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verschiedene: Die Gartenlaube (1865)

Das Rauhe Haus.[1]
Ein Charakterbild aus dem Reiche der innern Mission.
I.

Der ehemalige Candidat der Theologie, jetzige preußische Oberregierungsrath Wichern rief vor einigen dreißig Jahren den Hamburger Reichthum an zu Gunsten der armen Jugend, die in den berüchtigten Gängen und Höfen der Großstadt in leiblichem und geistigem Elend zum Laster heranreift. Sein Ruf fand Gehör, und auf Grund einer Schenkung von sechs Scheffelsaat Land und eines Legats von sechs oder sieben Tausend Thalern begann die Rettungsanstalt für verwahrloste Kinder unter Wichern’s Leitung ihre Thätigkeit. So entstand das vielbesprochene, berüchtigte und berühmte Rauhe Haus in Horn bei Hamburg.

Jedoch nur einen Antheil an der Existenz des Rauhen Hauses hat die vielbewährte Hamburgische Philanthropie. Mitgewirkt hat dabei ein anderer Factor – der positive Glaube. Ja, dieser Factor spielt für den Bestand der Anstalt heute jedenfalls die Hauptrolle. Wie Herr Wichern die Kinder retten wollte nach einer bestimmten Methode, durch eine streng religiöse Erziehung, durch die Erziehung im specifisch christlichen evangelischen Glauben, so recrutirten sich auch die Gönner und Unterstützer seines Unternehmens schon von vornherein vorzugsweise aus den Kreisen der ihm gleichgesinnten Gläubigen. Solche Gläubige hat das genußfrohe, weltlich gesinnte, dogmatischen Subtilitäten abholde Hamburg nicht gar zu viele; aber rasch wandte sich dafür auch die sympathische, hülfebereite Aufmerksamkeit der glaubenseifrigen Partei in Deutschland auf das junge Institut. Die Verbindung des Rauhen Hauses mit dieser Partei mochte die Hamburger Philanthropie stutzig machen, was that’s? – in jener Verbindung erweiterten sich die Ziele und vergrößerten sich die Mittel. Aus der Rettungsanstalt für verwahrloste Kinder wurde nach und nach ein Complex von Instituten, die sammt und sonders einer scharf markirten, nicht nur für Hamburg und Deutschland, sondern für die ganze evangelisch-christliche Welt berechneten Propaganda dienen.

Diese kosmopolitische Tendenz und Wirksamkeit der auf kleinstaatlichem Grunde erwachsenen Anstalt wird es rechtfertigen, wenn ein kosmopolitisches Journal wie die Gartenlaube Notiz von ihr nimmt und mir gestattet das Institut zu schildern.

An einem Nachmittage, zu Anfang Juli, wanderte ich nach dem Dorfe, Flecken, oder richtiger gesagt nach der Vorstadt, Horn hinaus. Ein Hügelland, die Abdachung der Geest zur Marsch, erstreckt sich von Hamburg stundenweit nach Osten. Dieser Saum, mit Häusern besetzt, bildet die Vorstadt Hamm, dem sich Horn dicht anschließt. Hat man die Hamburg zunächst gelegene Vorstadt St. Georg passirt, so führt eine Hauptstraße am Fuße jener Abdachung, eine zweite oben auf der Höhe hin; zwischen beiden Straßen an dem Hange selbst liegen die hübschen Hammer und Horner Häuser und Villen mit ihren Gärten, mitten unter ihnen, reichlich Fünfviertel Stunde von Hamburg, die Colonie des Rauhen Hauses.

Ich war die untere Straße entlang gegangen und trat durch ein offen stehendes hölzernes Pförtchen auf das von lebendigen Hecken umrahmte Gebiet der Colonie. Auf meine Mittheilung, daß Jemand da sei, der die Anstalt sehen wolle, ward mir dann ein ferner gelegenes Haus bezeichnet, wohin ich mich zu wenden habe, und ein Knabe lief vorauf, mich anzukündigen.

Nicht lange, so kam ein junger Mann, der sich mir als Führer vorstellte. Er war, wie ich nachher im Gespräche mit ihm erfuhr, ein Candidat der Theologie aus der Pfalz, einer der sechs sogenannten „Oberhelfer“, welche unter des Generals Wichern und des Vicegenerals Rhiem Leitung den theologischen Generalstab der Anstalt bilden.

Wir begannen den Rundgang mit der Capelle oder dem Betsaal. Es ist das ein größeres Gebäude, das ungefähr in der Mitte der nördlichen Front des Gartens, hart an der auf der Höhe hinlaufenden Straße, liegt. Schmale Bänke ohne Lehne stehen wohlgeordnet rechts und links in dem oblongen Raum, zu dem eine Art Vorhalle führt; in gemessenen Zwischenräumen liegt darauf je ein ziemlich abgegriffenes Buch, es ist das Gesangbuch der Zöglinge, von Bunsen zusammengestellt, vom Rauhen Hause verlegt. An den Wänden laufen Bänke hin für die Brüder; im Hintergründe sind die Plätze der Oberhelfer. In der Vorhalle finden wir neben Bildern aus der „heiligen Geschichte“ das Portrait des Dr. Sieveking, der im Jahre 1833 der Anstalt die sechs Scheffel Land schenkte, und das Portrait von Wichern’s Mutter. Mein Führer erläuterte, die Verstorbene habe sich sehr eifrig und aufopfernd der Zöglinge angenommen. Nachher erfuhr ich, daß auch noch andere Glieder der Wichern’schen Familie mit der Anstalt verknüpft sind. Seine Tochter ist an den Vorsteher des vom Rauhen Hause betriebenen Verlagsgeschäfts verheirathet; seine Schwester folgte einem Mitgliede der Brüderanstalt in’s Ausland.

