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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863)

Börse und die in Schildpatt gefaßte Notiztafel, das Brillenetui und den silbernen Fingerhut und was sie sonst noch Nehmenswertes bei sich trägt, entführt. Es ist dies eine Methode, die selten ihr Ziel verfehlt. Obschon die „Haken“ – so nennt der Londoner Gauner die durchtriebenen kleinen Pseudoboten – Tag für Tag die Londoner Straßen unsicher machen und kaum eine Woche vergeht, daß nicht einer und der andere ertappt wird: die menschliche Gutmüthigkeit ist, glücklicher Weise, viel zu ausgiebig und unverwüstlich, um sich nicht immer wieder dupiren zu lassen.

Wenn man weiß, daß in London tagtäglich an anderthalbtausend „Omnibus“ circuliren, von denen nur wenige ihre Außen- und Innensitze nicht vollzählig besetzt haben, so wird man ermessen können, welche herrliche Operationsbasis der Londoner Langfingerarmee damit gegeben ist, um so mehr, als es nicht zu den Seltenheiten gehört, daß die Conducteure als deckende Außenposten der Plänkler oder Plänklerinnen agiren. Denn der Omnibus ist ebenso wie der Schauladen das recht eigentliche Terrain für die Heldenthaten der weiblichen Taschenspielerei. Gewöhnlich wird indeß der Raub nicht während der Fahrt oder im Wagen selbst, sondern erst dann vollbracht, wenn das in der Regel schon vorher in’s Auge gefaßte und gehörig ausgetastete Opfer aussteigen will, und derart, daß Drei der noblen Sippschaft einträchtig zusammenwirken, meistens zwei Frauen und ein Mann. Sowie das aufgetriebene Wild sich anschickt, den Omnibus zu verlassen, erhebt sich eine der Ersteren gleichfalls von ihrem Sitze und sucht dem Aussteigenden den Weg zu verlegen, indem sie plötzlich durch das Thürfenster auf die Straße zu blicken oder an den auf dem Tritte stehenden Conducteur eine eilige Frage zu richten hat oder über die Füße der Nebensitzenden stolpert und so dem Wire den nötigen Spielraum bereitet. Ist der Streich geglückt, so erfolgt das verabredete Zeichen und der Bearbeitete erhält freie Passage. Inzwischen ist Uhr oder Beutel der zweiten Gehülfin zugesteckt worden, die bei dem allerersten schicklichen Haltepunkte das Weite gewinnt, während die beiden Andern noch ruhig eine Strecke lang mitfahren; denn selbst in dem unwahrscheinlichen Falle, daß der Ausgebeutelte seinen Verlust mittlerweile entdeckt haben und seine Omnibusgenossen beargwohnen sollte, fühlen sie sich ja sicher, da nichts bei ihnen gefunden werden kann. Die Zahl der bei dieser Gelegenheit verübten Gaunereien ist enorm, und beinahe alle geschehen auf die gleiche Weise; dennoch wird das Publicum nicht gewitzigt und läuft immer von Neuem in das Garn.

Eines der fruchtbringendsten Tummelgefilde haben die Eisenbahnen dem Londoner Pickpocket erschlossen, und ein so ausgedehntes, gewissermaßen schrankenloses, daß wir seiner Vielseitigkeit auf demselben nur sehr oberflächlich und im Allgemeinen folgen können. Waggon und Perron, Wartesaal und Restaurationszimmer, Passagiere und Bahnbeamte – Alles wird ihm tributpflichtig. Ganze Familien, Männer und Frauen, Söhne und Töchter bis auf den jüngsten verheißungsvollen Sprossen hinab, widmen Thätigkeit und Talente einzig und allein der Eisenbahn und leben lediglich und ohne zu darben von dem Raube, welchen die Segenspenderin ihnen in die Hände liefert. Auch hier gilt wieder die alte Norm der Arbeitstheilung: der Eisenbahndieb versucht seine Kunstfertigkeit nie auf anderem Gebiete und bildet mithin in dem erkornen Gewerbszweige sein Geschick zu jener Vollkommenheit aus, welche die englische Industrie überhaupt charakterisirt. Der Londoner Gauner ist ein trefflicher Nationalökonom. Sein Princip heißt: keine Zersplitterung der Kräfte und Association, und er weiß, wie gut er dabei gedeiht.

Keine Strecke ist dem Eisenbahnlangfinger zu weit. Unverdrossen dampft er bis Aberdeen und Glasgow, bis nach Wales und Cornwallis, wenn ein Haupttreffer zu ziehen ist, wenn ihm seine weitreichenden Späher und Zuträger einen ungewöhnlich reichen Fang signalisirt haben, und wie ein ewiger Proteus lehnt er sich heute in die Plüschpolster der ersten Wagenclasse und fährt morgen als Jockey oder Roßtäuscher im vollgepfropften Coupé der letzten zum Rennen nach Epsom oder Newmarket, ist bald der behäbige englische Pächter mit Kniehosen und Gamaschen und bald der himmelnde Dissenterprediger in kragenlosem Rock und weißem Halstuche.

