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verschiedene: Die Gartenlaube (1866)

Natur auf einmal wie aus langen Fesseln befreit erschien. Chamounix wurde bald ein Wallfahrtsort aller Naturfreunde und auch die Zahl der Montblancbesteigungen mehrte sich von Jahr zu Jahr. Lange Zeit hindurch stellte das reiche Albion das stärkste Contingent, denn eine Montblancbesteigung verlangte immer noch nicht blos Muth und Ausdauer, sondern vor allen Dingen auch eine vollgespickte Börse. Noch 1849 giebt J. G. Kohl die Kosten eines solchen Unternehmens auf eintausend Franken an. Nicht minder wie der romantische Reiz wirkte bei den Engländern auch namentlich der Ruhm, der mit einer Montblancbesteigung verbunden war. Noch bis vor zehn Jahren etwa war ein solcher kühner Reisender bei seiner Rückkehr längere Zeit der Löwe des Tages in den Salons von London, und für solche Ehre wagt ein junger Gentleman schon etwas. Es kam sogar vor, wie Murray 1847 in seinem berühmten Handbuch erzählt, daß ein Engländer bei vollkommen trübem Wetter, wo nach der Erklärung der Führer durchaus nichts zu sehen war, den Gipfel erstieg, nur um sagen zu können, er sei dagewesen. Kleine Motive für große Unternehmungen sind eben bei den Engländern nicht selten: ein nicht geringer Theil der sogenannten britischen Originalität beruht darauf.

Eine entschieden heiterere und anziehendere Erscheinung, als jener im Nebel auf den Montblanc steigende Gentleman, ist ohne Zweifel die geistreiche, muntere Französin, Fräulein d’Angeville, welche häufig als die erste Montblancbesteigerin genannt wird. Dies ist nicht ganz richtig, denn schon früher wurde das Haupt des Bergriesen von einem weiblichen Fuß unter den Pantoffel gebracht, wie wir gleich sehen werden. Der Herr Herausgeber dieser Blätter äußerte mir den ganz ausdrücklichen Wunsch, den Lesern der Gartenlaube etwas Näheres über diese interessante Erscheinung mittheilen zu können. Ich habe das Mögliche gethan, um in der mir gestellten kurzen Frist dieser Aufgabe zu entsprechen. Professor Dr. Galiffe, der ausgezeichnete Genfer Geschichtsforscher, hatte auf meine Bitte die Güte, sich direct an die Dame zu wenden, und diese ihrerseits die Gefälligkeit, umgehend zu antworten. Da liegt nun dieser Brief vor mir, in dem Fräulein d’Angeville nach einigen Eingangsworten schreibt: „Indem ich Ihren Brief artikelweise beantworte, erwidere ich für’s Erste und Zweite, daß niemals ein in’s Einzelne gehender Bericht über meine Montblancbesteigung erschienen ist, wohl aber fand sich und zwar in fast allen Blättern der Schweiz und Frankreichs die Nachricht von dieser Expedition mit Lobeserhebungen über den Muth derjenigen, welche sie unternommen und glücklich vollendet hatte; denn zu jener Zeit, im September 1838, galt das für schwierig für einen Mann und unmöglich für eine Frau! … Die Einzige, welche diesen hohen Gipfel vor mir berührt hat, war eine Bäuerin aus dem Thal, Namens Marie Paradis, dreißig Jahre vor mir (1809); sie lebte noch im Jahre 1838 und erzählte mir selbst, sie habe diese Besteigung nicht mit ihren eigenen Kräften ausführen können. Auf der Hälfte des Weges habe sie sich schon sehr ermüdet gefühlt und nach Zurücklegung des zweiten Dritttheils wurde sie abwechselnd von den Führern bis zum Gipfel getragen. Mich anbelangend, so bin ich, obgleich durch eine betäubende, fast möchte ich sagen, lethargische Schlafsucht belästigt, unausgesetzt auf meinen eigenen Beinen gegangen, ohne daß mir ein einziges Mal der Gedanke beigekommen wäre, auf mein Vorhaben zu verzichten. Auf dem Gipfel angelangt, kam ich sofort wieder zu dem normalen Zustand, blieb eine Stunde oben und schrieb fünf Briefe. Im Schneeschlitten, im Laufschritt oder auch in dem von der Tageshitze erweichten Schnee fortrutschend, bin ich nach Chamounix zurückgekehrt, wo mich ein förmlicher Triumph erwartete. Keine üble Folge für meine Gesundheit hat mich meine Verwegenheit bereuen lassen, ausgenommen, daß ich acht Tage lang schmerzende Augen und das Gesicht verbrannt hatte und eine neue Haut bekam, wie die Boas.“

Das ist es, was die tapfere Dame heute, achtundzwanzig Jahre nach ihrer Heldenthat, uns mitzutheilen die Güte hatte. Murray erzählt noch, daß sie sich oben von den Führern emporheben ließ, um mit vollster Sicherheit behaupten zu können, so hoch, wie noch kein Mensch vor ihr in Europa, gewesen zu sein. Da auch dieser Engländer sich auf directe Mittheilungen von Fräulein d’Angeville stützt und dieser humoristische Zug ihrem ganzen heiteren Wesen zu entsprechen scheint, so wollen wir ihn nicht übergehen. Einen anderen interessanten Beitrag zur Charakteristik der merkwürdigen Frau liefert mir noch eine waadtländische Zeitung vom August 1863. Darin heißt es:

„Eine fünfundsechszigjährige Dame hat, von einem einzigen Führer begleitet, in zehn Stunden das Oldenhorn (9260 Fuß hoch, in den waadtländischen Alpen) vom Hotel des Diablerets aus bestiegen. Auf dem Rückweg brach bereits die Nacht an, als der Führer plötzlich gestand, den rechten Weg verloren zu haben. Die unerschrockene Reisende nahm ihren Muth zusammen und erklärte, an dem Ort, wo man sich gerade befand, den Tag erwarten zu wollen, um sich nicht unnöthiger Weise Gefahren auszusetzen. Allein der Führer entgegnete, er sei zu erhitzt, um in dieser Höhe ohne Obdach übernachten zu können. Man trennt sich also, die Dame bleibt und der Führer steigt, so gut es gehen will, zur nächsten Sennhütte hinab, eine Laterne zu holen. Endlich kehrt er mit dieser zurück und nun findet sich, daß die tapfere Sechszigerin unmittelbar an einem furchtbaren senkrechten Felsenabgrunde zwei Stunden verweilt hat. Der Rückweg wurde darauf ohne weitere Schwierigkeiten vollendet. Das Alles klingt sehr unwahrscheinlich, allein es genügt, den Namen der Dame zu nennen, um alle Zweifel zu zerstreuen: es war Fräulein d’Angeville, die kühne Montblancbesteigerin von ehemals, welche am Anfang der letzten Woche diesen ihren neuesten abenteuerlichen Plan ausgeführt hat. Sie wohnt gegenwärtig in Lausanne.“

Später hat sich die Zahl der Montblancbesteigerinnen gemehrt, und allein aus der letzten Saison 1865 werden deren vier genannt.

Die schwierigsten Aufgaben, die Auffindung einer gangbaren Straße zum Montblancgipfel und seine ersten Besteigungen, waren, wenn auch mit vielen Gefahren und Mühseligkeiten, doch ohne Unglücksfälle gelöst worden. Aber der überwundene Bergriese hat darum doch noch seine Rache genommen und später manches Opfer verlangt. Gar mancher Führer hat seine Kühnheit, oft auch seine Unvorsichtigkeit, mit dem Leben büßen müssen, mancher muthige Alpensohn liegt unter dem Schnee herabgestürzter Lawinen begraben oder seine Gebeine bleichen in unzugänglichen Schluchten. Eine der entsetzlichsten Katastrophen ist diejenige, welche sich 1820 bei einer Besteigung durch den russischen Hofrath Dr. Hamel ereignete. Am 18. August trat dieser, von zwei Engländern, J. Dornford und G. Henderson, und zwölf Führern begleitet, die Reise an. Man übernachtete an den Grands-Mulets unter einem Zelt, wo man auch den folgenden Tag wegen schlechten Wetters zubringen mußte. Der 20. August brachte wieder Sonnenschein, so daß die Reise fortgesetzt werden konnte. Kurz nach sieben Uhr Morgens erreichten die Wanderer jene drei übereinander liegenden Schneefelder, welche gewissermaßen die letzten Stufen unter dem Hauptgipfel bilden. Um acht und ein halb Uhr betraten sie das höchste und die Führer wünschten den Fremden bereits Glück, daß nun alle Gefahren überwunden seien. Es wurde ein kleines Frühstück eingenommen, dann ging es unter Scherzen und Lachen weiter bei herrlichstem Wetter. In einer Reihe hintereinander gehend, schritten die Wanderer, das Schneefeld hinan, Dr. Hamel war der Letzte. Man sprach jetzt nicht mehr, da der Luftmangel sich empfindlich fühlbar machte. Plötzlich fühlt Dr. Hamel den Schnee unter seinen Füßen weichen, der Schnee häuft sich um ihn und reißt ihn unaufhaltsam fort: Hamel glaubt sich allein von einer Schneelawine überschüttet. Es gelingt ihm, den Kopf hervorzuarbeiten, da sieht er, daß der ganze Abhang in Bewegung ist und daß er sich nahe bei einem gähnenden Felsschlund befindet. Mit Anstrengung der letzten Kräfte bringt er es dahin, festen Fuß zu fassen; er sieht auch Henderson, Dornford und drei Führer aus dem Schnee auftauchen. Er glaubt schon Alle gerettet, als auch noch Andere wieder erscheinen, und schon stoßen die Reisenden ein freudiges Hurrah aus. Aber drei Führer sind und bleiben verschwunden: Pierre Balmat, der älteste Sohn jenes P. Balmat, der sich unter Saussure’s Führern befand, Pierre Carrier, der schon elf Mal den Montblanc bestiegen hatte, und Aug. Terraz. Die Reisenden steigen in die Schlucht hinab, sie suchen überall, sie rufen die Namen: das Schweigen des Todes ist die Antwort. Alle späteren Versuche, die die Verunglückten wieder aufzufinden, waren vergebens, erst in den letzten Jahren hat man einige ihrer Ueberreste am Fuße des Bossonsgletschers entdeckt. –

Inzwischen hat auch der Montblanc selbst, der „Urzeuge der Schöpfung“, den Einfluß der fortschreitenden Cultur erfahren. Manche gähnende Abgründe haben heute durch ein festes eisernes

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