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verschiedene: Die Gartenlaube (1865)

schlagen Menschen und Vieh mit Krankheit, oder sie legen einem den Traalkranz, aus bunten Fäden gewebt, in das Kopfkissen, worauf der Bezauberte kein Auge zuthun kann, beständig von Kopfweh und Mattigkeit geplagt wird, so daß er hinschwindet wie der Thau an der Sonne, wenn man den Traalkranz nicht entdeckt und vergräbt.“

„Und wie erkennt man, daß Jemand ein Traal sei?“

„Es giebt dafür nur ein Mittel, aber ein unfehlbares. Luk so! Man legt dem Traal einen Besen in den Weg. Jeder ordentliche Christenmensch schreitet unbekümmert darüber weg, aber ein Traal kann das nicht: er muß ihn aufbeben und bei Seite stellen.“

„In der That?!“

„Bi’n Hinghar!“ betheuerte Haik. „Seht! mein eigner Vater – Gott hab’ ihn selig! – hatte eine Traal zur Braut. Es war ein feines, blutjunges Mädchen, aber sie hatte die Teufelskunst von der Mutter gelernt. Eines Nachts geht mein Vater nach dem Strande, um zu sehen, was die Fluth aufgeworfen hat. Unterwegs überfallen ihn die Traaler in Gestalt großer grüner Vögel und verspotten ihn. Er glaubt den schönsten Vogel an der Stimme als seine Braut zu erkennen und versetzt ihr mit seinem Messer einen scharfen Stich. ,Stoß noch einmal!’ ruft die Traal. Doch mein Vater hütete sich: der zweite Stich hätte den ersten geheilt. Am andern Tage hatte das Mädchen die Schulter verbunden und behauptete, es wäre gefallen und hätte sich schwer verletzt; mein Vater wußte es indeß besser, er ging ihr fortan aus dem Wege und freiete eine Andere.“

„Und Ihr glaubt wirklich an diese Sachen?“

„Bi’n Dönnar!“ schrie er, erstaunt die Augen aufreißend und mich mitleidig ansehend. „Ich sollte nicht glauben, was ich hundert Mal von alten klugen Leuten gehört und selber erfahren habe?! Unser Herr Pastor und der Schulmeister dünken sich zwar weiser und schelten es Aberglauben, aber sie hüten sich, in Nacht und Unwetter auf das Watt oder die Haide zu gehen.“

Unter solchen Gesprächen erreichten wir endlich Amrum. Es liegt mit Föhr auf einer großen Wattfläche, die nur hin und wieder durch schmale seichte Rinnen zerspalten ist. Täglich zwei Mal wandern die Föhringer und Amringer hinüber und herüber. Vor fünfzig Jahren konnte man zur Ebbezeit auch von Amrum nach Sylt gelangen. Beide Inseln trennte damals nur ein schmales Gat, das inzwischen zum breiten reißenden Strome geworden und die Vortraptiefe heißt. Zuweilen sollen es noch kecke Schlickläufer unternehmen, von Sylt nach dem gegenüberliegenden, vier bis fünf Meilen entfernten Festlande zu wandern, aber gewöhnlich müssen die Waghälse wegen der vielen breiten Priele umkehren, und mehrere sind schmählich ertrunken.

Die Insel Amrum hat die Gestalt eines halben Mondes, ist etwa anderthalb Meile lang und von sehr ungleicher Breite, die in der Mitte, wo sie am größten ist, fast eine halbe Meile beträgt. Auf ihr befinden sich drei Dörfer, zwei Schulen, eine Kirche und eine Windmühle. Norddorf zählt vierzig, Süddorf zwanzig und das in der Mitte gelegene Kirchdorf Nebel achtzig Häuser. Außerdem stehen noch auf Stianaad, wo sich der kleine Hafen der Insel befindet, zwei Häuser. Die Zahl der ganzen Bevölkerung beträgt etwa sechshundertundfünfzig, von denen sich jedoch viele Männer und Jünglinge meistens auswärts, das heißt auf der See befinden.

Als wir das niedrige Marschufer erreichten, stießen wir auf eine kleine Alte, die unter der Last ihrer Jahre gebückt, aber rüstig sich fortbewegte. Sie grüßte uns mit dem landesüblichen „Gud Dâi!“ und machte dann vor uns Halt, indem sie die Hände auf ihren Stock stützte und mich mit ihrem frischen rothen Gesicht und den hellen blauen Augen musterte. Sie richtete an meinen Begleiter mehrere Fragen, die dieser gegen seine Gewohnheit nur einsilbig und wie es schien mit Widerstreben beantwortete. Beide sprachen in ihrem friesischen Dialect, wovon ich leider nur wenig verstand; doch konnte ich merken, daß ihre Unterhaltung dem Fremden galt. Endlich schien sie befriedigt und humpelte weiter. Haik blickte ihr nach, und als auch sie sich nach uns zurückkehrte, schrak er sichtlich zusammen und wandte sich schnell.

