Seite:Die Gartenlaube (1867) 086.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1867)

die er mit einem Brennglas angezündet, in seiner kindlichen eigenthümlichen Weise sein „Morgenopfer“ dar. Dort wurde er in den Dienst der Bühnenkunst eingeführt. Dort hatte man das von der Großmutter hinterlassene Puppenspiel wieder aufgestellt und zwar dergestalt, wie der Dichter selbst in Wahrheit und Dichtung und in Wilhelm Meister erzählt, „daß die Zuschauer in meinem Giebelzimmer sitzen konnten, die spielenden und dirigirenden Personen aber, sowie das Theater selbst vom Proscenium an in dem Nebenzimmer Platz und Raum fanden, wodurch bei mir das Erfindungs- und Darstellungsvermögen, die Einbildungskraft und eine gewisse Technik geübt und befördert wurden.“

So waren dem Knaben Wolfgang die Jahre 1757 und 1758 vergangen; das folgende Jahr raubte ihm das bisher innegehabte Reich seines Giebelzimmers, denn in ihm führten nun die Frankfurter Maler und Seekatz von Darmstadt für den Grafen Thorane ihre Bilder aus, durch deren Anblick und Mitgenuß sich ihm ein neues Reich, das der bildenden Kunst, erschloß. Hier auf diesem Giebelzimmer machte er die Gelegenheitsgedichte, deren Ertrag im Jahre 1762 und in den zwei folgenden des Freundes „lustige Gesellen“ verzechten, während er in Gretchen’s Umgang sich entschädigte und zu immer neuem Thun begeisterte.

Mit Gretchen nimmt die Schönheitsgalerie der Mädchen und Frauen, die den Dichter liebten, fesselten und begeisterten und denen er dafür die Unsterblichkeit des Namens verliehen hat, ihren Anfang. Gretchen beginnt den Geisterzug und schreitet als seine Muse durch die Jahre 1762 bis 1764, ja bis an das Ende seiner dreiundachtzig Lebensjahre. Dieser „Frühgeliebten“ hat er auch den vollen Glorienschein der Poesie um’s Haupt gewoben. Wir haben uns, ehe wir in dieses Haus eintraten, jenes Haus in der Weißadler- und Rosengasse angesehen, das früher sogenannte „Puppenschränkchen“ (in Frankfurter Mundart „Bobeschränkelchen“), wo Goethe an Gretchen’s Seite, dem Mädchen aus dem Volke, die ersten starken, aber unschuldigen Regungen der Liebe empfand, die zu ihm sprach: „Nicht küssen! Das ist so was Gemeines, aber lieben, wenn’s möglich ist!“ – „Meine Neigung wuchs unglaublich,“ sagt er und charakterisirt seine erste Liebe im dreizehnten Lebensjahre in den Worten: „Die ersten Liebesneigungen einer unverdorbenen Jugend nehmen durchaus eine geistige Wendung. Die Natur scheint zu wollen, daß ein Geschlecht in dem andern das Gute und Schöne sinnlich gewahr werde, und so war auch mir durch den Anblick dieses Mädchens, durch meine Neigung zu ihr eine neue Welt des Schönen und Vortrefflichen aufgegangen. Die Gestalt dieses Mädchens,“ fährt er fort, „verfolgte mich von diesem Augenblicke an auf allen Wegen und Stegen, es war der erste bleibende Eindruck, den ein weibliches Wesen auf mich gemacht hatte. – Das liebe Mädchen zu sehen und neben ihr zu sein, war nun bald eine unerläßliche Bedingung meines Lebens.“

In diese Zeit der „ersten jungen Liebe“ fiel am 3. April 1764 der feierliche Krönungstag Joseph’s des Zweiten. In der darauf folgenden Nacht wandelte er an Gretchen’s Seite „in jenen glücklichen Gefilden Elysiums“. „Von ‚Pylades‘ (seinem jungen Freunde) geleitet,“ berichtet uns der Dichter selbst, „fanden wir ein ganz artiges Speisehaus (eben jenes sogenannte Puppenschränkchen, welches bereits seit mehreren Jahren einem neuen Gebäude Platz gemacht hat), und da wir keine Gäste weiter antrafen, indem Alles auf den Straßen umherzog, ließen wir es uns um so wohler sein und verbrachten den größten Theil der Nacht im Gefühl von Freundschaft, Liebe und Neigung auf das Heiterste und Glücklichste. Als ich Gretchen bis an ihre Thür begleitet hatte, küßte sie mich auf die Stirn. Es war das erste und letzte Mal, daß sie mir diese Gunst erwies, denn leider sollte ich sie nicht wieder sehen.“

Der Verlauf dieser ersten Liebesgeschichte knüpft sich an das Giebelzimmer, denn auf dieses bannte ihn – o, der schmerzlichen Wandlung! – am folgenden Tag die ängstliche und bedrängte Mutter, nachdem sie ihm, da er noch im Bette lag, verkündet hatte, es sei herausgekommen, daß er „sehr schlechte Gesellschaft“ besucht und sich in die „gefährlichsten und schlimmsten Händel“ verwickelt habe. Der Hausfreund, Rath Schneider, vermittelte endlich glücklich; nur von Schwester und Mutter besucht, verbrachte der plötzlich sich unsäglich unglücklich fühlende Jüngling in diesem Giebelzimmer schmerzliche Tage „im Wiederkäuen seines Elends“, bis er sich allmählich und hauptsächlich dadurch wieder fand, daß er mit entsetzlicher Täuschung vernahm, Gretchen habe ihr Verhältniß als ein gänzlich unverfängliches, wahrhaft geschwisterliches dargestellt, ja den liebesiechenden Knaben „für ein Kind zu den Acten erklärt“. Da war er auf einmal geheilt.