Kurz, fahrt wo und wie und wann Ihr wollt, – niemals und nirgends und auf keine Weise seid Ihr geschützt vor den kühnen Griffen der Londoner Bahnpickpockets. Also: a priori Mißtrauen gegen Jeden und Jede, die Euch das Schicksal als Coupégenossen in den Weg führt! Habt Ihr aber vollends Mitpassagiere, die an jedem Haltpunkte ruhelos aus dem Waggon steigen und von den Erfrischungs- nach den Wartezimmern hasten oder den Paletot oder Plaid keinen Augenblick vom linken Arme bringen, damit die Manövers der darunter verborgenen rechten Hand nicht vorzeitig bloßgestellt werden, oder denen die Arme in verdächtiger Unbeweglichkeit, als wären es künstliche Wachsgliedmaßen, gekreuzt auf dem Schooße ruhen – alsdann doppelte und dreifache Vorsicht und wo möglich zugeknöpft bis an’s Kinn! Vor Allem, wenn Ihr aussteigt, die Gedanken zusammengehalten und scharfes Auge auf die Nachbarschaft gerichtet! Denn ganz wie bei den Omnibusfahrten ist der Moment des Aussteigens der eigentlich kritische und entscheidende. Im Coupé seid Ihr sicher, – verhältnißmäßig heißt das. Hier setzt sich der Wire, das Haupt der nach Geschäftsbrauch auf Beute ausziehenden heiligen Dreizahl, derselbe feine Gentleman, der Euch vor der Casse, als Ihr das Billet löstet, recht gemüthlich in das Portemonnaie geäugelt und genau weiß, wo Ihr der Brieftasche mit den Fünfpfundnoten Quartier gebt, der nämliche artige Herr, der Eurer Frau so zuvorkommend in den Wagen geholfen hat, höchstens behaglich neben Euch, und ehe Ihr Euch noch auf den Kissen in die gehörige Lage gerückt und mit Euerm Gegenüber die schwierige Fußfrage geordnet habt, seid Ihr mit lindem Striche schon von oben bis unten sondirt und sind die Schlupfwinkel Euerer etwaigen ferneren fahrenden Besitzthümer ausgefühlt. Endlich ruft der Schaffner den Namen Eures Zieles aus und öffnet die Coupéthür, und wenn Ihr nun nicht den gesammten Vorrath Euerer Aufmerksamkeit auf den einen Punkt concentrirt, der jetzt noth thut, so wiederholt sich auf’s Haar das unerfreuliche Spiel, welches vorige Woche, da Ihr im Regent-Circus dem Omnibus erklettertet, das kaum gekaufte prächtige Juchtengeldtäschchen sammt den blanken neuen Sovereigns darin französisch von Euch verabschiedete.




Pulverfuchs.
Ein Waldvagabundenleben.
Von Guido Hammer.

Bei einer Jugendstreiferei – es mögen nun wohl bereits fast dreißig Jahre her sein – traf ich in dem schon damals über Alles geliebten Walde beim Forellenfange einst einen etwa siebenzehnjährigen, gutmüthig aussehenden Burschen, der ebenfalls „gerne in den Busch lief“, wie er sich gegen mich ausdrückte. Da wir uns später noch oft auf unsern Ausflügen begegneten und ich draußen im Walde noch viele Jahre Umgang mit ihm pflog, so lernte ich ihn gründlich genug kennen, um folgendes Conterfei von ihm geben zu können.

Fuchs, dies war sein Name, war blutarmer Leute Kind und hatte, nachdem er die unregelmäßig besuchte Schule hinter sich gebracht, aus Vorliebe für den Soldatenstand, Tambour werden wollen, war aber um eines schlecht geheilten Armbruchs willen, den er zwar schon in seinen Knabenjahren erlitten hatte, der ihn aber noch jetzt für den Militärdienst untauglich machte, abgewiesen worden. Traurig hatte er nun, wie er mir oft erzählte, seine Lieblingsidee, Soldat werden zu wollen, aufgegeben, und war, wie dies nach verfehlten Plänen so oft zu gehen pflegt, – Nichts geworden. Seinem angeborenen Hange folgend, hatte er sich ausschließlich dem Umherstreichen durch Wald und Flur ergeben, wobei er im Frühjahr und Herbst Pilze suchte, Vogelnester ausnahm, die kleinen Sänger in Sprenkeln und Dohnen fing etc. – kurz eine Thätigkeit entfaltete, die schon allein hinreichte, ihn bei allen Jagdbeamten mißliebig zu machen, seiner allerdings etwas bedenklichen Begriffe über Staatseigenthum gar nicht weiter zu erwähnen, die ihm den Wald als völlig freies Gut Aller erscheinen ließen. Nach seinen Ansichten war jeder Jäger ein „erbärmlicher Tyrann“, der sich anmaßte, dem armen Volke sein gutes Recht zu schmälern. Natürlich mußte

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863).Leipzig: Ernst Keil, 1863, Seite 827. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1863)_827.jpg&oldid=- (Version vom 28.5.2019)