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verschiedene: Die Gartenlaube (1867)

nahm schmeichelnd das Gesicht des kleinen Mädchens zwischen ihre Hände und bog es zu sich herab.

„Siehst Du, mein Töchterchen,“ fuhr sie fort, „seit vielen Jahren kommt der Heinrich allsonntäglich herauf zu mir, um Verschiedenes für mich zu besorgen. … Er weiß, daß er nie gegen mich erwähnen darf, was sich drunten im Vorderhause ereignet, und bisher hat er auch nie dies Verbot überschritten… Wie lieb muß er die kleine Fee haben, daß er plötzlich gegen meinen so streng ausgesprochenen Wunsch handeln konnte!“

Die trotzigen Augen des Kindes schmolzen.

„Ja, er hat mich lieb – sonst Niemand,“ sagte sie und ihre Stimme brach.

„Sonst Niemand?“ wiederholte die alte Dame, während ihr unaussprechlich sanfter Blick ernst liebevoll auf dem Gesicht der Kleinen ruhte. „Weißt Du denn nicht, daß Einer da ist, der Dich immer lieb haben wird, auch wenn sich alle Menschen von Dir abwenden sollten? … Der liebe Gott –“

„O, der will mich ja gar nicht, weil ich ein Spielerskind bin!“ unterbrach Felicitas die Sprecherin mit ausbrechender Heftigkeit. „Frau Hellwig hat heute Morgen gesagt, meine Seele sei so wie so verloren, und Alle drunten im Vorderhause sagen, er habe meine arme Mama verstoßen, sie sei nicht bei ihm… Ich habe ihn aber auch nicht mehr lieb – ganz und gar nicht, und ich will auch nicht zu ihm, wenn ich gestorben bin – was soll ich denn dort, wo meine Mama nicht ist?“

„Gerechter Gott, was haben diese Grausamen mit ihrem sogenannten christlichen Glauben aus Dir gemacht, armes Kind!“

Die alte Dame erhob sich hastig und öffnete eine Seitenthür. Es war dem Kind, als umflatterten hier weiße Wölkchen des Himmels sein Haupt. Ueber das in einer Ecke stehende Bett, über Thüren und Fenster flossen weiße Mullvorhänge herab. Die blaßgrüne Wand des kleinen Gemachs tauchte nur in einzelnen schmalen Streifen zwischen dem wolkigen Gewebe auf… Welch’ ein Contrast zwischen diesem kleinen Raum, so frisch und makellos rein, wie der Gedanke, der aus einer gesunden, unbefleckten Seele kommt, und jenem düsteren Boudoir drunten im Vorderhause, in welchem Frau Hellwig während der frühen Morgenstunden auf dem Betstuhl kniete, auf jenem Betstuhl, dessen gestickte Polster wohl für die grausigen Marterwerkzeuge, nirgends aber für ein Symbol des Friedens und der Versöhnung Raum hatten.

Auf dem Nachttisch, neben dem Bett, lag eine große, vielgebrauchte Bibel. Die alte Dame schlug sie mit sicherer, kundiger Hand auf und las laut und tiefbewegt: „Wenn ich mit Menschen- und Engelszungen redete und hätte der Liebe nicht, so wäre ich ein tönendes Erz oder eine klingend Schelle.“ Und sie las weiter und weiter und schloß mit dem Vers: „Die Liebe hört nimmer auf, so doch die Weissagungen aufhören werden, und die Sprachen aufhören werden und das Erkenntniß aufhören wird.“

„Und diese Liebe kommt von ihm, ja, Gott ist diese Liebe selbst,“ sagte sie und legte ihren Arm um die Schultern des Kindes. „Deine Mama ist sein Kind, wie wir Alle, und sie ist eingegangen zu ihm, denn ‚die Liebe höret nimmer auf.‘ .. Ruhe sie getrost da droben, und wenn Du Nachts aufblickst zum Himmel mit seinen Millionen wundervoller Sterne, so denke Du fest und sicher: ‚Neben einem solchen Himmel giebt es keine Hölle!‘ … Und nun hast Du ihn auch wieder lieb, gelt, recht von Herzen lieb, meine kleine Fee?“

Das Kind antwortete nicht, aber es schlang leidenschaftlich beide Arme um die milde Trösterin, und ein heißer Thränenstrom stürzte aus seinen Augen. –

Zwei Tage darauf hielt ein Wagen vor dem Hellwig’schen Hause. Die Wittwe stieg ein mit ihren zwei Söhnen, um ihnen das Geleit bis zur nächsten Stadt zu geben. Johannes ging nach Bonn, um Medicin zu studiren, zuvor aber sollte er Nathanael demselben Institut übergeben, in welchem er erzogen worden war.

Heinrich stand breitspurig und behaglich in der offenen Hausthür neben Friederike und sah dem Wagen nach, der langsam und schwerfällig über das holprige Pflaster des Marktplatzes hinschwankte. Es zog etwas wie ein leiser Pfiff über seine gespitzten Lippen – bei ihm stets das Anzeichen einer wohligen Stimmung – und beide Daumen steckten fest eingeklemmt in den gewaltigen Fäusten, was der Volksmund ohngefähr in die Worte übersetzt: „Herr, behüte uns, daß das Unheil nicht wiederkehre!“

„Da können nun so ein halb Mandel Jährchen vergehen, bis wir den Einen oder den Anderen wieder in’s Haus kriegen,“ sagte er seelenvergnügt zu Friederike, die sich pflichtschuldigst mit dem Schürzenzipfel über die Augen fuhr.

