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verschiedene: Die Gartenlaube (1865)

„Die Bibel?“ sagte er mit einem Tone der Verwunderung, und fuhr dann fort: „Die Bibel ist der Grund und Text alles Unterrichts.“

Ich wollte mich nur belehren, hatte nicht die Absicht mich durch eine Diskussion stören zu lassen und antwortete dem Helfer also nicht, daß ich die Bibel mit ihren hie und da unsaubern und mit der Moral unserer Zeit in schroffem Widerspruch stehenden Geschichten nicht sehr geeignet hielt zum Handgebrauch für Kinder, zumal für solche, deren Lernbedürftigkeit und Wißbegierde auf so schmale Kost gesetzt sei, wie auf das Münsterberger Lesebuch[1] im Rauhen Hause.

An der Wand des Wohnzimmers hing ein Blatt, auf dem Bibelsprüche standen, Wochensprüche, ich glaube auch Jahressprüche, die immer und immer wieder hergesagt werden. Sprüche für diesen Zweck berechnet sind zusammengestellt in einem Büchlein, das den Titel führt: „die dreifältige Schnur“. Der Stundenplan vervollständigt die Einsicht in das Wesen des Unterrichts. Die Knaben bekommen wöchentlich neun Stunden religiösen (dogmatischen oder geschichtlichen) Unterricht; das Singen, fast lauter religiöser Lieder, muß man hinzurechnen, macht zwölf Stunden. Der Sach- und Sprachunterricht ist mit acht Stunden angesetzt, aber auch der letztere muß sich zum Theil um religiösen Stoff drehen, da die Kinder um anderen Stoff verlegen sein würden. Von Sach- und Sprachunterricht habe ich auf dem Plane für den Sommer nur zwei Stunden „Weltkunde“ gefunden und mir erläutern lassen, daß in diesen Stunden Geographie und Botanik getrieben wird. Dem Rechnen sind nur drei Stunden gewidmet; wenn die Fortschritte der Kinder darin von Angestellten des Rauhen Hauses besonders gerühmt werden, so darf man wohl annehmen, daß sie selber die Leistungen in Sach- und Sprachunterricht nicht hoch anschlagen.

Die Zöglinge sind, wie das in Bezug auf ihre Vergangenheit ohne Zweifel nothwendig ist, auch außer den Unterrichtsstunden unter steter Aufsicht. Sie sind nie sich selbst überlassen. Auch in dem übrigen Tagesleben spielt das religiöse Element noch seine Rolle. Mit einem Morgengebet beginnt um fünf Uhr früh der Tag; vor Tische wird gebetet, nach Tische desgleichen, ebenso Mittags und Abends. Am Mittwoch Nachmittag ist eine Plauderstunde unter Leitung eines Bruders anberaumt; ein Capitel aus der Bibel giebt das Material dazu her.

Von der Fischerhütte wendeten wir uns einer Reihe von Gebäuden zu, in welchen die beiden Mädchenfamilien der Rettungsanstalt untergebracht sind und sich die Unterrichtszimmer für die Knaben, Waschküchen der Gesammtanstalt und dergleichen befinden. Die Organisation der Mädchenfamilien ist ähnlich wie die der Knaben, nur leben statt der „Brüder“ „Schwestern“ mit ihnen zusammen. Ich fand die Schwestern mit ihren Zöglingen im Freien, beschäftigt, Wäsche zum Trocknen aufzuhängen. Viele der Kinder sahen ganz gesund aus und blickten unbefangen um sich her; hier und da leuchtete aus einem Paar kecker Augen freilich ein Weltsinn, von dem ich nicht zu sagen wage, wie er sich mit der religiösen Disciplin und Lehre von Inspector, Helfern, Brüdern und Schwestern verträgt.

In den Oekonomiegebäuden der Anstalt, die wir nun besichtigten, dem Backhaus der Colonie, der großen Halle mit Schneider-, Tischler-, Schuhmacher- und Schmiedewerkstätten zeugte Alles von einer trefflichen Organisation. Im nordwestlichen Winkel des Gartens steht ein stattliches Gebäude, das zu verschiedenen Zwecken dient. Im östlichen Flügel ist die Verlagsbuchhandlung des Rauhen Hauses, ein Buchhändlergeschäft en gros, das Detail- oder Sortimentsgeschäft befindet sich in der Stadt Hamburg, Hahntrapp Nummer fünf. Das Geschäft ist eilf Jahr später, als die Kinderanstalt, durch verzinsliche Capitalien, die von Freunden der Anstalt vorgeschossen wurden, begründet und hat in den einundzwanzig Jahren seines Bestehens einen außerordentlichen Umfang gewonnen. Nicht die Zahl der Verlagsartikel ist so sehr groß, aber die Anzahl der vertriebenen Exemplare muß ungeheuer sein. Die Schriften dienen bekanntlich dem Zwecke der innern Mission; wohlhabende und reiche Mitglieder der letzteren kaufen zumal die kleineren, billigen und populären Broschüren des Verlags und vertheilen sie gratis weiter; außerdem ist die Vertheilung dieser Schriften ein Hauptgeschäft der Stadt- und Landmissionäre; endlich giebt es besondere Colporteure, die mit „guten“ Schriften und „guten“ Bildern hausiren gehen. Mein Begleiter führte mich auch in diese Räume. Da lagen in Zimmern und Gängen die Verlagsartikel aufgestapelt an den Wänden zu Tausenden. In der Stube, die zugleich zum Comptoir und Laden zu dienen schien, waren auf einem Tische verschiedene Novitäten ausgebreitet: Schillingsbücher, Schriften Wichern’s, Broschüren der mecklenburger Fanatiker Kliefoth und Krabbe, wenn ich nicht irre, u. A. Der Novitätentisch ist wohl lediglich berechnet auf die Besucher der Colonie, die aus der Nähe und besonders aus der Ferne in den Sommermonaten in großer Zahl sich einfinden.

