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verschiedene: Die Gartenlaube (1867)

und Orkane am Auslaufen verhindert. Dazu kamen noch widersprechende Nachrichten über Victor Hugo’s zeitweiligen Wohnsitz. Ich verschob meinen Ausflug nach Guernsey und den übrigen Canal-Inseln daher auf den Frühling. Mein Jersey-Aufenthalt ging bereits zu Ende, als ich dem Dichter in den ersten Tagen des April meinen brieflichen Gruß mit der Anfrage entsandte, ob er überhaupt gegenwärtig in Guernsey verweile und ob ihm mein Besuch willkommen sei. Mit dem rückkehrenden Dampfboot traf ein Antwortschreiben ein, das beide Fragen höflich bejahte.

Am 5. April Morgens sieben Uhr machte ich mich demnach auf die Reise. Nach einer anderthalbstündigen Fahrt zeigten sich im Nord-Osten die kecken Umrisse der festungsartigen Insel Serk und gleichzeitig die langgestreckte, mäßig hohe Küstenlinie Guernsey’s. Noch eine halbe Stunde bei ruhiger werdendem Meere, und wir hatten die Hauptstadt Guernsey’s, St. Peter’s Port, erreicht. Diese Insel hat nicht ganz Jersey’s Umfang, und mein Wirth war während des Winters nicht müde geworden, die großen Vorzüge seiner Insel zu rühmen. Aber auch Guernsey verbindet mit einer Fülle großartiger Naturschönheiten den großartigen Charakter, welcher Jersey so anziehend macht, und als sich jetzt die amphitheatralisch um die blaue Meeresbucht gelagerten Häuser von St. Peter’s Port in bunter Mannigfaltigkeit vor mir ausbreiteten, freute ich mich des anmuthigen Panorama’s um des Verbannten willen zwiefach. Gewiß, Ovid aß das Brod der Fremde mit herberen Empfindungen; gewiß, Dante vergrub sich mit unheilbarer verwundetem Gemüthe in seine patriotischen Grübeleien; Camoëns, auf das ferne Macao verwiesen, mochte seinen schattenlosen Kerker mit berechtigterem Zorne hassen; und die Verbannten unter unseren deutschen Dichtern haben zumeist weit trübere Jahre erleben müssen, indem ja die Noth des Daseins sogar die Leier ihren Händen entwand. Doch auch in sorgenfreien Verhältnissen, auch in freiwilliger Selbstverbannung entbehrt die Heimath sich nicht leicht, und so war es mir ein wohlthuendes Gefühl, daß hier die Natur alle ihre Zauber vereinigt hatte, um den heimathflüchtigen Dichter zu trösten.

Wer Syra, Genua oder Amalfi vom Meere aus erblickt hat, kann das dort Gesehene etwa auf St. Peter’s Port übertragen. Eine Straße baut sich über die andre, eine Häuser-Reihe guckt der andern über die Achsel. Was dem Hafen zunächst gelegen ist, erscheint geschäftsmäßig, altmodisch, von dem Betriebe des Schifferverkehres in Anspruch genommen, nur das, was höher liegt, zeigt sich gepflegter, während das zuhöchst Gelegene, theils englische Cottages, theils prächtige Villen, aus dem Grün einer überaus üppigen Vegetation hervorlugt. Dazwischen ragen mancherlei Kirchen, ein stattliches Gymnasium, die mächtigen Bäume eines Volksgartens und ein neugothischer Thurm auf, der zum Ausblicke über die ganze Ausdehnung der Insel dient und als Erinnerungszeichen an einen Besuch der Königin Victoria erbaut wurde; endlich, zur Linken der Stadt, höher als ihre höchsten Straßen, hält eine von grünem Rasen bedeckte Citadelle, mit mächtigen Geschützen wohlversehen, den Blick trotzig gen Süden, nach dem französischen Festlande gerichtet. Der Union Jack, die englische Flagge, flatterte hoch oben fröhlich im Winde.

Es war gegen Mittag, als ich meine Schritte nach demjenigen Theile der Stadt lenkte, auf welchen man mich bei meiner Frage nach Victor Hugo’s Wohnung verwiesen hatte. Hauteville, einer der hohen, weithin sichtbaren, aristokratischen Stadttheile, welche die Küste krönen, enthält unter andern schönen Baulichkeiten ein schon vom Meere aus deutlich erkennbares, zweistöckiges, ansehnliches Haus, das sich vor den übrigen durch sehr wohnliche Dach-Einrichtungen auszeichnet. Längs der Dachrinne ist ein Geländer angebracht; in derselben Weise hat jeder Erker eine Galerie; Treppen verbinden Eins mit dem Andern; endlich erhebt sich auf der rechten Dach-Seite ein blumenumgebenes Glashaus, das einem photographischen Atelier nicht unähnlich sieht. Dieser schwebende Garten bildet die Dichterwerkstatt Victor Hugo’s. Man hatte mir den beneidenswerthen Zufluchtsort schon vom Meere aus gezeigt und mir unter mancherlei Zusätzen, die hier nicht füglich nacherzählt werden können, zu verstehen gegeben, daß der Dichter seit Längerem ohne seine Familie lebe. Als ich jetzt an dem von der Straße gesehen etwas unschön casernenartigen Gebäude schellte, öffnete mir eine blonde französische Magd von gesetzten Jahren.