„Und das ist Dir wohl ganz recht, Du Dickkopf?“ fuhr sie ihn an. „Ein schöner Dank für das Trinkgeld, das Du vom jungen Herrn gekriegt hast!“

„Geh’ in Deine Küche – auf dem Heerde liegt das Zeug noch; ich rühr’s mit keinem Finger an! Kannst Dir meinetwegen einen rothen Rock und gelbe Schuhe zum Vogelschießen dafür kaufen.“

„Ach, Du gottheilloser Mensch! … Einen rothen Rock und gelbe Schuhe, wie Eine, die auf dem Seile tanzt!“ rief die alte Köchin erbittert. „Na, es ist nur gut, daß man weiß, warum Du so wüthend bist – der junge Herr hat Dir’s heute Morgen gut gezeigt!“

„I, was Du nicht Alles weißt!“ warf der Hausknecht gleichmüthig ein. Er steckte die Hände in die Seitentaschen seines Rockes, zog die Schultern in die Höhe und pflanzte sich noch breiter auf die Schwelle als bisher. Diese Haltung empörte Friederikens Gemüth stets bis zur Leidenschaft, denn es lag die äußerste Verachtung dessen drin, was sie sagte.

„Hat der Mensch da zwanzig Thaler Lohn und höchstens fünfzig Thaler in der Sparcasse,“ fuhr sie giftig fort, „und stellt sich vor seine reiche Herrschaft hin wie der Großmogul und spricht: ‚Geben Sie mir das fremde Kind, ich bringe es bei meiner Schwester unter, es soll Ihnen keinen Heller kosten,‘ und –“

„Und da hat der junge Herr geantwortet,“ ergänzte Heinrich, indem er das Gesicht langsam der Erzürnten zuwendete: „‚das Kind ist in den besten Händen, Heinrich; es bleibt bis zu seinem achtzehnten Lebensjahre unter allen Umständen hier im Hause, und Du wirst Dich nicht unterstehen, es je zu bestärken, wenn es widerspenstig gegen meine Mutter ist, und – solltest Du einmal wieder die alte Küchenhexe draußen beim Horchen ertappen, so nagle sie ohne Gnade am Ohrläppchen auf der Thür fest.‘ Was meinst Du denn, Friederike, wenn ich jetzt –“ er hob den Arm und die alte Köchin floh schimpfend in die Küche.


10.

Neun Jahre waren an dem stattlichen Hause auf dem Marktplatz vorübergestrichen; aber weder auf die eisenfesten Mauern, noch in das Frauenprofil am wohlbekannten Fenster des Erdgeschosses hatten sie einen Zug des Verfalles zu zeichnen vermocht. … Vielleicht sahen die Drachenköpfe hoch oben am Dach für den aufmerksamen Beschauer etwas mitgenommen aus – kein Wunder, wenn auch Drachenköpfe, weinten sie doch Jahr aus, Jahr ein mit dem Himmel und gossen seine Thränenströme auf das Pflaster; nachher kam wieder die Sonne und durchglühte sie, solcher Wechsel verändert die Physiognomie. Die Frau da drunten aber stand auf dem Boden der starren Ueberzeugung, auf dem hohen Piedestal der eigenen Unfehlbarkeit – in dieser wandellosen, eisigkalten Region giebt es keinen Zweifel, keine Kämpfe, kein inneres Ringen; daher die äußere Versteinerung, die man eine gute Conservation zu nennen pflegt.

Eine auffallende Veränderung zeigte das alte Haus aber doch: die Rouleaux in der großen Erkerstube des ersten Stockes waren seit einigen Wochen stets aufgerollt, und Blumentöpfe standen auf den Fenstersimsen. Der Blick der Vorübergehenden suchte pflichtschuldigst nach wie vor zuerst das Fenster mit dem Asklepiasstock, und Frau Hellwig konnte der ehrerbietigen Grüße stets sicher sein, aber dann huschten die Augen verstohlen hinauf nach dem Erker. Dort, inmitten der steinernen Fenstereinfassung, erschien häufig ein reizendes Frauengesicht von förmlich blendender Frische, ein Kopf voll aschblonder Locken, mit blauen Taubenaugen, die fast kinderhaft groß und rund in die Welt schauten, und dieser Kopf saß auf einem blühenden Leib vom schönsten Ebenmaß, den meist ein weißes Mullkleid umhüllte. Manchmal, freilich nicht oft, erhielt das liebliche Bild im Fensterrahmen aber auch eine entstellende Zugabe – eine Kindergestalt war dann auf einen Stuhl geklettert und sah neugierig über die Schulter der Dame hinunter auf den Marktplatz; es war ein armes, durch die Scrophelkrankheit furchtbar entstelltes Köpfchen; die Hand, welche das spärliche, weißblonde Haar so sorgfältig in zierliche Ringel kräuselte, machte sich vergebliche Mühe – unter dem künstlichen Lockenbau

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verschiedene: Die Gartenlaube (1867). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1867, Seite 371. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1867)_371.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)