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verschiedene: Die Gartenlaube (1867)

auf das eingehen zu machen, was der Augenblick erheischte. Er wechselte mit ihr im Nachtwachen ab, allein auch tagsüber war er sehr viel im Krankenzimmer. Stundenlang saß er geduldig neben dem Bettchen und legte seine Hände abwechselnd auf die Stirn des Kindes – dann ruhte es still und unbeweglich, es mußte eine eigenthümlich beschwichtigende Kraft in diesen Händen liegen.

Unwillig und tief erregt suchte das junge Mädchen die vergleichenden Gedanken abzuschütteln, die sie beschlichen, wenn sie, unfern von ihm sitzend, ihn schweigend beobachtete. Das waren noch dieselben unregelmäßigen, harten Linien des Gesichts, dieselbe wuchtig hervortretende Stirn, über welcher das dicke Haar peinlich sorgfältig zurückgestrichen lag – es waren dieselben Augen, dieselbe Stimme, Alles in Allem der Schrecken ihrer Kindheit, aber den finster asketischen Zug, der einst den Jünglingskopf so unjugendlich und abstoßend hatte erscheinen lassen, suchte sie vergebens… Von jener nicht schön geformten, jedoch bedeutenden Stirn ging es aus wie ein mildes Licht, und wenn sie hörte, wie er dem aufgeregten Kind mit unaussprechlich sanfter Stimme beschwichtigend zuredete, so konnte sie sich nicht verhehlen, daß er seinen Beruf in seiner ganzen Heiligkeit erfasse. Er stand nicht mit kalt-grausamem Achselzucken den unvermeidlichen Schmerzen Anderer gegenüber, er suchte nicht allein den Körper vor der Vernichtung zu retten – die bangende Seele fand an ihm eine Stütze; sie las das Mitgefühl in seinen Augen und schöpfte Muth und Trost aus seiner Stimme. Er hatte die Sprache in seiner Gewalt, wie selten ein Mensch. Es standen ihm Klänge und Worte zu Gebote, die das Herz des jungen Mädchens wie elektrische Schläge berührten… Wer dachte in solchen Augenblicken an seine unschönen, eckigen Bewegungen, an sein abstoßendes Wesen im geselligen Verkehr? Da war er eine sittlich schöne Erscheinung, ein Mann im Bewußtsein großer, moralischer Kraft, der rastlos denkende und kämpfende Vermittler zwischen den zwei erbitterten Gegnern „Leben und Tod“… Aber mochten auch alle diese Gedanken versöhnend an ihr vorüberziehen, die Schlußbetrachtung war dieselbe: „Er fühlt und denkt menschlich, er hat Erbarmen mit dem hülflosen Zustand des geringsten Nächsten – das verfehmte Spielerskind hat mithin doppelten Grund, ihn zu verabscheuen, denn ihm war er ein mitleidsloser Unterdrücker, ein vorurtheilsvoller, ungerechter Richter.“

Er hatte bei dem jetzigen täglichen Verkehr nicht ein einziges Mal jenen weichen Ton wieder angeschlagen, der ihr schrecklich war und gegen welchen sie stets mit den Waffen des Trotzes und der Zurückweisung kämpfte. Er hielt die kalt höfliche Freundlichkeit fest, die er seit dem letzten Gespräch mit ihr angenommen, und auch diese lag mehr in seinem Gesichtsausdruck, als in seinen Worten, denn, die unerläßlichen Fragen ausgenommen, sprach er fast nie mit ihr. Einen schweren Stand hatte er der Regierungsräthin gegenüber. Sie geberdete sich anfänglich wie unsinnig und wollte es durchaus nicht zulassen, daß Felicitas ihre und Rosa’s Stelle am Krankenbett einnehme; es bedurfte seiner ganzen Entschiedenheit, um sie zur Ruhe zu bringen. Dagegen ließ sie es sich durchaus nicht nehmen, alle Augenblicke den von dem Kinde so sehr gefürchteten Lockenkopf lauschend zur Thür hereinzustecken; sonderbarer Weise traf es sich dann stets, daß ihr Cousin und Felicitas zusammen im Krankenzimmer waren… Sie weinte und rang die weißen Hände – es giebt kein menschliches Gesicht, das in wahrhaft schmerzlicher und angstvoller Aufregung schön unter einem Thränenerguß bliebe; mögen die Dichter auch ihre Heldinnen ‚hinreißend in ihren Thränen‘ sein lassen – hier aber auf diesem rosigen Oval vertiefte sich kein Zug, nicht ein krampfhaft verzogenes Fältchen erschien, die zarte Haut zeigte keinen einzigen entstellenden rothen Flecken, leise rieselten die hellen Thränenperlen über die Wangen – es war ein so vollendet künstlerisches Weinen, wie es sich der Maler zu einer Mater dolorosa nicht schöner denken kann… Welch’ ein Unterschied zwischen ihr und jenem bleichen, überwachten und angstvollen Mädchengesicht am Bett des Kindes! … Jeden Abend erschien sie pünktlich in elegantem Schlafrock; ein wunderfeines Spitzenhäubchen umschloß das bezaubernde Gesicht, und die feinen Hände hielten ein Andachtsbuch – sie wollte wachen. Ein und dasselbe Wortgefecht erhob sich jedes Mal zwischen ihr und dem Professor, sie wiederholte stets ein und dieselbe Phrase der Verwahrung gegen Eingriffe in ihre mütterlichen Rechte und ging dann sanft weinend und klagend, um am anderen Morgen frisch wie eine Mairose aufzustehen.

