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verschiedene: Die Gartenlaube (1864)

gerichtet. Nur an überwiesenen Verbrechern wird das Urtheil vollstreckt. Doch passen Sie jetzt auf, wir haben wichtigere Dinge zu verhandeln.“

Nachdem er mehrere Papiere aus seinem Portefeuille genommen, fuhr er fort: „Morgenden Tages, und zwar so zeitig wie möglich, lassen Sie sich nochmals bei Ihrem Gläubiger melden. Der Portier wird wahrscheinlich Auftrag haben, Sie nicht noch einmal vorzulassen; für diesen Fall zeigen Sie das Papier hier vor, und jede Weigerung wird aufhören. Sie werden vorkommen und mahnen den betreffenden Herrn nochmals an seine Verbindlichkeit. Macht derselbe abermals Ausflüchte und befriedigt Sie nicht bis zu Heller und Pfennig, so weisen Sie dieses zweite Papier vor und Sie werden sichere Wechsel, lautend auf Sicht an ein Breslauer Haus, erhalten. Dann aber sputen Sie sich, Warschau mit dem nächsten Zuge zu verlassen; denn wir Polen wissen nicht, was der morgende Tag über uns verhängt. Sollten Sie unterwegs von den Unsrigen behelligt werden, was ich für die nächsten Tage nicht glaube, alsdann zeigen Sie dieses dritte Papier vor, und man wird Sie ruhig Ihre Reise fortsetzen lassen. – Wie angenehm es mir gewesen wäre,“ schloß der Pole seine Ansprache, „ein paar Stündlein mit Ihnen zu verplaudern, so gestatten dies doch meine Geschäfte nicht. Reisen Sie mit Gott! Vielleicht, daß wir uns unter freundlichern Sternen noch einmal in diesem Leben begegnen.“ Und ehe der überraschte Alfred seinen Dank zu stammeln vermochte, hielt er die drei Papiere in der Hand, und Stanislaus war verschwunden.

Die nächstfolgende Nacht war eine der unruhvollsten in dem Leben unsers Landsmannes. Das Erlebte war ihm so fabelhaft, daß er wiederholt die mit polnischen Schriftzügen bedeckten Papiere besichtigen mußte, um sich zu überzeugen, daß er nicht träume. Der Gedanke, daß er es mit einem Mitgliede oder doch sehr einflußreichen Agenten der geheimen polnischen Nationalregierung zu thun gehabt, erfüllte ihn fast mit Schauer. Nichtsdestoweniger beschloß er in seiner geängsteten Lage, von der Gelegenheit, die ihm das Schicksal auf so wunderbare Weise geboten, Gebrauch zu machen, obschon er die Zweifel an einen glücklichen Erfolg nicht zu unterdrücken vermochte.

Bereits in den ersten Vormittagsstunden des folgenden Tags begab er sich, dem erhaltenen Rathe zufolge, abermals nach der Wohnung des Schuldners. Wie Stanislaus vorausgesagt, ward Alfred von dem Portier mit dem Bescheide kurz abgefertigt, daß der Herr verreist sei. Da machte unser Landsmann von dem ersten für den Portier bestimmten Papier Gebrauch, und, wie im Hotel, trat auch hier die merkwürdigste Wandlung ein. Aus der gravitätischen, vornehm herabschauenden Persönlichkeit ward plötzlich der höflichste Mensch. Er geleitete mit großer Zuvorkommenheit den Deutschen selbst nach dem Empfangzimmer und beeilte sich, den Hausherrn von dem Besuche in Kenntniß zu setzen.

Der Talisman, welcher dem Deutschen auf so räthselhafte Weise den Eintritt verschafft hatte, schien auch auf seinen Schuldner nicht ohne Einfluß geblieben zu sein. Alfred brauchte nur wenige Minuten zu warten, bis der Herr vom Hause erschien. Derselbe bemühte sich vergeblich, seine an Bestürzung grenzende Ueberraschung durch die ausgesuchteste Höflichkeit zu verdecken. Er gestand, daß es der Wunsch seines Herzens sei, mit dem schlesischen Hause in möglichst gutem Einvernehmen zu verbleiben, und nur die äußerste Noth habe ihn gestern gedrängt, ein Gebot zu thun, das ihm selbst nur zu wehe gethan; um aber wenigstens seinen guten Willen zu zeigen, wolle er die angebotene Summe um das Doppelte erhöhen.

Als Alfred hierauf nicht einging und auf vollständiger Befriedigung beharrte, legte sich der Pole aufs Bitten um Nachsicht und Gestundung. Es schien ihm Alles darum zu thun, mit seinem Gläubiger in Güte aus einander zu kommen.

