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verschiedene: Die Gartenlaube (1864)

fremden Gaste auf den Teller warf, seine von Bratenfett triefenden Hände am Tischtuch abwischte und ähnliche Kurzweil trieb, die, anfangs mehrfach belacht und dadurch unterstützt, zuletzt doch alle Schranken des Zulässigen so sehr überschritt, daß der Schulrath genöthigt war, seine väterliche Autorität geltend zu machen. Aber selbst diese brachte es zu nichts weiter, als zu leeren Drohungen, die denn auch ziemlich wirkungslos verhallten.

Ich hatte dann nach Tische und bei späteren Anlässen noch öfters Gelegenheit, diese schlimme Elternkrankheit näher kennen zu lernen, und konnte es dem klugen, aber verzogenen Kinde nicht gerade verdenken, daß es sich durch derlei Drohungen nicht einschüchtern ließ, sich das Papier zu seinem Spielzeug, statt aus dem Papierkorb, lieber von dem Arbeitstisch des Vaters holte, den ihm mit dem Stocke drohenden Papa durch seine entgegengesetzte Drohung, ihm dann den Stock zu zerbrechen, zum Lachen brachte und die Ruthe hinter dem Spiegel vollends wenig respectirte, weil sie meist nur hinter dem Spiegel oder als Demonstration in der Hand des Vaters oder der Mutter blieb, ohne je mit dem Rücken des Kindes in allzunahe Berührung zu kommen.

Ich lernte daraus, daß in der Pädagogik, wie in der Politik, das viele Drohen eben so wenig taugt, als das viele Verbieten, da beides den Eigensinn und die Lust am Verbotenen methodisch groß zieht. Darum hüte man sich, einen Wald voll verbotener Früchte um das Kind zu pflanzen, man entziehe es vielmehr so viel wie möglich der Versuchung; dagegen bestehe man mit ruhiger, aber unerbittlicher Strenge auf Gehorsam im Betreff des wirklich Verbotenen. Jeder Drohung folge im Nichtbeachtungsfalle unnachsichtlich die Strafe, und zwar ohne lange Strafpredigten, die gleichfalls in das Capitel der Elternkrankheiten gehören. Die rechte Elternliebe beweist sich eben in jener Selbstüberwindung des schwachen Vater- oder Mutterherzens, das nur zu geneigt ist, sich durch Bitten, Thränen und Geschrei entwaffnen, oder im Interesse der Ruhe um jeden Preis zu einer Nachgiebigkeit verleiten zu lassen, die Niemand sichrer zu bemerken und schlauer auszubeuten versteht, als ein kluges Kind. Auf diese Weise wird recht systematisch jener Eigensinn gezeitigt, der keineswegs, wie viele verblendete Eltern sich einzureden lieben, ein Zeichen von Charakterstärke, sondern blos von Selbstsucht und Egoismus ist, dem es an der zügelnden Schranke der Zucht, des Gehorsams und der Selbstüberwindung fehlt.

So wie der Eigensinn als eine der verbreitetsten Kinderkrankheiten namentlich durch Schuld der Eltern und ihrer verkehrten Erziehung sich in vielen Kinderstuben zeigt, so begegnen wir daselbst häufig auch einer andern, nicht minder verhängnißvollen, ja, in ihren Folgen und Wirkungen noch weit verderblicheren: der Lüge, und auch hier trifft Eltern und Erzieher oft ein noch viel begründeterer Vorwurf, als das Kind selbst. Jede Lüge, als bewußte und vorsätzliche Verleugnung der Wahrheit, ist zunächst immer ein Kind der Noth und das Capitel der Nothlügen darum ein unbegrenztes. Die Noth, die zur Lüge führt, wird dem Kinde aber nur allzu oft gerade von Denen bereitet, die den Beruf hätten, es davor zu bewahren. Das Erstere geschieht, wenn sie durch ihr eigenes, unbewachtes Beispiel in Wort und That, so wie durch eine Menge unüberlegter, unpädagogischer Verbote, Vorstellungen in dem Kinde wach rufen, welche bei eintretender Versuchung die Lust ihr zu folgen erregen. Eltern, die sich in Gegenwart des Kindes keinen Zwang anthun, ja vielleicht regelmäßig manchen guten Bissen genießen, der dem Kinde versagt ist, dürfen sich nicht wundern, wenn dadurch in diesem ein Keim der bösen Lust gepflanzt wird, die bei vorkommender Gelegenheit den verbotenen Genuß in ganz anderer Weise zum Gegenstande ihrer Uebertretung macht, als die kleine Hedwig, welche einmal ihrer mir befreundeten Mutter die offene Zuckerdose unter Thränen brachte, mit der Bitte, sie zu verschließen, und auf die ernste Frage der Mutter: „Hast Du daraus genascht?“ mit rührender Treuherzigkeit antwortete: „Nein, aber ich habe gewollt!“

