Seite:Die Gartenlaube (1866) 608.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1866)

Ja, man hatte mit der traurigen Arbeit hier und im Badewäldchen dermaßen geeilt, daß da noch ein Arm, dort noch ein Fuß aus der aufgeworfenen Erde starrte. Später waren jedoch die Gräber erhöht und mit grünem Rasen belegt worden. Die Königin von Hannover hatte einen ihrer Hofgärtner nach Langensalza geschickt, damit er die letzten Ruhestätten der gefallenen Krieger – gleichviel, ob Preußen oder Hannoveraner – ordne und schmücke. Einzelne freilich, welche da und dort im Felde aufgeworfen wurden, – wer mag sie nach Jahr und Tag noch finden, wenn der Pflug sie überfurcht hat?

Im Badewäldchen, wo fast jeder Baum die Spuren der Geschosse trägt, die hier wie Hagel gefallen, wurden zwei Gruben, die eine mit fünfzig, die andere mit achtzehn Todten gefüllt. Als wir aber von der Oelmühle, die von zahllosen Kugeln durchlöchert war, in die Kastanienallee einbiegen wollten, die zum Bade führt, schallte uns wieder helle Tanzmusik entgegen. „War nicht das Bad zu einem Lazarethe umgewandelt worden?“ fragten die Ulanen. „Ja wohl!“ bestätigten wir. Alle Räume lagen wochenlang voll Verwundeter. Viele haben darin ihren letzten Seufzer ausgehaucht. Kaum aber waren diese Seufzer verhallt, kaum waren die Blutflecke übertüncht, als die Stätte des Jammers mit einem solennen Ball zu einer Stätte des Vergnügens auf’s Neue eingeweiht wurde!

Uns war indeß nicht tanzlustig zu Muthe. Darum schlugen wir den Weg sofort nach Merxleben ein, wo die Hannoveraner am Tage der Schlacht ihre Hauptstärke concentrirt hatten. Das Dorf hängt, wie bereits erwähnt, malerisch an der nördlichen Abdachung eines kahlen Hügels, der, weil er das unscheinbare Kirchlein auf seinem Rücken trägt, der „Kirchberg“ heißt. Wir gingen über die Unstrutbrücken, welche die Preußen am 25. Juni trotz aller Bravour nicht zu überschreiten vermochten, und stiegen alsbald zum Kirchberg hinauf. Ein herrliches Panorama that sich vor unsern Blicken auf. Die wellenförmige Hügellandschaft, in deren Mitte Langensalza, lachte uns freundlich entgegen; gen Westen war das Bild von der Kette des Hainichwaldes, gen Norden von den Vorbergen des Harzes und gen Süden vom blauen Profil des Thüringer Waldes eingerahmt. Ein stiller Friede überschleierte das herbstliche Bild. Kaum waren irgendwo die Verheerungen des Kampfes noch sichtbar. Nur in der alten, düstern Kirche hämmerte und klopfte es. Sie wurde restaurirt, denn sie war zwei Monate lang ein Lazareth gewesen. Die Kugeln hatten das Heiligthum kaum berührt, obgleich in unmittelbarer Nähe die hannoverschen Batterien aufgefahren waren. Nur einige Granaten waren in den Thurm und in das Kirchdach eingeschlagen, ohne jedoch erheblichen Schaden zu thun. Die hannoverschen Pioniere dagegen hatten mit ihren Aexten in den geweihten Hallen nicht gar säuberlich gewirthschaftet, um das Bethaus, wenn auch nicht zu einer „Mördergrube“, doch zu einem Krankenhause zu gestalten. Die hölzernen Weibersitze lagen damals, zerhauen und zerbrochen, vor der Kirche wild und wirr umher, während auf dem Pflaster des Schiffes, wo sie gestanden, das Schmerzenslager der Verwundeten aufgeschlagen war.

Während wir vor der Kirche standen, trat ein alter Herr grüßend heran. Es war der ehrwürdige Pfarrer von Merxleben. Seine Wohnung, nahe der Kirche, war selbst ein Lazareth gewesen. Für seine eigene Familie blieb kaum ein enges Kämmerlein. Das ganze Haus wimmelte von hannoverschen Soldaten. Da und dort schlug eine Kugel ein. Dennoch war der tapfere Pastor nicht geflüchtet, sondern hatte das grausige Schauspiel der Schlacht theils aus seinem hochgelegenen Hause, theils vom Kirchthurme herab von Anfang bis zu Ende beobachtet. Er schilderte uns seine Erlebnisse und die Evolutionen des Kampfes.

„In jener Vertiefung, nördlich vom Dorfe, hielt der König mit dem Kronprinzen und seinem Gefolge,“ so begann er. „Die Kugeln mochten ihn nicht leicht erreichen; er aber, der ihr unheimliches Pfeifen hörte, scheint geglaubt zu haben, daß er mitten im Feuer stehe, und hat sich wohl darum ‚Georg der Streitbare‘ benannt, sowie er seinem Schwiegervater, dem Herzog von Altenburg, als er in Stadt Roda mit ihm zusammentraf, freudig erregt auf offener Straße zugerufen haben soll, wie herrlich und erhebend es sei, mitten im Schlachtgewühle zu stehen und die Feinde tüchtig auf’s Haupt zu schlagen. Gegen Abend, als das blutige Spiel zu Ende, kam der König auch auf den Kirchberg, wo seine Artillerie so tapfer Stand gehalten. Die Soldaten begrüßten ihn mit einem jubelnden Hurrah. Dies that ihm so wohl, daß er mit großer Freude zu verschiedenen Malen dankte.“