Der Deutsche erwiderte, „daß man, was Nachsicht und Gestundung anlange, dieselbe bereits seit vier Wochen hinlänglich an den Tag gelegt habe und dadurch ebenso in Sorge, wie in Verlust gerathen sei.“

Der Schuldner erhöhte die Summe nochmals, und als Alfred auch hierauf nicht einging, stand Ersterer auf und erwiderte mit kälterem Tone: „Mein letztes Gebot gedenke ich verantworten zu können, gegen wen es immer sei. Sind Sie damit nicht einverstanden, so thut es mir leid; aber mehr zu bewilligen, liegt vollkommen außerhalb des Bereiches meiner Kräfte.“

Da Alfred erkannte, daß der Pole zu dem Punkte gekommen, wo seine Nachgiebigkeit die Grenze erreicht und weitere Debatten überflüssig wurden, zog er das zweite Papier aus der Brusttasche und überreichte es schweigend. Kaum hatte der Pole einen Blick auf das verhängnißvolle Papier geworfen, als eine auffallende Blässe sein Gesicht überzog. Er sprang auf und ging, wie mit einem Entschlusse kämpfend, wiederholt das Zimmer auf und ab.

Endlich blieb er vor Alfred stehen und sagte: „Sie sollen Ihr Geld haben und sollte es mich den Ruin meines Hauses kosten; aber ich bringe dieses Opfer im Interesse meines Volks und meines Vaterlandes. Wollen Sie gefälligst Quittung leisten. Hier stehen Papier und Schreibmaterial. Binnen Kurzem bin ich wieder bei Ihnen.“

Alfred schrieb im Namen seines Hauses die Quittung und zwar über die ganze Forderung, deren vollen Betrag in guten Wechseln er nach wenig Minuten in seiner Hand hielt.

Wer war glücklicher als unser Landsmann? Ohne sich in weitere Unterhaltung mit dem sehr wortkarg gewordnen Polen einzulassen, eilte er nach seinem Hotel, um seinen Retter aufzusuchen und ihm dankend um den Hals zu fallen. Aber Stanislaus war nirgends aufzufinden, noch sonst zu erfragen. So blieb ihm nichts übrig, als ein paar Dankeszeilen auf das Papier zu werfen, die er dem Wirthe zu eigenhändiger Ueberantwortung anvertraute. Zugleich bat er inständigst um den wahren Namen seines Wohlthäters, welchen dieser nie Alfred mitgetheilt hatte. Man nannte ihn, und sorgfältig notirte er denselben in seine Brieftasche, um von Hause aus noch ausführlicher seinen Dank auszusprechen.

Bereits nach wenigen Stunden lag die alte Polenhauptstadt weit hinter ihm. Er erreichte glücklich die deutsche Grenze, ohne auf Insurgentenhaufen gestoßen zu sein. So bedurfte er des dritten Papieres nicht, das er aber zum Andenken noch heute heilig und theuer aufbewahrt. In Breslau wurden die Wechsel auf das Prompteste honorirt.

Das Erste, was Alfred in der Heimath vornahm, war, daß er sich hinsetzte und in einem herzlichen Schreiben seinen Dank nochmals aussprach. Der Brief aber kam nach Verlauf weniger Tage mit der Bemerkung des Warschauer Postamtes zurück: „Adressat hier unbekannt“. Der Brief war unerbrochen, da Alfred als Absender die Firma seines Hauses bezeichnet hatte.

Als Alfred seinem Vater bei einem Glase Punsch sein Abenteuer und dessen glücklichen Erfolg ausführlicher mittheilte, stieß Letzterer auf das Freudigste mit seinem Sohne an und rief wiederholt: „Du bist ein Glückskind, wie ich das schon mehrmals in Deinem Leben zu beobachten Gelegenheit gehabt habe. Trotzdem,“ fügte er hinzu, „wollen wir mit den Herren Polen künftig etwas vorsichtiger zu Werke gehen, da nicht immer die polnische Nationalregierung die Gefälligkeit haben dürfte, wohlthätig einzuschreiten.“ – In der That möchte wohl auch der Fall, daß jene geheime Behörde einem Deutschen zu seinem Eigenthume verhelfen, sehr vereinzelt dastehen.




Das Löschen – eine brennende Frage.

Der Gemeinsinn, jener Grundpfeiler einer tüchtigen Selbstregierung, jener Prüfstein freiwilliger Aufopferung, gegenüber dem vornehmen Zurückziehen, der Faulheit und Gleichgültigkeit, wenn es sich darum handelt, das liebe eigene Ich im Dienste der Gemeinde wie des Vaterlandes zu bethätigen, dieser Gemeinsinn hat unstreitig in neuerer Zeit in unserem Volke mächtig Wurzel geschlagen und treffliche Erfolge zu Tage gefördert.

Ohne regen Gemeinsinn kein blühendes Gemeindewesen, und ohne dieses kein starkes, kräftiges Vaterland. Nichts ist daher wohl wichtiger, als allerwegen die Lust und Liebe am allgemeinen Thun anzuregen und zu fördern; denn dadurch wird das Volk zu derjenigen Selbstständigkeit erzogen, deren es bedarf, um mit Muth und Ausdauer der sich gestaltenden neuen Zeit entgegenzugehen und an dieser Neugestaltung selbst den so überaus nöthigen eigenen Antheil zu nehmen.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1864). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1864, Seite 154. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1864)_154.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)