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verschiedene: Die Gartenlaube (1865)

Ein Agitator
(Schluß.)

Gleich nach der Revolution von 1846 fielen mehrere seiner Anhänger von Fazy ab und liefen in das von ihnen besiegte Lager der Aristokraten und Conservativen hinüber. Man nannte diese, nach dem Namen eines Verräthers des sechszehnten Jahrhunderts, die Blondels. Ihre Motive waren theils persönliche, theils solche, die in ihrem Altgenferthum beruhten, das sie durch die neue Verfassung, welche neuen Bürgern und allen Religionen Thür nur Thor öffnete, bedroht sahen. Doch war die radicale Partei so stark, daß sie diesem Abfall mit Ruhe und Hohn zusehen und sich ohne Unterbrechung volle acht Jahre halten konnte, obwohl nunmehr auf der andern Seite Aristokraten, Conservative und Blondels vereinigt waren, welche ihre eigenen Meinungsunterschiede ruhen ließen und sich wie ein Mann gegen Fazy verständigten. Im Laufe der Jahre aber bildete die Fazy’sche Verfassung selbst seine eigenen Anhänger mehr und mehr zur Unabhängigkeit, und eine große Anzahl derselben fing an, sich unbehaglich zu fühlen, je mehr Fazy’s unbeschränkter Einfluß chronisch zu werden begann. Dieser seinerseits hielt sich nach seinem temporären Sturz für noch berechtigter, als früher, da er sich mit ganz Genf überzeugte, daß man ohne ihn nicht auskommen konnte und nach kurzer Zeit auf ihn zurückkommen mußte.

Fazy stieß schon damals viele seiner treuesten Anhänger vor den Kopf; im Staatsrath wie im großen Rath führte er das Scepter, und überall gab er den Ausschlag. Dazu kam, daß er bei all dem, was wir seinen Despotismus genannt haben, im Principe sich treu blieb und die Verfassung bis zur letzten Consequenz durchführte. Die Katholiken spielten ganz dieselbe Rolle, wie die Calvinisten; die Vortheile, die sich diese, vorzugsweise betreffs großer Geldfonds, den nach dem Wiener Congreß[1] in den Canton eintretenden katholischen Gemeinden gegenüber gewahrt hatten, sollten auch den letztern zu gute kommen; dem Fremden kam man, behufs des Aufblühens der Stadt, mit Erleichterung des Niederlassungs- und Erwerbung des Bürgerrechtes entgegen. Das behagte vielen Altgenfern nicht, in denen noch der ausschließliche Municipalgeist und der Calvinist stak, trotz allem Radicalismus. Die vielen neuen und flottanten Elemente der Bevölkerung brachten ein gewisses unruhiges Leben hervor, das gegen das alte, abgemessene, steife fremdartig abstach und den Altpatrioten mit Wehmuth erfüllte, da er sein historisches Genf zu Grunde gehen sah. Das Alles war die Schuld Fazy’s, und es lösten sich nach und nach von seiner Partei aus den verschiedensten persönlichen und unpersönlichen, Gemüths- und politischen Motiven verschiedene Elemente los, die endlich mit Anfang der sechsziger Jahre eine Partei bildeten, welche damit, daß sie sich „die Unabhängigen“ nannte, ihre bisherige Abhängigkeit von Fazy eingestand. Diese Unabhängigen nannten sich auch Radicale und protestirten laut und feierlich gegen die Anschuldigung, als ob sie sich von den radicalen Grundsätzen trennen wollten – und der größte Theil dieser Partei meinte es mit solcher Protestation auch ganz ehrlich. Sie hatte für ihren Abfall den besten Moment gewählt und der Sturz Fazy’s war unvermeidlich, denn in diesem Momente hatte sich so Vieles gegen ihn gesammelt, was zu einer furchtbaren Anklage formulirt werden konnte – zu einer Anklage, die zwar in einem großen Staate zum Theil lächerlich gewesen wäre, in einem kleinen aber zu einem Verdammungsurtheile führen mußte.

