Seite:Die Gartenlaube (1866) 262.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1866)

Hätte sie einen prüfenden Blick auf das Thürschloß geworfen, so würde sie bemerkt haben, daß das Anstemmen ihrer zarten Gestalt ganz unnöthig sei, denn ein mächtiger Riegel war vorgesprungen, gegen den die schwache Kraft der Wahnsinnigen nichts auszurichten vermochte.

„Wirst Du wohl aufmachen?“ tobte sie wieder drinnen. „Du durchsichtiges, zerbrechliches Ding! … Ha, ha, ha! Goldelse nennt sie der alte Brummbär, den ich hasse, wie das Gift; der Alte will durchaus nicht fromm werden, er mag zur Hölle fahren, aber ich werde selig sein, selig! … Gold-Else nennt er sie, weil sie bernsteingelbes Haar hat! Pfui, wie bist Du häßlich, Du Füchsin! … Mein Haar ist schwarz, wie ein Rabenflügel, ich bin schön, tausendmal schöner, als Du! Hörst Du das, Du Affengesicht da draußen?“

Sie schwieg erschöpft, und auch Wolf unterbrach sein Zerstörungswerk an der Schwelle.

In demselben Augenblicke zog fernes Glockengeläute durch die abendstillen Wipfel des Waldes. Elisabeth wußte, was es bedeutete. Aus den Ruinen der alten Burg Gnadeck bewegte sich eben ein Leichenzug den Berg herab. Lila’s sterbliche Ueberreste verließen das Haus, gegen dessen Mauern einst das schöne Zigeunerkind verzweifelnd die Stirn geschlagen hatte. Sie wurde durch den grünen Wald getragen, um deswillen vor zwei Jahrhunderten ihr Herz gebrochen war.

Auch Bertha schien den Glockentönen zu lauschen. Sie regte sich nicht.

„Sie läuten!“ schrie sie plötzlich. „Komm’, Wolf, wir wollen in die Kirche gehen .... Sie muß droben bleiben bei den Wolken, die werden des Nachts über sie herstürzen, der Sturm reißt an ihren Haaren und die Raben werden kommen und nach ihren Augen hacken, denn sie ist verflucht, verflucht!“

Gleich darauf begann sie das Lied wieder. Ihre schreckliche Stimme schlug grauenhaft gegen die engen Wände des Treppenhauses. Polternd lief sie hinab und trat unten aus der Thür. Sie sprang singend über den Plan, nach derselben Richtung, woher sie gekommen war, der Hund trabte nebenher. Nicht ein einziges Mal drehte sie sich um nach dem Thurm; nun sie ihn im Rücken hatte, schien sie bereits nicht mehr zu wissen, daß da droben hinter dem grauen Steingeländer der Gegenstand ihres Hasses stehe. Noch einmal tauchte ihr hochrother Rock aus dem dunkelnden Gebüsch auf, dann verschwand die Gestalt sammt ihrem schrecklichen Begleiter. Allmählich verhallte auch ihr Gesang, und bald trug die weiche Luft nur noch das Geläute zu der Einsamen auf der Thurmzinne.

Sie verließ aufathmend ihren Vertheidigungsposten, den sie mechanisch noch inne behalten hatte, und griff nach dem Thürschloß, aber der alte, eingerostete Knauf blieb so unbeweglich, wie unter Bertha’s Händen. Mit Schrecken entdeckte sie den vorgesprungenen Riegel, er hatte sie freilich wacker geschützt und vertheidigt, indeß nun hielt er sie auch gefangen. Er rührte sich nicht von der Stelle bei allen Versuchen und Anstrengungen; ermattet und muthlos ließ das junge Mädchen endlich die Hände sinken.

Was nun anfangen? Angstvoll dachte sie an ihre Eltern, die gewiß schon in diesem Augenblick sich um ihr Ausbleiben beunruhigten, denn sie hatte ja selbstverständlich der Beisetzung beiwohnen wollen.

Um sie her schaarten sich die gewaltigen Häupter des Waldes, hie und da noch rosig betupft von einem verblassenden, letzten Sonnenstrahl. Weit, weit da drüben schloß sich erst ein lichter Streifen an die dunklen Massen, dort lag L. mit seinem stolzen, hochgelegenen Schlosses dessen lange Fensterreihe eben noch einmal feurig aufblitzte und dann erlosch … Und dort thürmte sich der Berg mit den Gnadecker Ruinen, aber der Wald verbarg die traute Heimath; nicht einmal die weithin sichtbare Fahnenstange war von hier aus zu entdecken.

Die Hoffnung, gesehen zu werden, gab Elisabeth sofort auf, und ihr schwacher Hülferuf, das sagte sie sich ebenfalls, mußte ungehört verhallen, denn der Thurm lag ja so tief versteckt im Forst, keine belebte Fahrstraße führte in der Nähe vorüber, und wer betrat wohl bei hereinbrechendem Abend noch die stillen Wege, die kein anderes Ziel hatten, als den Nonnenthurm?

