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verschiedene: Die Gartenlaube (1867)

Andacht kein Auge von dem in Roth und Gold erglänzenden Priester mit langherniederwallendem blonden Haar, der hinter der durchbrochenen Metallthür des Altarschreines in einer bläulichen Weihrauchwolke sichtbar war.

Aufmerksam ließ ich meine Blicke von Reihe zu Reihe der meist frischen, doch im Allgemeinen wenig schönen Gesichter streifen, und tiefes Mitleid erfaßte mich bei dem Gedanken, daß alle die Tausende von Kleinen heimathlos sind, die meisten nie Vater und Muter, niemals Elternliebe und Elternsorge gekannt haben und wenige sie jemals kennen lernen werden.

„Die armen Kinder!“ sagte ich zu dem Polizeimeister.

„Wohl arm,“ entgegnete er, „aber doch vornehm. Sehen Sie alle die Mädchen da auf den vordern Bänken, sechszehn-, siebenzehn- und achtzehnjährig, sind Waisen, indeß sämmtlich adeliger Abstammung. Bemerken Sie nicht einen gewissen Aplomb, einen gewissen Tact in ihrer Art und Haltung? Sie werden hier völlig standesgemäß, ganz so erzogen, wie es ihrem Range gebührt. Wir haben hier in unserm Hause mehr als fünfhundert Lehrer und Lehrerinnen für alle Fächer weiblicher Bildung und der Unterricht ist mindestens eben so gut, wie in den vornehmsten Erziehungspensionaten in St. Petersburg, wenn nicht besser.“

Auf einmal brauste es wie Waldesrauschen im Winde, erst in den Ecken der Kirche, dann bis zu uns nach der Mitte des Hauptschiffs herein; der Gottesdienst war beendet und die Kinder schickten sich zum Aufbruche an. In Divisionen, Regimentern, Bataillonen, Compagnien und Zügen marschirten sie Classe für Classe unter Anführung von Lehrern und Lehrerinnen an uns vorüber; zuerst die Gelben, dann die Grünen, darauf die Blauen, zuletzt die vordern Reihen der halb und ganz Erwachsenen. Stramm und mit der mechanischen Regelmäßigkeit gutgedrillter Soldaten schritten sie, die Augen rechts, in gleichmäßigem Tritte näher; kein Lachen, kein Necken, kein Drängen, nichts von Allotrien und Lustausbrüchen, wie man es, selbst bei dieser Gelegenheit, wohl an andern Kindern findet, nein alle mit einer merkwürdigen Ruhe und Gelassenheit.

Der Gouverneur eines Etablissements, wie es Wospitatelnoi-Dom mit seiner manche ansehnliche Mittelstadt hinter sich lassenden Bevölkerung ist, steht natürlich hochoben aus der Scala des vielsprossigen russischen Beamtenthums und rangirt mit den Generälen. Ich machte mich daher auf eine gewisse militärische Kürze und Barschheit gefaßt, war aber auf das Angenehmste überrascht, in dem reich uniformirten Herrn, dem ich mich vorzustellen hatte, um mir die Besichtigung der eigentlichen Anstalt zu erwirken, einen Mann von fast sanftem Wesen und gewinnendster Freundlichkeit zu finden. Mit der größten Artigkeit erhob er sich bei meinem Eintritt in sein Arbeitscabinet von dem Schreibtische, an dem er unter Papieren und Actenstößen gearbeitet hatte, ging mir entgegen und erbot sich, so wie er einen Blick in die ihm überreichten Empfehlungsbriefe geworfen, nun selbst meinen Geleiter durch das Etablissement machen zu wollen.

Zuerst führte er mich nach der Station der Säuglinge, einer langen Reihe von hellen freundlichen Zimmern. In jedem standen vierzig bis fünfzig Wiegen, die mit ihren schmucken Gazebehängen für Königskinder nicht zu schlecht gewesen wären. Achthundert bis tausend Säuglinge mit ebenso vielen Ammen ist die Durchschnittszahl, welche die Anstalt gleichzeitig enthält. An der Thür von jedem dieser Zimmer empfingen uns mit tiefen Knixen die Aufseherinnen derselben, lauter gutgekleidete, freundlich aussehende alte Frauen; die Ammen selbst stellten sich jede an der betreffenden Wiege auf und schulterten, um mich so auszudrücken, ihre Säuglinge – auch hier ging Alles in militärischer Art und Präcision vor sich.

Eine Ammenstelle in Wospitatelnoi-Dom gilt für ein Glück, das von den russischen Bauernmädchen eifrig angestrebt wird. Schönheiten freilich bemerkte ich unter den Hunderten von Ammen nicht, die sich uns präsentirten. Die Mehrzahl waren kurze, schlecht gewachsene Gestalten mit ausdruckslosen, breiten, gelben Gesichtern, alle aber nahmen sich in ihren rothen und gelben Kattunkleidern und dem nationalen bunten Kopftuche ganz respectabel und sauber aus. Bei einer Wiege blieb der Gouverneur stehen und beugte sich auf das darin liegende Kindchen nieder. Es war ein allerliebstes, dickes, frisches, schwarzhaariges Mädchen, voller Lust und Leben, welches den Gouverneur wohl zu kennen schien, denn es zappelte vor Vergnügen, als er sich näherte und die kleinen Händchen ergriff.