Derselbe Fazy, der in Paris und Genf sein Vermögen an Zeitungen und Broschüren ausgegeben, um für seine Principien Propaganda zu machen, der dann Jahre lang in einer kleinen, dunklen Stube im Arbeiterviertel wie ein armer Arbeiter lebte und nichts genoß, als die Freuden der Agitation für seine Ideen – derselbe Fazy erinnerte sich in seinen alten Tagen des üppigen Freudenlebens seiner Jugend. Alte Bedürfnisse erwachten wieder, der Genußmensch machte sich wieder geltend, ebenso der freigebige Mensch mit der stets offenen Hand, der Jedem zu helfen bereit ist und wie ein unerfahrenes Kind von jedem Gauner, der nur gut zu klagen versteht, sich betrügen läßt. Die Republik aber zahlt schlecht und ist nicht da, um Sybariten und leichtgläubigen Menschen die nothwendigen Fonds zu liefern. Der Staat hatte Fazy ein Grundstück geschenkt, Fazy sich ein prächtiges Haus darauf erbaut, aber mit fremdem Gelde. Er hatte nichts, um die Zinsen an die Gläubiger zu bezahlen, und doch brauchte er mehr, als diese Zinsen. In den prächtigen Räumen dieses Hauses hatte sich eine ehrenwerthe Gesellschaft von Männern, eine Art Lesemuseum oder Casino, eingemiethet; diese wußte sich nicht recht zu verwalten und überließ den jahrelangen Pacht ihrem Oberkellner und Oekonomen. Dieser, einmal im Besitze des Locals, machte den berühmten Cercle des étrangers, das Spielhaus, daraus. So kam Fazy eigentlich unschuldigerweise dazu, die Spielhölle in seinem Hause zu haben, aber er wurde schuldig, als er den Pacht erneuerte. Es ist eine Verleumdung, daß er Theil am Gewinne hatte, aber er bezog achtzehntausend Francs Miethzins, und er hatte als Haupt einer Partei und als oberster Beamter des Staates nicht die gehörige Rücksicht für seine Stellung. Er hatte nicht die Kraft, die man von ihm fordern konnte, als armer Mann in einem Dachstübchen zu leben und seine und der Republik Ehre zu retten; er hatte die verbrecherische Schwäche, sich auf das Gesetz zu berufen, das gegen die geschriebenen Statuten des Spielhauses nichts einwenden konnte. Seine Freunde behaupteten, daß er in seiner Leidenschaftlichkeit das Spielhaus aus Trotz gegen seine Feinde aufrecht halte und daß diese nicht das Recht hatten, ihn anzugreifen, da in der oberen Stadt bei den Aristokraten viele solche Spielhöllen bestanden. Aber hatte Fazy auch das Recht, der moralischen Entrüstung, der öffentlichen Meinung und seiner Stellung gegenüber so zu trotzen? und gab ihm die Unsittlichkeit seiner Feinde ein Recht, selbst unsittlich zu sein, ihm, der ein großes Princip zu vertreten hatte? Nein! wie groß immer seine Geldnoth gewesen, wie wenig man ihm nach dem Buchstaben des Gesetzes anhaben konnte – sein Betragen in dieser Angelegenheit war, mild gesagt, ein unschickliches, um so mehr, als Aller Augen auf ihn gerichtet waren und als er das Staatsoberhaupt vorstellte.

Zum Spielhaus kam – um es mit einem Worte zu sagen und über eine häßliche Privatgeschichte rasch hinwegzugehen – kam eine Maitresse. Fazy ist verheirathet und heute siebenzig Jahre alt. Was in einem großen Staate oder in einer Weltstadt als reine Privalangelegenheit übersehen worden wäre, gab in der kleinen Stadt, die zum Theil noch auf sehr strenge Sittlichkeit hält, großes Aergerniß. Man konnte den Mann nicht mehr schätzen, der sich in Gesellschaft verworfener Personen gefiel – und selbst die Lächerlichkeit heftete sich an den Jünglingsgreis. Sehr folgerichtig brachte man mit diesen Verhältnissen finanzielle Verlegenheiten in Verbindung, und neben so vielen Sagen und Scandalen ging auch das Gerücht, daß Genf von Fazy’schen Wechseln überschwemmt sei. Wer kann es einer Republik oder auch einer Partei übel deuten, daß sie unter solchen Verhältnissen einen Mann fallen läßt, den sie durch so viele Jahre auf den Schild gehoben, und daß sie selbst seine früheren Verdienste vergißt? Im Ganzen und Großen ist das nur ein Zeugniß zu Gunsten der Stadt – und wird der Geschichtschreiber diesen Abfall niemals als ein Zeichen der bekannten Wandelbarkeit in Republiken anführen können.

Unter solchen Verhällnissen also nahm die Desertion in’s Independenten-Lager immer mehr überhand. Selbst Leute, welche die Thorheiten und Vergehen des alten Mannes am wenigsten mit moralischer Entrüstung erfüllten, nahmen diese zum Vorwand, um ihre persönlichen Motive zu verhüllen. Trotz alledem aber wären die Independenten noch lange nicht stark genug gewesen, um Fazy zu stürzen, wenn sie nicht von allen Seiten Bundesgenossen bekommen hätten, die im Grunde nicht das Geringste mit ihnen gemein hatten. Seit der Revolution von 1846 bilden Aristokraten und Conservative eine so eng zusammenhaltende Partei, daß man es heute ganz vergessen, wie sie sich vor jener Revolution als patrizisches und bürgerliches Element feindlich gegenüber standen. Trotz ihrer engen Verbindung bildeten sie aber eine so unendlich kleine Minorität, daß es ihnen bei zehn Wahlen kaum gelang, eine entsprechende Minorität in den großen Rath zu bringen. Sie waren todt, sie zählten nicht, trotz aller Mühe, die sie bei jeder Wahl erneuerten, auf die von ihnen als den beinahe ausschließlichen Grundeigenthümern abhängigen Fermiers oder Pächter Einfluß zu üben. Sie waren bereit, sich jeder Partei anzuschließen, die sich gegen Fazy bilden würde.

Die Bildung der „Ficelle“ oder der Independenten war ihnen

  1. WS: Vorlage Congroß
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verschiedene: Die Gartenlaube (1865). Ernst Keil, Leipzig 1865, Seite 102. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1865)_102.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)