„Ist die Alte eine Traal?“ fragte ich.

„Nicht doch!“ entgegnete er, „aber sie hat den Vorspuk.“

Der Vorspuk ist ein psychologisches Phänomen, das den Bewohnern abgelegener Inseln in unserm Norden beizuwohnen pflegt, und auf den Hebriden und Shetlandsinseln second sight oder Zweites Gesicht heißt. Sonntagskinder oder solche, die auf einer Glückshaut geboren sind, können gewisse Ereignisse mit allen Einzelheiten voraussehen. Man sieht die Leiche eines noch Lebenden auf dem Strohlager liegen, hört den Sarg zimmern und zunageln, den Küster singen, sieht den Leichenzug sich vom Sterbehause nach dem Gottesacker bewegen, oder erblickt statt dessen auf dem Kirchwege Feuerkugeln und hüpfende Lichter. Man sieht auf der Sandbank, genau da, wo sich später der Unglücksfall ereignet, ein Schiff mit allen Segeln und der ganzen Takelage in der Luft schweben, von einem hellen Schein umgeben. Man hört die Lieben, welche in der Fremde starben, bedeutungsvolle Worte sagen, und der Seemann, der im Sturm verunglückte, tritt in aufgezogenen wassertriefenden Stiefeln, schweren Ganges, und wäre es tausend Meilen weit, unter die Seinen. Man sieht das Haus in Flammen stehen oder gar die leergebrannte öde Stätte.

Jetzt verließ mich mein Führer. Er ging nach Nebel, woselbst sich das Postcomptoir befindet, während ich zunächst in dem vor uns liegenden Norddorf bei einem ehemaligen Schiffscapitain vorsprechen wollte, an welchen ich mir auf dem Festlande einen Empfehlungsbrief hatte geben lassen. Haik weigerte sich, ein Geldstück anzunehmen, das ich ihm für seine Führung bot.

„Nicht doch!“ sagte er. „Es ist gern geschehen und hat mir nicht die geringste Mühe gemacht.“

Solche Uneigennützigkeit und eine große Gastfreundschaft findet sich noch auf den kleinen Inseln und Halligen, selbst unter den ärmsten Leuten, aber nicht mehr auf Föhr und Sylt, wo die zahlreichen Badegäste jene Tugenden fast ganz verwischt haben.

„Nein!“ wiederholte der brave Bursche, als ich in ihn drang, die wohlverdiente Kleinigkeit doch anzunehmen. „Nein, Geld nehme ich nicht; aber wenn Ihr mir durchaus etwas schenken wollt, so gebt mir jenes Uhrband, und ich will es zum Andenken an Euch tragen.“

Es war ein einfaches Band in den schleswig-holsteinischen Landesfarben, was er jetzt dankend in Empfang nahm und mit sichtlichem Vergnügen sofort an seiner massiven dreigehäusigen Uhr, einem Erbstück seines Großvaters, befestigte. Dann wünschte er mir glückliche Reise, und ich ging in’s Dorf.




Wasserwein und Hobelspähne.

Wenn unsere leichtgläubigen Landsleute auf Zeitungsannoncen hin, wie jene des albernen pommerschen Barons, daß seine siebenzehnjährige taubgeborene Tochter nach dem Gebrauche von siebenundzwanzig Flaschen des Hoff’schen Malzextractes ihr Gehör wieder erhalten habe und zwar so vollkommen, daß sie sich zur Harfenvirtuosin ausbildet, ein paar Dutzende des Hoff’schen Laxirbieres bestellen, so erhalten diese doch wenigstens Etwas für ihr Geld. Freilich hätten sie sich den Wundersaft mit ein paar Händen voll Malz und ein paar Fingerspitzen voll von der Rhamnus frangula für ein Viertel der Summe selbst bereiten können. Dasselbe gilt vom Daubitz’schen Liqueur und anderen Schnäpsen; immer bekommen die freilich in ihren hohen Erwartungen Getäuschten wenigstens Etwas für ihr Geld. Wir wollen aber heute von einer Industrie sprechen, welche, wenn es wahr ist, daß das große Geheimniß ein guter Kaufmann zu sein darin bestehe, für viel Geld wenigst möglich zu geben, in dieser Hinsicht den Culminationspunkt erreicht hat, indem sie für sehr viel Geld gar nichts giebt.

Wir meinen jene Erfindungen, welche, wie so viele andere große und welterschütternde, gleichzeitig gemacht zu sein scheinen, die Erfindungen der Herren Wilhelm Schiller und Co. in Berlin und C. Leuchs und Co. in Nürnberg: Wein aus Wasser ohne Trauben oder sonstiges Obst und ohne Hefe darzustellen und zwar alle möglichen Sorten, laut Avertissement, den Eimer, etwa einhundertundvierzig Zollpfund, noch

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verschiedene: Die Gartenlaube (1865). Ernst Keil, Leipzig 1865, Seite 636. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1865)_636.jpg&oldid=- (Version vom 19.10.2022)