Von dem Zwecke meines Kommens unterrichtet, fragte sie, ob eine Audienzstunde vorgängig nachgesucht und bewilligt worden sei, und entschloß sich erst nach allerlei Bedenklichkeiten, meine Karte auf’s Dach zu tragen. „Denn,“ sagte sie, „Mr. Victor Hugo arbeitet zwar um diese Zeit nicht mehr, er beginnt schon früh um 6 Uhr – aber er wird jetzt eben mit seiner Toilette beschäftigt sein; dann ist seine Frühstücksstunde; hierauf folgt, bis zur Tischzeit, Excursion im Wagen; genug, er ist gerade heute völlig besetzt.“ Ich versprach der besorgten Dienerin, mich schlimmsten Falls bei der Wahrnehmung, daß es ihm gut gehe, beruhigen zu wollen, und begab mich auf ihren Vorschlag einstweilen durch einen Corridor, dessen Wände von oben bis unten mit bemalten Rococo-Porcellan-Tellern tapezirt waren, in den wohlgepflegten Garten.

Derselbe hatte eine beträchtliche Länge, bot übrigens keinerlei englische Partien, wie man deren auf Jersey und Guernsey sonst in so reizvoller Auswahl sieht, und verlief sich allmählich in einen wohlbestellten und ummauerten Gemüseacker. Hier war ein Gärtner mit allerlei Frühlingsdelicatessen vollauf beschäftigt. Auch eine zweite Magd, wiederum in vorgerückten Jahren, zeigte sich eifrig beflissen, ihre Schürze – vermuthlich für das „Frühstück“ – mit schmackhaften Lenz-Erstlingen zu füllen, wobei sie große irdene Topfglocken aufzuheben und die darunter aufgeschossenen Rhabarber-Stauden behutsam auszuschneiden hatte. Spargelbeete erzählten an anderen Stellen von weiteren Tafelfreuden. Riesen-Erdbeeren standen in voller Blüthe und verhießen binnen Monatsfrist eine hübsche Anzahl aromatischer Nachtische. Auch Pfirsiche blühten. Es war nichts vergessen, was dem Gaumen irgend Labe bieten konnte.

Jenseits eines immergrünen Gebüsches stand ich still, um meinen Betrachtungen einen weiteren Horizont zu gönnen. Zu Füßen dieser paradiesisch gelegenen Häuser und Gärten von Hauteville blinkte das blaue Meer mit seinen großen und kleinen Schiffen; das in’s Meer hinausragende, alt historische Castel Cornel blitzte tief unten mit allen seinen Fenstern im Mittagssonnenschein. Weiter gen Süden zeichnete sich, in bräunlich rothen Felsenmassen vom weißlichen Dunste der Ferne abgehoben, der vielgestaltige Inselarchipel, welcher, in der Richtung nach dem alten Mutterlande Frankreich, die Vorhut Guernsey’s bildet, – Granittrümmer des Festlandes, durch die wilden Strömungen des Canals vor Zeiten zu vereinsamten Klippeneilanden gemacht. Mit ewigem Grün geschmückt und von der Frühlingssonne warm beschienen, sahen sie aber nichts weniger als unwirthlich aus und beschäftigten das Auge immer von neuem durch die malerische Wirkung ihrer kühnen Linien.

Als ich meinen Blick von dem entzückenden Bilde nach dem Hause zurückwandte, aus welchem noch immer keine Rückmeldung zu mir gelangt war, bemerkte ich, daß sich auf dem Dache etwas Menschliches bewegte, und zwar in einem Zustande, der wohl füglich erst auf den Anfang jener gegen mich erwähnten Toilettenstunde hindeuten konnte. Die Gestalt war aus dem Glasbehälter in’s Freie getreten, um, wie ich jetzt erkannte, eine orientalische Waschung zu verrichten und sich dabei eines vollständigen Luftbades zu erfreuen. Der kurze weiße Vollbart und das weiße Haupt des rüstigen Mannes ließen mir keinen Zweifel über die Person, die ihren Freiheitsideen hier in so unbefangener Weise Genüge that. Es war in der That niemand anders als der Dichter der „Orientales“ selbst.

In unserem kleiderreichen Zeitalter verlernt man so sehr den Anblick des Nackten, daß ich einige Zeit brauchte, um mich in das ungewöhnliche Schauspiel zu finden. Und diese wurde mir allerdings. Der glückliche Mansarden-Bürger! Er schien weder durch die etwaigen Vorurtheile der englischen Nachbarschaft, oder die Nähe der Dienerschaft beengt, noch auch durch den Gedanken behelligt, daß Audienz-Wartende, wie es mir geschah, aus den Schattengängen nach der paradiesischen Scene dort oben hinaufblicken möchten. Auch nach seiner Rückkehr in den gläsernen Behälter blieb er noch eine gute Weile in gleicher Ursprünglichkeit sichtbar, und als ich, nach seinem endlichen Verschwinden, meine Uhr befragte, gewahrte ich, daß diese meine erste Audienz volle 20 Minuten gedauert hatte. Immerhin konnte der Zweck meiner Reise nun kein ganz vereitelter sein. Es war mir jedenfalls ein Stück praktischer Lebensphilosophie vorgeführt worden, das seines Gleichen suchte. Ich war nicht nur in Rom gewesen, ich hatte auch den Papst gesehen.

Aber die Besorgnisse der Pförtnerin erwiesen sich überhaupt als übertrieben. Eine munterblickende Zofe, wie Molière deren so fröhliche gezeichnet hat, war mehrfach in den Gängen des Gartens sichtbar geworden. In Begleitung eines chocoladefarbenen Windspiels

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verschiedene: Die Gartenlaube (1867). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1867, Seite 409. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1867)_409.jpg&oldid=- (Version vom 29.1.2017)