Jetzt zeigte ich dem Pfarrer meine Abbildung der Kirche von Döpler. Er freute sich desselben und lobte die Treue, mit der es gearbeitet sei, fügte aber lächelnd hinzu: „Wenn nur auch jener Proviantwagen in Wirklichkeit so groß gewesen, wie er auf dem Bilde steht. Der Künstler hat wohl nur der Abrundung seines Bildes wegen den Wagen so vergrößert, denn in Wirklichkeit war nur ein kleiner Handwagen mit wenigen Broden vorhanden. Leider hat es uns und insonderheit den armen Verwundeten drei Tage lang fast an Allem gefehlt, was zu des Leibes Nahrung und Nothdurft gehört. Die Hannoveraner hatten im Dorfe alle Vorräthe aufgezehrt. Fremde Zufuhren aber blieben aus; Wir hatten zuletzt nicht einmal trockenes Brod, und die da drinnen lagen, mußten es bitter erfahren, wie weh nicht blos der Schmerz der Wunden, sondern wie weh auch der Hunger thut.“

Und jetzt erzählte er, wie man gegen Abend unter Leitung des Sanitätshauptmanns von Benkefeld die ersten Verwundeten in die Kirche getragen, nachdem die Häuser des Ortes, die sich irgendwie zu Lazarethen eigneten, bereits gefüllt waren. Da lagen sie nun, die Unglücklichen, auf den kalten Steinen, dicht nebeneinander geschichtet, ohne schützende Decken und fast ohne jede Erquickung. Kaum daß ihnen ein spärliches Strohlager untergebreitet werden konnte. Wie Viele gestorben – der Pfarrer wußte es nicht. Denn in den ersten Tagen hat man die Todten unter die Erde gebracht, ohne ihm selbst irgendwelche Anzeige zu machen. Im Kirchenbuche sind nur zwölf Namen eingetragen, deren Träger ihren Wunden erlegen und von einem hannoverschen Geistlichen eingesegnet worden sind. Die Meisten, welche irgend transportabel, wurden nach Kirchheilingen übergesiedelt. Dennoch blieben in Merxleben immer noch einhundertachtundneunzig Verwundete zurück. Für Diejenigen, welche amputirt worden waren, errichtete man auf der Spitze des Kirchberges ein großes Leinwandzelt, wo sie, der dumpfen Kirchenluft entrückt, freier athmen konnten, aber auch den Unbilden der stürmischen Witterung mehr oder weniger preisgegeben waren.

Wir baten den Pfarrer, einzelne Scenen aus jenen Schreckenstagen mitzutheilen. Er aber entgegnete: „O, da könnte ich stundenlang erzählen, und würde doch nicht fertig werden! Gehen wir lieber zu den Gräbern.“

Wir gingen denn mit ihm auf den Friedhof, der sich an der Südmauer des Kirchleins hinzieht. Am obern Rand desselben dehnte sich ein langes, hochgewölbtes Rasenbeet aus, das im nächsten Frühjahr mit Blumenboskets geschmückt werden soll. Darunter lagen einhundertsiebenundachtzig Leichen, größtentheils Hannoveraner, friedlich nebeneinander gebettet. Wie sie der Pastor Müller in mondheller Mitternacht eingesegnet, während die hannoverschen Truppen, von flackernden Wachsfackeln beleuchtet, schluchzend umher standen, hat die Gartenlaube schon berichtet. Am andern Morgen wurden noch dreißig Mann, die man unterdessen beigetragen und an die Kirchhofsmauer gelehnt hatte, in dasselbe Massengrab gelegt, und noch am dritten Tage nach der Schlacht ward außerhalb der oberen Friedhofsmauer eine lange Gruft mit sechsundsiebenzig Gefallenen, Hannoveranern und Preußen, gefüllt, weil innerhalb des geweihten Raumes für diesen kolossalen Zuwachs keine Stätte mehr war. Vielen hatte man in die starre Hand ein frisches Sträußchen gedrückt.

Am unteren Ende des Gottesackers sind zwei Gräber mit Tuffsteinen eingefaßt und mit Immortellenkränzen belegt. In dem größeren schlafen zehn Officiere (darunter ein Preuße), und in dem kleineren der Hauptmann Quintus Icilius und der Lieutenant Stöhr, welche eine hannoversche Batterie commandirten, die unterhalb der Kirche stand. Eine feindliche Hohlkugel schlug auf einem der Geschütze auf und richtete, explodirend, eine entsetzliche Verwüstung an. Die genannten Officiere wurden weit hinweggeschleudert, und der Hauptmann war dermaßen zerrissen und verstümmelt, daß er kaum noch einem Menschen ähnlich sah.

Auch ein vermeintlicher Spion war außerhalb der Kirchhofsmauer eingescharrt worden. Die Hannoveraner, ohnehin erbittert, weil sie glaubten, daß aus einigen Häusern meuchlings auf sie geschossen worden, hatten seinen Leichnam vor die Wohnung des Ortsschultheißen geschleift, nachdem er eine raffinirte Strafe erduldet hatte. Man schleppte ihn nämlich, als die Schlacht entbrannte, mit rückwärts geknebelten Händen mitten in’s Feuer hinein.

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1866). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1866, Seite 608. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1866)_608.jpg&oldid=- (Version vom 12.12.2020)