinrich hatte als Kind den letzten Träger des alten Namens noch gekannt – er war jung und unverheirathet als Student in Leipzig verstorben… und doch war vor vierzehn Jahren aus dem fernen Norden eine junge Frau gekommen, die im Elternhause den Namen getragen und das Wappen geführt hatte. … War einst ein Zweig vom alten Thüringer Stamm losgerissen und in die Ferne geschleudert worden? … Du stolzer Ritter, der du deine Gestalt auf der Steinplatte im alten Kaufmannshause verewigen ließest, tritt heraus aus deinem Zinnsarg und wandle über dies Gräberfeld! Verschiedene Steine tragen deinen Namen, und unter ihnen ruhen Männer mit schwieligen Arbeiterhänden, Männer, die im Schweiß ihres Angesichts ihr Brod essen mußten, während du die Ansprüche und Vorrechte deines Geschlechts bis in alle Ewigkeit verbrieft und besiegelt hinterließest, während du in dem unzerstörbaren Wahn die Augen schlossest, dein bevorzugtes Blut, die aristokratischen Hände deiner Nachkommen seien gefeit gegen die Befleckung der Arbeit. Tritt her an dies Grab, das den Staub einer weit hergewanderten Tochter deines Hauses deckt! Das Brod, das sie aß, war ein ungleich härteres, ein verachtetes – sie mußte im Gaukelspiel vor die Menschen treten, und dies Gaukelspiel zerstörte ihren blühenden Leib. … Du hast nicht an den Wechsel gedacht, der in der Welt- und Menschengeschichte dort eine Woge gen Himmel trägt und hier einen Abgrund öffnet, um beide dann für einen Augenblick trügerisch wieder zu ebnen und auszugleichen.

Ob noch Verwandte von Felicitas’ Mutter existirten? Das junge Mädchen beantwortete sich diese Frage selbst mit einem bitteren Lächeln; auf alle Fälle existirten sie nicht für die Tochter der Meta von Hirschsprung. Sie waren zweimal öffentlich aufgerufen worden und hatten consequent geschwiegen. Vielleicht hatte diese Linie des alten Geschlechts seine ursprüngliche Reinheit bewahrt bis zu dem Augenblick, wo eine Tochter derselben dem Taschenspieler Herz und Hand schenkte – sie wurde verstoßen aus dem Paradiese adeligen Glanzes, aus dem Kreis der Ihrigen auf Nimmerwiederkehr. … Soviel war gewiß, ihr Kind beschritt die Schwelle Derer niemals, die ihre Familienbeziehung zu der Ehefrau des Taschenspielers öffentlich verleugneten.


20.

Felicitas kehrte, nachdem sie den Gottesacker verlassen, nicht in das Haus am Markt zurück. Rosa und Aennchen erwarteten sie im Garten, gegen Abend wollte auch Frau Hellwig kommen, um mit dem Kind unter den Akazien zu essen… Die große Frau hatte ihre äußere Ruhe scheinbar wiedergewonnen, nur war es auffallend, daß sie viel mehr, als sonst, ausging; es hatte fast den Anschein, als sei es ihr Bedürfniß, sich bis zur Ankunft ihres Sohnes zu zerstreuen und vielleicht auch ein wenig auszusprechen.

Die Begegnung mit Felicitas in der Mansarde schien sie völlig ignoriren zu wollen. Auf die Vermuthung, daß das Mädchen Verkehr mit der alten Mamsell gehabt habe, war sie augenscheinlich nicht gekommen; sie hatte Felicitas’ Eindringen einfach für Neugierde gehalten, die sie unter anderen Umständen freilich nicht straflos hätte hingehen lassen, aber im Hinblick auf die weiteren Vorgänge jenes Abends war es ihr ohne Zweifel wünschenswerth, daß das Vorgefallene möglichst rasch vergessen werde.