Der Betsaal ist nicht nur seiner Lage nach der Mittelpunkt der Anstalt. Er ist überhaupt das Centrum, um welches sich das Leben der Colonie in strenger Regelmäßigkeit bewegt. Jeden Morgen um sieben ein halb Uhr versammelt man sich hier, um Andachtsübungen zu verrichten, die Zöglinge mit der Bibel in der Hand, auf eine Viertel-, eine halbe oder eine ganze Stunde. Abends um acht Uhr finden eben solche Andachtsübungen statt. Am Sonntag sind besondere Stunden der Erbauung im Betsaal; außerdem wird die nahgelegene Kirche in Hamm besucht. In der Advents- und Fastenzeit kommt zur Morgen- und Abendandacht noch eine Mittagsandacht.

Vom Betsaal führte mich der Oberhelfer zunächst in den westlichen Theil der Anlagen. „Hier,“ sagte er vor einem niedrigen Häuschen stehen bleibend, „hier wohnt eine unserer Knabenfamilien, das Haus heißt die ,Fischerhütte’.“ Der Name kommt von einem Wassertümpel, der nahe dabei liegt, wie denn jede der für die Knaben der Rettungsanstalt bestimmten meist in Schweizerstyl erbauten Wohnungen der bequemeren Unterscheidung halber ihren Namen hat.

Die Rettungs- oder Kinderanstalt, ursprünglich der einzige und noch heute der dem Besucher in die Augen fallendste Zweck des Rauhen Hauses, zählt gegenwärtig etwa hundert Zöglinge, zu zwei Dritttheilen Knaben, zu einem Dritttheil Mädchen, die ersteren in fünf, die letzteren in zwei Abtheilungen getheilt. Jede Abtheilung mit den ihr sich widmenden Erziehern heißt eine Familie. Die Zöglinge sind Kinder von ungefähr zehn bis sechzehn Jahren, großentheils in Hamburg zu Hause, theilweise aber auch aus andern deutschen Staaten gebürtig, Kinder, die von ihren Eltern der Anstalt übergeben, und andere, die ihr von irgend einer Commune überwiesen sind, Kinder, die vor ihrem Eintritt blos einer guten Erziehung entbehrten und in den ersten Stadien der Verwilderung standen, aber auch solche, die bereits wegen verschiedenartiger Vergehen der Polizei in die Hände gefallen waren oder gar Gefängniß- und Zuchthausstrafen verbüßt hatten. Die Anstalt nimmt die Kinder unentgeltlich auf, kleidet sie, nährt sie, unterrichtet sie, ohne daß irgend eine Zahlung dafür beansprucht würde.

Die „Fischerhütte“ wird von etwa zwölf oder vierzehn Knaben, vier Brüdern und einem Oberhelfer bewohnt. Zu ebener Erde befindet sich die gemeinsame Wohn- und Arbeitsstube, ein gemeinsames Schlafzimmer, und ein kleiner Raum zum Waschen und Ankleiden. Eine Treppe hoch unter dem kleinen Ausbau im Dach sind das Wohn- und das Schlafzimmer der Brüder und des Helfers. Am längsten verweilte ich in dem Wohnzimmer der Kinder; das Bücherbret der Knaben fesselte mich. Ich nahm ein Buch nach dem andern heraus; in jedem Fache standen dieselben Werke, und mein Führer bestätigte mir die Vermuthung, daß ich hier das gesammte Unterrichtsmaterial der Rettungsanstalt vor mir habe. Und worin bestand es? Zuerst fiel mir Luther’s kleiner Katechismus in die Hände, mit curiosen erläuternden Holzschnitten versehen, im Verlage des Rauhen Hauses erschienen. Dann kam derselbe Katechismus noch einmal, aber ohne Bilder. Ferner: das Hamburgische Gesangbnch; ferner: ein „Geistliches Gesangbüchlein“: ferner: achtzig Kirchenlieder der Regulative. Dann: „Unsere Lieder“, eine Sammlung, die im Verlag des Rauhen Hauses erschienen ist und neben religiösen auch vaterländische und andere weltliche Lieder enthält. Darauf: das Münsterberger Lesebuch. Ferner: ein neues Testament. Endlich: die Bibel.

„Auch die Bibel geben Sie den Kindern in die Hände?“ fragte ich den Helfer.

  1. Bei der Wichtigkeit dieser Brütanstalt kirchlicher und staatlicher Reaction glauben wir unsere Leser auf den vorstehenden, durchaus auf Wahrheit beruhenden und vollkommen unparteiischen Aufsatz ganz besonders aufmerksam machen zu müssen.
    D. Red.
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verschiedene: Die Gartenlaube (1865). Ernst Keil, Leipzig 1865, Seite 649. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1865)_649.jpg&oldid=- (Version vom 22.10.2022)