Es war der neunte Abend seit Aennchens Erkrankung. Das Kind lag in dumpfer Betäubung; nur dann und wann rang sich ein unarticulirtes Lallen von seinen Lippen. Der Professor hatte lange, die Stirne sorgenvoll in die verschlungenen Hände gedrückt, am Bettchen gesessen; da stand er plötzlich auf und winkte Felicitas in das Nebenzimmer.

„Sie haben die vergangene Nacht gewacht und sich auch gestern und heute nicht einen Moment der Ruhe gönnen dürfen, und doch verlange ich noch weitere Opfer von Ihnen,“ sagte er. „Diese Nacht wird entscheidend sein. Ich könnte nun zwar meine Cousine oder Rosa in die Nähe des Kindes lassen, denn es ist bewußtlos; aber ich brauche wahrgemeinte Hingebung und Besonnenheit neben mir – wollen Sie heute noch einmal wachen?“

„Ja.“

„Doch es werden voraussichtlich Stunden der Angst und Aufregung, die Sie durchmachen müssen – fühlen Sie sich noch stark genug?“

„O ja – ich habe das Kind lieb, und schließlich – will ich.“

„Haben Sie ein so festes Vertrauen auf die Kraft Ihres Willens?“ Seine Stimme nahm bereits wieder jene milde Färbung an.

„Er ist mir bis jetzt noch nicht treulos geworden,“ entgegnete sie; ihr bis dahin völlig ruhiger Blick wurde sofort eisig und abweisend.

Die Nacht brach herein – eine süße, lautlos schweigende Frühlingsnacht! Das volle, funkelnde Mondlicht schwebte über der schlafenden Stadt; im Erkerzimmer des alten Kaufmannshauses streifte es gleichsam mit silbernem Flügel die stillen Bilder an den Wänden und hauchte ein fremdartiges Leben über die festgezauberten Gestalten; die Blumen im Fußteppich leuchteten auf unter dem bleichen Licht, und aus dem Krystallkronleuchter an der Decke sprühten Millionen Silberfunken… Drin, aber im dunklen Krankenzimmer, kreiste eine furchtbare Gewalt über dem schmalen Bett – die Kreise wurden enger und senkten sich tiefer und tiefer auf den qualvoll ringenden, kleinen Körper, das Kind lag in den heftigsten Krämpfen… Der Professor saß neben dem Bett; sein Blick ruhte unverwandt auf den zuckenden Gliedern und dem unkenntlich gewordenen, verzerrten Gesichtchen. Er hatte Alles gethan, was im Bereich ärztlicher Kunst und menschlichen Wissens lag, und nun mußte er macht- und thatlos verharren und die Naturkräfte ihren erbitterten Streit allein auskämpfen lassen.

Draußen schlug es zwölf mit langaushebenden Schlägen. Felicitas, die still am Fußende des Bettes saß, schauerte in sich hinein: es war ihr, als müsse eine dieser mächtigen Schwingungen die Kinderseele mit hinwegnehmen … und wirklich wurde der heftig arbeitende Körper plötzlich schlaffer, die kleinen, festgeballten Hände lösten sich und fielen matt auf die Decke, und nach wenig Augenblicken lag auch das Köpfchen bewegungslos in den Kissen. … Der Professor hatte sich über das Bett geneigt – bange zehn Minuten verstrichen, dann hob er den Kopf und flüsterte bewegt: „Ich halte sie für gerettet!“

Das junge Mädchen bog sich forschend über die Kranke; sie hörte tiefe, ruhige Athemzüge und sah, wie sich die kleinen, todtmüden Glieder behaglich in den Kissen streckten. Lautlos erhob sie sich und ging hinaus in das Nebenzimmer. Sie trat in eines der weit offenen Fenster. Die würzige Nachtluft, in die sich bereits ein Hauch von herber Morgenröthe mischte, strich erquickend an ihr vorüber; sie lehnte das müde Haupt an die steinerne Fenstereinfassung, während ihre gefalteten Hände schlaff niedersanken. Auf dem Sims stand ein Theerosenstrauch; er hatte eine einzige, prachtvolle Blüthe – doppelt bleich im weißen Mondenglanz, hing sie schaukelnd über der blassen Stirn, dem flimmernden Haar des Mädchens… Felicitas’ Pulse klopften fieberhaft – kein Wunder! da drin in dem dumpfen, schwülen Raum war ja der Tod hart an einem Menschen vorübergeschritten; die Spannung ihrer Nerven während der letzten Stunden war eine furchtbare gewesen – kein anderer Laut, als das vereinzelte, schrille Aufkreischen des Kindes hatte ihr Ohr getroffen; sie hatte nichts gesehen, als den zuckenden Körper der Kranken und das stumme, bleiche Gesicht des Arztes, der nur durch Winke und Blicke ihre Hülfleistungen forderte – vier enge Wände umschlossen ihn und sie allein; sie wirkten zusammen in Ausübung der Nächstenpflicht und Barmherzigkeit, während die tiefe Kluft des Hasses und des Vorurtheils zwischen ihnen lag.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1867). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1867, Seite 434. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1867)_434.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)