Felicitas hatte eilig beinahe die ganze kleine Stadt umschritten und blieb nun vor einer Gartenthür stehen. Sie schöpfte tief Athem, dann legte sie rasch entschlossen die Hand auf den Drücker und öffnete die Thür, sie führte in den Nachbargarten, in das Besitzthum der Frank’schen Familie… Das junge Mädchen war jetzt einzig und allein auf sich und seine eigenen Entschlüsse angewiesen. So schmerzzerrissen auch ihre Seele war, auf die Energie ihres im Kampfe hart gewordenen Charakters hatten diese inneren Leiden keinen Einfluß; ihr außerordentlich klarer Kopf stand auch nach dem härtesten Schlage sehr bald dem Unvermeidlichen gegenüber, und nie hatten die Nebel der Gefühlsseligkeit oder Schwärmerei diesen scharfen, logischen Gedankengang zu beeinträchtigen vermocht.

Die zarte, sehr distinguirt aussehende Dame im weißen Häubchen, die Felicitas vor wenig Tagen angeredet hatte, saß zeichnend in einem schattigen Laubgang. Sie erkannte die Eintretende sofort und winkte ihr eifrig, näher zu kommen.

„Ah, da kommt meine kleine, junge Nachbarin und will einen guten Rath, nicht wahr?“ fragte sie mit herzgewinnender Freundlichkeit und ließ das junge Mädchen neben sich niedersetzen. Felicitas sagte ihr, daß sie nach Verlauf von drei Wochen das Hellwig’sche Haus verlassen müsse und eine Stelle suche.

„Wollen Sie mir nicht ungefähr sagen, was Sie leisten können, mein Kind?“ fragte die Frau und ließ ihre großen, klugen Augen, welche lebhaft an die ihres Sohnes erinnerten, auf Felicitas’ Gesicht ruhen; es wurde flammend roth… Sie sollte von ihren scheu verschwiegenen Kenntnissen sprechen und sie plötzlich auskramen, wie der Kaufmann seine Waaren – es war ihr ein unsäglich peinliches Gefühl, und doch mußte es sein.

„Ich glaube, ganz leidlich im Französischen und Deutschen, in Geographie und Weltgeschichte unterrichten zu können,“ antwortete sie zögernd, „auch im Zeichnen habe ich mich geübt, musikalisch ausgebildet bin ich nicht, allein ich weiß, was zu einem tüchtigen, schulgerechten Gesangsvortrag gehört;“ die Augen der Frau Hofräthin vergrößerten sich merklich im Erstaunen, „dann kann ich auch kochen, waschen, bügeln und auf Verlangen auch scheuern.“ Die letzten Artikel des Berichtes kamen ungleich rascher von den Lippen des jungen Mädchens, als die anfänglichen.

„Hier, in unserem guten, kleinen X., möchten Sie wohl nicht bleiben?“ fragte die Dame lebhaft.

„Wünschenswerth wäre mir allerdings ein längerer Aufenthalt nicht, aber ich habe liebe Gräber hier, allzu rasch möchte ich mich auch nicht von ihnen trennen –“

„Nun, dann will ich Ihnen etwas sagen. Die Gesellschafterin meiner Schwester in Dresden verheirathet sich; diese Stelle wird in etwa sechs Monaten frei, ich werde Sie dort empfehlen, und bis dahin bleiben Sie bei mir. Sind Sie damit einverstanden?“

Felicitas küßte ihr überrascht und dankbar die Hand, aber dann richtete sie sich empor und sah die alte Dame mit einem beweglichen Blick an, es war nicht zu verkennen, daß ihr noch ein Wunsch auf den Lippen schwebte; die Hofräthin bemerkte es sofort.

„Sie haben noch etwas auf dem Herzen, nicht wahr? … Wenn wir eine Zeit lang miteinander leben wollen, dann müssen wir vor Allem offen sein, also heraus mit der Sprache!“ sagte sie munter.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1867). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1867, Seite 468. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1867)_468.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)