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verschiedene: Die Gartenlaube (1865)

Der König europäischen Sturmwinde.
Von Friedrich Hofmann.

Der Lloyddampfer schaukelte uns, von Venedig kommend, zwischen Grado und Pirano auf der Adria, die von einer absterbenden Maretta, wie die italienischen Schiffsleute das nördliche Nachzittern südlicher Stürme des adriatischen Meeres nennen, zu schönen langgestreckten Wogen gehoben wurde.

„Hier ist ein reizender Punkt der Erde,“ wandte der Capitain sich an die heitere Gruppe von deutschen Reisenden, die wir am Compaßhäuschen bildeten. „So oft ich auch diese Tour mache, diese Einfahrt in den Golf von Triest hat in den langen Jahren meines Dienstes für meine Augen nichts von ihrem Zauber verloren. Wie prachtvoll der Riesenkranz der cadorischen, carnischen und julischen Alpen in weiten Bogen am fernen Horizonte sich vor uns ausspannt! Sehen Sie diese zackigen, faustigen, festungsartig emportrotzenden weißschimmernden Felskolosse, und doch stehen bei uns Seeleuten zwei nähere Berge höher in Achtung: der Monte Spaccato (gespaltener Berg, von seiner Form so genannt), weil er zunächst über Triest liegt, und der Nanos des Karst, der als Thron und zugleich als Signalthurm der Bora gilt.“

Bora?“ fragten mehrere Stimmen.

„Ja,“ fuhr der Capitain fort, „dieser Nord- oder vielmehr Nordost-Sturmwind steht bei den Fischern des Golfs und den Schiffsleuten von Istrien und Dalmatien in so hohem Respect, wie bei den Fuhrleuten, die besonders zur Winterzeit über den Karst fahren müssen. Soweit das Haupt des Nanos sichtbar ist – und man sieht ihn noch vom Marcusthurm in Venedig aus, – geht in seinem ganzen südlichen Bereiche kein Schiffer in See, kein Fischer auf den Fang, kein Fuhrmann auf die Reise, ohne erst nach ihm geschaut zu haben, denn wenn er seine schimmernde Wolkenkrone trägt, so verkündigt er damit, daß er gerüstet ist, seine wilden Wetter über Land und Meer zu schleudern. Als ob der große Birnbaumer Urwald, vor dem er als südlichster höchster Wächter steht, in seinem noch unerforschten Innern die Stürme für ihn bereite, so brausen sie hinter ihm hervor und fegen über den Boden hin mit geradezu unbeschreiblicher Gewalt.“

„Es scheint,“ fiel ein Herr aus Laibach ein, „als ob von den Naturwundern Illyriens die Adelsberger Grotten und der Cirknitzer See draußen im Reich bekannter wären, als unser eisiger Samum. Mit Sand überschüttet er freilich keine Karawanen, denn längst hat er aus der Hochebene der Karst jedes Bischen Erde hinweggefegt, das nicht hinter Schutzmauern oder in den Dollinen[1] geborgen ist. Soweit die Bora ihn bestreicht, ist der Boden nichts als eine Masse auf das Säuberlichste abgeriebener Kalksteinbröckchen. So lange noch kein Schnee auf dem Gebirge liegt, kündigt die Bora sich meilenweit durch die massenhaften Staubwolken an, die sie aufwühlt und vor sich hertreibt. Aber erst im Winter beginnt ihre volle furchtbare Herrschaft, da fordert sie oft viele, viele Menschenleben.“

„Im Sommer,“ ergänzte der Capitain, „ist sie, den wahrhaften Staubregen, den sie von Optschina her über uns ergießt, abgerechnet, mehr wohlthätig, als schädlich. Wir verdanken ihr den ziemlich guten Gesundheitsstand von Triest, weil sie die schädlichen Ausdünstungen aus der Stadt vertreibt und der stets siegreiche Gegner des Sirocco ist, der alles Leben erschlafft und manche Gesundheit untergräbt. Die erfrischende Kraft der Bora zeigt sich auch im besseren Appetit der Menschen, die während ihrer Oberherrschaft im Reich der Lüfte kräftigere Nahrung vertragen und denen dann auch Austern und Ihre starken deutschen Weine und Biere nicht schaden, die außerdem Niemandem zu empfehlen sind, der in Triest gesund bleiben will.“

„Das wird aber wohl das einzige Lob sein, das die Bora verdient,“ warf der Laibacher dazwischen.