Das „führe uns nicht in Versuchung!“ des Vaterunsers sollten sich daher auch in dieser Beziehung alle Eltern und Erzieher recht angelegentlich zur Pflicht machen. Nicht, als ob damit dem Kinde jede Versuchung überhaupt erspart bleiben solle; dafür sorgt schon das Leben hinlänglich, und ohne Kampf und Sieg auch keine Tugend; wohl aber ist es die Pflicht der Eltern, das Kind nicht muthwillig Versuchungen auszusetzen, ehe noch die Kraft des Widerstandes in ihm genährt und gepflegt worden ist. Gesellt sich dann bei dem Erliegen zu dem Gefühl der Schuld und Uebertretung auch noch die durch Erfahrung mehr oder weniger begründete Furcht vor der Strafe, so ist im Betretungsfalle der kleine Nothlügner fertig, der dann nur zu leicht zum Gewohnheitslügner werden kann. Die rechte Liebe, die das Vertrauen im Kinde weckt und nährt und bei allem Ernst jede sonstige Uebertretung mit Milde, dagegen jede wirkliche Lüge mit unnachsichtlicher Strenge straft, dürfte auch hier die sicherste Schutzwehr dagegen sein. Ich sage absichtlich: jede wirkliche Lüge, denn meine Erfahrung hat mich gelehrt, daß bei besonders lebhaften, phantasievollen Kindern sich häufig ein halb unbewußtes Verleugnen der Wahrheit findet, das der Lüge ziemlich ähnlich sieht, aber doch keineswegs als solche betrachtet werden kann. Es besteht vielmehr in jenem unwillkürlichen Vermischen von Dichtung und Wahrheit, in jener „Lust zu fabuliren“, die bekanntlich schon der deutsche Altmeister Goethe von seiner Mutter, der Frau Rath, die darin selbst ziemlich stark war, geerbt hat. So hatte auch ich vor einiger Zeit einen Knaben in Erziehung, der mit dieser Gabe in hohem Grade bedacht war. So oft er irgendwo zum Besuch gewesen, wußte er seinen Cameraden mit der ernsthaftesten Miene Dinge zu erzählen, die er alle gesehen und erfahren haben wollte, welche aber für jeden Unbefangenen so ziemlich das Gepräge der Aufschneiderei an sich trugen. Mir erschien die Sache nicht ganz unbedenklich, aber ich überzeugte mich, daß es wirklich nur ein Uebermaß von dichterischer Phantasie war, welches den Knaben bei seinen naiven Erzählungen unwillkürlich mit sich fortriß. Er liebte überhaupt die Hyperbeln und die Superlative, sah leicht auf gut Don Quixotisch eine Windmühle für einen Riesen an und trug durchaus kein Bedenken, einige harmlose Reiter, die ihm auf dem Wege begegnet, in ein Regiment Husaren zu verwandeln. Ich hielt darum für’s Beste, ihn bei seinen Erzählungen so viel als möglich im Auge zu behalten und mit aller Ruhe jede unterlaufende Dichtung in Wahrheit umzusetzen und auf ihr richtiges Maß zurückzuführen, ohne ihm weiter Vorwürfe über seine hyperbolische Ausdrucksweise zu machen. Das ließ sich denn der Knabe – der beste Beweis, daß es ihm nicht eigentlich um’s Lügen zu thun war – auch ruhig gefallen, und als so verschiedene Male durch mich der Gellert’sche oder vielmehr der Fritz’sche große Hund, ohne Anwendung der Brücke, von Pferd und Kuh und Kalb zum gewöhnlichen Hunde reducirt worden war, verlor sich allmählich jener poetische Lügenansatz ohne Nachtheil für die poetische Begabung, welche sich später zu meiner Freude auf’s Glücklichste geltend machte und der Pflege nicht unwerth erschien. Ein strenges und plumpes Zufahren hätte hier leicht verschüchternd oder erbitternd gewirkt und weit mehr Schaden angerichtet, als verhütet; ein völliges Ignoriren dagegen die Lust und Gewohnheit „zu fabuliren“ leicht zum Hang für wissentliche und vorsätzliche Wahrheitsverletzung, also – zur Lüge steigern können.




Ein Besuch bei Garibaldi auf Caprera.
Von Moritz Wiggers.
(Schluß.)

Auf dem Wege zum Eßzimmer hatten wir wieder die Küche zu passiren. Hier hatte sich die Gesellschaft des Hauses aufgestellt, um den General zu erwarten. Unter derselben befanden sich auch die beiden jungen Sgaralinos, welche ihm dort vorgestellt wurden. Wir gingen darauf zusammen in’s Eßzimmer, wo ein Tisch für etwa sechszehn Personen gedeckt stand. Der General setzte sich an das eine Ende desselben. Rechts von ihm nahmen seine beiden Söhne Platz, links von ihm der Dr. Giuseppe Guerzoni, ich und mein Freund, der Maschinist. Zu den eingeladenen Fremden gehörten noch die beiden Sgaralinos. Außerdem bestanden die Tischgenossen aus dem Major Basso, einem Calabreser, Namens Aquilo Barsani, und einigen Anderen, deren Namen ich nicht kannte.

Die tiefe Ehrfurcht, welche dem General von allen Seiten

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verschiedene: Die Gartenlaube (1864). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1864, Seite 249. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1864)_249.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)