Goethe hat, nach meiner Zusammenrechnung, zwölf Frauen geliebt; wechselnd war es bald mehr eine ideale, bald mehr eine sinnliche Neigung, die ihn entflammte, doch waltete die ideale zur Frau von Stein am längsten vor. Da hatte er Käthchen Schönkopf in Leipzig geliebt, vom Herbst 1765 bis 1769. In demselben Jahre, (1769) fesselte ihn vorübergehend Charitas Meixner, und ich habe selbst in ihrem früheren Wohnhause, der „Eulenburg“ zu Worms, auf der Fensterscheibe, die noch unversehrt ist, den von Goethe eingegrabenen Namen mit der Jahreszahl 1769 gelesen. Dann leuchtet uns vom October 1770 bis August 1771 aus der Idylle von Sesenheim Friederike Brion als das schönste und rührende Frauenbild aus dem Kreise des Dichters entgegen. In das Jahr 1771 bis Ende April 1772, vor dem Abgang nach Wetzlar, fällt einer Liebesgeschichte des Dichters mit der feurigen und reizenden Lila von Ziegler, an die er „Pilgers Morgenlied“ gedichtet hat. Sie war Hofdame der Landgräfin von Hessen-Homburg, hielt sich oft in Darmstadt auf und war eine innige Freundin von Merck und Caroline Flachsland, der Braut Herder’s. Vom Mai 1772 bis zum 11. September desselben Jahres schwärmte der vielliebende und vielgeliebte Dichter für Lotte Buff in Wetzlar, die er in „Werther’s Leiden“ mit dem unvergänglichen Zauber der Romantik mit tragischem Ausgang verherrlicht hat. Nachdem er sich einmal um jene Zeit von ihr losgerissen, schlich sich die schöne Maximiliane La Roche bereits auf der Rückreise in Coblenz in sein Herz ein, welche ihre Mutter, die trotz ihrer gefühlsseligen Zartheit in ihrem „Fräulein von Sternheim“ doch ihre Kinder „gute Partien machen“ ließ, im Januar 1774 mit dem reichen Kaufmann Brentano, einem Wittwer mit fünf unerzogenen Kindern, verheirathete. Merck schreibt: „Goethe ist bereits Hausfreund dort, spielt mit den Kindern und begleitet das Clavierspiel der jungen Frau. Daneben hat er die kleine Brentano über den sie umgebenden Oel- und Häringsgeruch und die Manieren ihres Ehemanns zu trösten.“ Goethe hat uns selbst in „Wahrheit und Dichtung“ den Wechsel seiner Liebesstimmung für Lotte Buff und Maxe Brentano in den Worten angedeutet: „Es ist eine sehr angenehme Empfindung, wenn sich eine neue Leidenschaft in uns zu regen anfängt, ehe die alte noch ganz verklungen ist. So sieht man bei untergehender Sonne gern auf der entgegengesetzten Seite den Mond aufgehen und freut sich an dem Doppelglanze der beiden Lichter.“

Ich habe Ihnen auf dem Wege zum Hirschgraben in der großen Sandgasse das hohe, alte, vornehme Giebelhaus Nummer zwölf gezeigt, wo die „Maxe“ wohnte und ihre berühmte romantische Tochter, die „Bettina“ geboren hat, die den Dichter als Enkelin der Sophie La Roche und Tochter seiner geliebten Maxe in Weimar 1808 mit einem Besuch überraschte, sich „als Kind“ geberdete, sich auf seinen Schoß setzte und eine leidenschaftliche Neigung zu Goethe faßte, ohne daß derselbe sie erwiderte, da damals in seinem Herzen eine neue Flamme für Minna Herzlieb, die Pflegetochter des Buchhändlers Frommann in Jena, entzündet worden, die er als „Ottilie“ in den Wahlverwandtschaften feierte, an die er seine Sonette mit deutlicher Bezeichnung ihres Namens richtete, denen Bettina das Zeug zu ihrem erlogenen romantischen „Briefwechsel Goethe’s mit einem Kinde“ entnahm.

Ich habe Ihnen ebenfalls das nicht weit von hier auf dem großen Kornmarkt auf der rechten Seite neben der reformirten Kirche stehende schöne dreistöckige Wohnhaus Nummer fünfzehn mit fünf Fenstern gezeigt, in welchem im December 1774 Goethe, der junge Sachwalter, der schon berühmt war, „ein Mann von großem Genie, einnehmender Liebenswürdigkeit und eigenthümlicher Originalität“, im Zimmer gleicher Erde rechts vom Eingange, dessen gegenwärtig fast beständig geschlossene Läden (das Haus ist im Besitz des Bankiers Bonn) kaum mehr noch eine Bewohnung desselben vermuthen lassen, seine Lilli oder, wie sie eigentlich heißt, Anna Elisabeth Schönemann, zum ersten Male am Piano erblickte und von ihrem talentvollen Spiele hingerissen, die ersten Eindrücke mit sich fortnahm, die später ihr geistreicher Umgang zur heißen Liebe entflammte. Und an derselben Stelle war es wieder, wo Goethe,

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1867). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1867, Seite 86. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1867)_086.jpg&oldid=- (Version vom 1.3.2017)