In dem mittleren Theile des Gebäudes befindet sich die Brüderanstalt des Rauhen Hauses. Hier ist sehr wenig zu sehen: Hörsäle, Wohnzimmer. Der größte Theil der Brüder wohnt ja auch in den im Garten zerstreut liegenden Familienhäusern der Knaben, oder in dem Pensionate, wovon sogleich die Rede sein wird. Dennoch ist gerade die Brüderanstalt das bemerkenswertheste Institut des Rauhen Hauses. Sie und der Verlag geben dem Hause seinen eigentlichen Charakter. In beiden prägt sich der Geist, der in den Gesammtbestrebungen waltet, am schärfsten aus; der Geist – ich kann ihn hier einstweilen nicht näher bezeichnen, als der Geist der innern Mission. Auch was die Wirksamkeit betrifft, so überragen Brüderanstalt und literarische Propaganda alles Andere weit; das Andere dient ihnen. Nur der ganz oberflächlich in die Anstalt blickende Besucher kann sich täuschen lassen und glauben, die Kinder-Rettungsanstalt sei die Hauptsache oder ein vom Ganzen abzulösendes Institut.

Mein Begleiter-Oberhelfer, der es sonst als wohlgeschulter Cicerone an erläuternden Bemerkungen nicht fehlen ließ, widmete der Brüderanstalt auch nur ein paar Worte. Ich flechte über die Organisation derselben also in der Kürze das Nöthige ein, was aus den Berichten Wichern’s und aus der bekannten Broschüre Holtzendorff’s, respective der Entgegnung des Bruders Oldenberg erhellt.

Das Wesen der Bruderanstalt des Rauhen Hauses ist mit einem Worte schwer zu definiren. Man hat sie ein Seminar für Sendboten und Jünger der innern Mission genannt; aber man erschöpft damit bei Weitem nicht ihre Bedeutung. Holtzendorf nennt sie einen protestantischen Orden (im Staatsdienst), was die Vertreter des Rauhen Hauses zu einer eifervollen Verwahrung gegen das Wort „Orden“ und zu einer sorglichen Hervorhebung der Unterschiede zwischen der Brüderanstalt und katholischen Orden veranlaßt hat. Nun, ein katholischer Orden ist die Brüderschaft allerdings nicht; Holtzendorf hat das aber auch nicht behauptet. Sagen wir, um jedem Wortstreit aus dem Wege zu gehen: die Brüderschaft ist ein Bund, ein Verein, dessen Mitglieder gelobt haben, sich ausschließlich der Arbeit der innern Mission zu widmen, oder eine Genossenschaft, die sich um das Rauhe Haus als ihren Mittelpunkt gesammelt hat, um, wie die „Ordnungen“ der Brüderschaft selber in dem Missions-Jargon sagen, „um dem Herrn in seiner evangelischen Kirche und zwar in der evangelischen Kirche Deutschlands zu dienen, damit auch durch ihren Dienst innerer Mission das Reich Gottes in unserm Volke gebaut werde in Kraft seines heiligen Namens und in Erweisung der barmherzigen Liebe, die aus dem Glauben stammt und an welcher der Herr einst die Seinen erkennen wird.“ Die Mitglieder dieses Bundes bestehen aus Hausbrüdern, Sendbrüdern und Freibrüdern. Die Ersteren sind diejenigen, welche sich im Mutterhause in Horn befinden; Ende 1863 – für 1864 ist noch kein Bericht erschienen – ungefähr vierzig; der Sendbrüder, d. h. der nach auswärts gesandten, waren zu eben dieser Zeit etwa zweihundert und sechszig; die Freibrüder bilden eigentlich eine Kategorie für sich, sie sind eine Art von Ehrenmitgliedern des Bundes, die sich angeschlossen haben, aber in ihrem bürgerlichen Berufe bleiben. Die Organisation des Bundes ist die folgende: An der Spitze der Verwaltung steht eine Section des Verwaltungsrathes des Rauhen Hauses, Vorsitzender Wichern; dies Curatorium führt die Verwaltung und Oberaufsicht über den ganzen Bund. Unter ihm besteht ein Ober-Convict, Ober-Convictmeister Wichern; die Mitglieder desselben heißen „Oberbrüder“; es leitet die Wirksamkeit des ganzen Bundes und erhält die Disciplin in demselben; ein Helferconvict, der besonders die schriftlichen Angelegenheiten der Brüderschaft besorgt, steht ihm zur Seite. Das Gros der Bundesmitglieder ist dann in Convicte getheilt; mehrere Convicte bilden einen Convent. Es giebt geschlossene Convicte, aus Brüdern bestehend, die in einer Anstalt

  1. Es ist im preußischen Seminar zu Münsterberg verfaßt.
Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1865). Ernst Keil, Leipzig 1865, Seite 650. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1865)_650.jpg&oldid=- (Version vom 22.10.2022)