„Das da ist mein Pathchen. Etwa zweimalhundertausend Kinder,“ sagte er, als wir weiter schritten, „habe ich hier nach und nach aus der Taufe gehoben; davon ist freilich ein gut Theil nicht mehr am Leben, immer könnte ich jedoch mit meinen sämmtlichen Pathen eine Armee ins Feld führen, die manchen Mittelstaat in Schrecken jagen dürfte. Aber kommen Sie, der große Moment des Tages, unser Diner, naht; dabei darf ich nicht fehlen und Ihnen ist’s gewiß ein interessanter Anblick, jedenfalls kein alltäglicher, sich einmal eine Table d’hôte mit anzusehen, an welcher die Gedecke nicht nach Hunderten, sondern nach Tausenden zählen und vom sechsten bis zum sechszigsten Jahre alle Lebensalter vertreten sind.“

Wiederum Galerie auf Galerie, Corridor nach Corridor, ehe wir zur Thür des Speisesaals gelangten. Eben verkündete eine sonore Glocke den Beginn des Mittagsmahles und mit dem letzten ihrer Schläge quoll aus allen den zahllosen Zimmern und Zellen rechts und links ein Menschengewimmel hervor, als setze sich eine Völkerwanderung in Bewegung. Aber welche Ordnung in dem Gewühl! Paarweise traten die Zöglinge heraus, formirten sich, ohne daß nur eine Minute lang Hemmung und Wirrwarr entstand, in langen Colonnen und marschirten ebenso gesetzt und ruhig, wie sie aus der Kirche gezogen waren, dem für die Meisten jedenfalls wichtigsten Abschnitte ihrer Tagesordnung entgegen. Wohl las man auf den jungen Gesichtern die Aufregung der Erwartung, doch nirgends kam die Freude zu lautem Ausdruck.

Länger als eine Viertelstunde hatten wir zu warten, ehe es uns gelang, zwischen einer Section Kinder uns zum Speisesaal hindurch zu arbeiten, und noch endlos strömte es hinter uns ein. Speisesaal – was sage ich? Speisedom, so groß wie die allergrößte Kirche, leider aber so niedrig, daß mir’s anfangs wie ein Alp die Brust beklemmte. Unabsehbar dehnten sich hier Tisch an Tisch; der Raum zwischen den einzelnen Tafelreihen war nicht breiter, als es die unumgängliche Nothwendigkeit erfordert, dennoch ging auch hier Alles am Schnürchen. Von Gedränge und Unordnung war keine Spur, die Disciplin vollkommen; in wenigen Minuten hatten Alle an ihren speciellen Tischen Platz gefunden.

In der Mitte des Tafeloceans erhob sich eine Estrade, von welcher aus man den weiten Saal mit seiner Kinderwelt überschauen konnte. Dahin führte mich der Gouverneur.

„Hier ist mein Platz,“ sagte er, nachdem er mir von einer der vielen emsig hin und hereilenden Aufseherinnen einen Stuhl hatte herbeischaffen lassen. „Ich speise alle Tage inmitten meiner Kinder und nichts Anderes, als was ihnen gereicht wird. Darf ich Sie einladen, unsere Küche zu probiren?“

Das Essen ließ nichts zu wünschen übrig; es war natürlich einfach, doch kräftig und vortrefflich zubereitet, dabei mit solcher Sauberkeit, ja Gefälligkeit angerichtet und aufgetragen, daß schon das Zusehen Appetit machte. Nur daß die ganze Mahlzeit unter einem Grabesschweigen abgethan wurde, hatte etwas Unheimliches. Das schien mir der Disciplin denn doch allzuviel zu sein. Arme, arme Kleinen! mußte ich wieder denken. Wo bleibt euere wahre Kinderlust? Wo euer freies Tummeln und Bewegen, ohne die Fesseln von Zucht und Dressur?

„Wo ist der Speisesaal Ihrer Knaben?“ frug ich den Gouverneur, als er mich darauf von Tisch zu Tisch geleitete und mich dabei auf seine tüchtigsten Zöglinge aufmerksam machte. „Auch in der Kirche habe ich ja fast nur Mädchen bemerkt.“

„Der größte Theil unserer Knaben,“ ward mir zur Erwiderung, „ist augenblicklich nicht in unserer hiesigen Anstalt. Sie müssen nämlich wissen, daß wir auf dem Lande noch verschiedene recht ansehnliche Zweiginstitute und Meiereien besitzen; dort hausen jetzt die Jungen, die älteren zum Theil mit landwirthschaftlichen Arbeiten beschäftigt. Außerdem haben wir rund um Moskau und tiefer in’s Land hinein in allen Dörfern noch Ammen und Ziehmütter für unsere Kleinsten, von denen mehr als fünftausend auf diese Weise versorgt sind. Selbstverständlich vertrauen wir die Kinder nur ganz zuverlässigen Personen an und überwachen diese beständig. Auch dürfen Sie nicht denken, daß dies hier unsere einzige Table d’hôte im Hause ist; wir haben noch ein halb Dutzend Speisesäle, keinen freilich so groß wie den, wo ich präsidire.“

Von Neuem hatte ich Gelegenheit, die außerordentliche Freundlichkeit

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verschiedene: Die Gartenlaube (1867). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1867, Seite 123. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1867)_123.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)