„Allerdings,“ fuhr der Capitain fort, „denn außerdem haben wir nicht blos in Triest, sondern hauptsächlich zur See viel von ihr zu leiden. An den dalmatischen Küsten und besonders im Quarnero (dem Fahrwasser zwischen den Inseln südlich von Istrien und von Fiume) zerschmettert sie jährlich manches Schiff, besonders gehen der armen kleinen Trabacoli, unserer eigentlichen Küstenhandelsschiffe, die beladen oft kaum einen Fuß Bord haben, jährlich viele zu Grunde. Das Gefährlichste, die eigentlich vernichtende Kraft der Bora, besteht in ihrer stoßweisen Wirkung. Wie der Vulcan seine Lavagarbe plötzlich hinauswirft und dann ebenso plötzlich wieder ruht, um Kraft zu sammeln, gleichsam wieder frisch zu laden für die nächste Explosion, so ist’s auch der Anprall, der Stoß, mit dem die Bora, wenn sie hinterm Nanos hervorbricht, so vernichtend wirkt; sie steht nach solchem Stoß für Augenblicke plötzlich still, ehe der zweite und dritte und so fort erfolgt, bis sie endlich auf dem Boden des Karst dahintobt, von der steilen Höhe herniederfährt, die Kronen aller Bäume bricht, die stärksten Stämme entwurzelt, durch die Straßen von Triest rast, oft ganze Dächerreihen abhebt und endlich das Meer zerpeitscht, daß es einer Riesenschüssel voll Seifenschaum gleicht.“

„Herr Capitain,“ rief da eine norddeutsche Stimme aus, „Sie machen mir angst und bange. Jetzt stehen wir schon im Spätherbst und ich kann erst in sechs Wochen von Triest weiter reisen und muß nach Laibach; da komme ich ja gerade in die schlimmste Zeit dieser schauderhaften Bora.“

„Das ist sehr wahrscheinlich,“ erwiderte richig der Capitain. „Indeß ist für Postreisende stets Vorsorge getroffen. Sobald die Borawolke des Nanos sich zeigt, begleiten jeden Postwagen zehn bis zwölf Männer mit Stangen und Stricken, und sobald die Gefahr naht, werden von der einen Hälfte der Mannschaft auf der Sturmseite die Stricke oben am Wagen befestigt und angezogen, während die andere Hälfte die Stangen ebenfalls oben am Wagen einstemmt – so geht es Schritt vor Schritt dem Orcan entgegen und in ihm vorwärts. Es geschieht freilich oft genug, daß dennoch selbst der schwerste Postwagen umgeworfen wird, aber doch selten gerade an einer so bösen Stelle, daß Wagen, Pferde und Menschen in die Abgründe stürzen.“

„Heiliger Himmel, das sind schöne Aussichten!“ rief unser Norddeutscher. Der Laibacher, dem es lange schon auf der Zunge gebräunt, ergriff nun das Wort. „Mit Vorsicht,“ sagte er, „ist auch diesen Gefahren zu entgehen, man muß nur nicht auf seinem Kopf beharren, wenn die Bewohner der Orte an der Straße, die von der Bora bestrichen wird, von der Weiterreise abmahnen.

Gegen die Bora gilt kein Trotz, das hat erst neulich wieder ein schweres Unglück bewiesen. In Planina kam eine Schwadron Husaren an, die nach Verona bestimmt war und die sogleich nach Adelsberg weiter reiten wollte. Der kaiserliche Weginspector machte dem Rittmeister pflichtschuldig die Meldung, daß seit zwei Tagen sehr starke Bora sei. Der Ort stand voll Fuhrwerk, das sich nicht weiter getraute, und Nachricht war gekommen von vielen verunglückten Geschirren und Menschen, – denn Sie müssen wissen, daß der ungeheure Verkehr auf der Straße von Wien und Laibach nach Triest und Italien durch die Bora oft wochenlang unterbrochen ist. – Bei dem Herrn Rittmeister half jedoch alles Abreden nicht. Komme Jemand einem Husaren mit Gefahr! Sie ritten, trotzdem der Weginspector flehentlich bat, so viel Menschenleben und kaiserliches Gut zu schonen, nun erst recht – und von den braven Husaren ritten die meisten in den Tod.“

„Entsetzlich!“ riefen wir Alle, und „Ja, so ist’s!“ bestätigte der Capitain.

„Die Bora,“ fuhr der Laibacher fort, „lauerte wie ein Raubthier auf ihre Beute. Und es ist eine der schlimmsten Stellen, die zwischen Planina und Adelsberg, weil die Straße links meist an tiefen Abgründen hinführt. Dort brach der Sturm über die Schwadron herein – schon der erste Stoß schleuderte Alle von den Rossen und Viele in die Tiefe. Nur Wenige, die Geistesgegenwart genug hatten, sich nach dem Sturz hinter ihre Pferde auf den Boden zu legen, oder die beim Sturz glücklich so zu liegen kamen, daß die schwere Pferdelast sie schützte und sie selbst gleichsam einen Hemmkeil bildeten, der auch dem Pferde einen festern Halt gegen die Stöße der Bora gab, – nur diese Wenigen wurden gerettet. Und das ist nur ein Beispiel, das eben Aufsehen gemacht hat, weil es kaiserliches Militär und gerade Husaren betroffen, die Jedermann besonders lieb hat. Wie viele Fuhrmannswagen werden jährlich umgeworfen und zertrümmert; wie viele Fuhrleute unter den Schneelawinen begraben, die der Sturm vom Boden ordentlich aufwirbelt und über Alles hinwälzt; wie viele

  1. Dollinen, trichterförmige Vertiefungen des Karstbodens; vergl. weiter unten.
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verschiedene: Die Gartenlaube (1865). Ernst Keil, Leipzig 1865, Seite 168. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1865)_168.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)