Trotzdem machte sie einen Versuch und schickte einen Ruf hinaus in die Lüfte. Wie schwach klang er! Es kam ihr vor, als hätten ihn schon die nächsten Baumkronen eingesogen; er hatte nur einige Raben in der Nähe aufgeschreckt, die nun krächzend über dem Haupt des jungen Mädchens wegflogen, dann war es wieder still, schaurig still. Die Lindhofer Kirchenglocken waren verstummt. Im Westen glimmte noch ein schwaches Roth, einige kleine Wölkchen zart besäumend, der Wald aber lag bereits im tiefen Abendschatten.

(Fortsetzung folgt.)




In Friedrich Rückert’s Haus.
2. Die letzten Tage des Alten in Neuseß.[1]


Neuseß! Welchem Menschen, dem das Glück einer solchen Bildung zu Theil ward, daß er in den Schöpfungen unserer großen Dichter die reinste Quelle seiner Veredelung und Erquickung findet, schlägt das Herz nicht rascher, wenn er im Gottesacker zu Weimar die Gruft betritt, in welcher die Dichter bei ihrem Fürsten ruhen, oder in Braunschweig der Stätte naht, in welcher der wahre „Nathan der Weise“ schläft, oder im Friedhof von Baireuth vor der bescheidenen Pyramide unseres edelsten Humoristen weilt, oder in Nürnberg, Bonn, Stuttgart die Gräber deutscher Bürger-Dichter und dichterischer Patrioten sucht, oder mit dem Eichenstrauß wallfahrtet zu den einsamen grünen Hügeln des Messiassängers bei Ottensen oder des Jünglings mit der Leier und dem Schwert bei Wöbbelin? Ein solcher Wallfahrtsort des Geistescultus ist nun auch Neuseß geworden.

Wir wandeln vom Coburger Bahnhof aus nach dem Dörfchen. An zur Linken steilaufragenden Hügeln hin, die mit ihren fürstlichen Parks und bürgerlichen Gärten einen gar freundlichen Anblick gewähren, führt eine schattige Fahrstraße uns in einer Viertelstunde nach Neuseß. Zur Rechten bietet der Weg den offenen Blick in das Land, dort die Stadt und die Veste Coburg, dahinter die schönen Linien der Waldhügel und dort die langen Ackerberge jenseits des weiten lebenvollen Thals, das die Pappel- und Lindenreihen der Chausseen und die Schienen und Telegraphenstangen der Eisenbahn durchziehen.

Da, wo unser Weg in die Chaussee einmündet, welche von Coburg nach Hildburghausen führt, erblicken wir jenseits derselben eine Gartenthür, dahinter einen Obst- und Gras- und dann einen Gemüse- und Blumengarten, über deren Laubdächern sich die gelben, zum Theil von üppigen Schlingpflanzen behangenen Wände eines Wohnhauses erheben, dem zur Linken sich augenscheinlich der Landwirthschaft dienende Baulichkeiten anschließen. Das war Rückert’s Besitzthum.

Wenden wir hier unsere Blicke nach den Hügeln zur Linken von der Chaussee hinauf, so sehen wir ein thurmartiges Schlößchen, das Graf Arthur Mensdorff (die Leser der Gartenlaube haben ihn als Freund Radhen Saleh’s kennen gelernt) sich als eine Erinnerung aus Spanien gebaut; der kleine Park desselben steht in Verbindung mit einer tiefen schattigen Schlucht, welche zwei fürstliche Denkmale einschließt; vor dieser Schlucht breitet eine helle, freundliche Terrasse sich aus, auf welcher eines der hellsten und

  1. Es ist über Friedrich Rückert’s Persönlichkeit, häusliche Verhältnisse, Gewohnheiten und letzte Lebenstage so viel Halbwahres, Halbverstandenes und ganz Falsches durch die deutsche Presse verbreitet worden, daß es zur Nothwendigkeit wird, dem entgegen aus der einzigen lauteren Quelle geschöpfte Nachrichten, soweit die Verehrer des Dichters im deutschen Volk gerechte Ansprüche auf solche erheben können, schon jetzt zu veröffentlichen, obwohl eine ausführliche Biographie des heimgegangenen Dichters von seinem hierzu vor Allen befähigten und berufenen Sohne Heinrich in sicherer Aussicht steht. Diese vorläufigen Mitheilungen mögen wenigstens dazu dienen, weiteren schwankenden, auf ungenaue Grundlage gestützten Berichten Einhalt zu thun und das Bild des großen Mannes vor leicht möglichen weiteren Verzerrungen zu schützen. Das Wahrste von allem bis jetzt über Rückert’s inneres und äußeren Leben Veröffentlichten haben die „Grenzboten“ (Nr. 14 und 15 d. J.) von einer dem Hause ebenfalls vertrauten Hand empfangen.
    D. V.
Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1866). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1866, Seite 262. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1866)_262.jpg&oldid=- (Version vom 23.4.2020)