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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863)

mir in eine jener Wohn- und Kinderstuben – ich denke mir freilich Beide am liebsten vereinigt – einzutreten, wie sie mir da in mannigfacher Weise vor Augen gekommen sind und sich meiner Erinnerung eingeprägt haben.

Es ist zunächst ein freundliches Pfarrhaus auf dem Lande, wohin ich meine Leser führe. Ein erst seit wenigen Jahren verheirathetes, noch jugendliches Elternpaar erfreut sich des Besitzes zweier Kinder, beides Knaben, der ältere vierthalb Jahre, der jüngere wenige Monate zählend. Ich erschien daselbst nicht als Fremder, aber diesmal mit einer befreundeten Familie, die dort ihren ersten Besuch machte. Wir wurden in der Wohnstube vom Hausherrn freundlich empfangen. In derselben stand in einer Ecke ein halb mit grünem Zeug überwölbter Kinderkorbwagen auf hölzernen Rädern, die Stelle der Wiege vertretend, für das jüngste, in der andern Ecke ein kleines Tischchen und Stühlchen für das ältere Kind, welches dort saß und emsig mit seinen Bauklötzchen spielte. Die Stube war hell und freundlich, die Fenster, von rankendem Weinlaub umschattet und mit Blumen geziert, standen offen, um der frischen Luft freien Durchgang zu lassen. Die Wände der Stube waren mit schönen, sinnigen, wenn auch eben nicht kostbaren Bildern geschmückt. Ueber einigen derselben, namentlich Familien- und Lutherbildern, hingen frische Kränze, andere waren von grünen Epheuranken umzogen. Ein Kanarienvogel hüpfte in seinem Käfig munter auf und nieder und schien sich über seine Kerkerhaft durch die zwischen die Gitterstäbchen des Gefängnisses gesteckten Zucker- und andern Liebesspenden zu trösten. Ein Hündchen lag, den Kopf aus die Pfoten gesenkt, am Ofen und zog sich, nachdem es beim Eintritt der Gäste als Wächter des Hauses bellend seine Pflicht gethan, auf einen Wink des Hausherrn bald wieder auf sein Schlummerlager zurück. Kurz, die Stube machte jenen Eindruck des Heimlichen und Wohnlichen, wie er die Seele so angenehm und wohlthuend berührt, und namentlich auch der sich allmählich erschließenden Knospe des zarten Kindesalters einen eigenthümlichen Reiz und die süßesten Heimathserinnerungen vermittelt.

Die Hausfrau war bei unserm Eintritt nicht in der Stube. Sie befand sich, wie mir die halb angelehnte und nur unvollkommen verhängte Glasthüre verrieth, in der anstoßenden Kammer und war eben mit der Nährung und Wartung ihres jüngsten Kindes beschäftigt. Sie ließ sich darin durch die eingetretenen Gäste durchaus nicht stören, und auch ihr Gatte fand es ganz natürlich und keiner Entschuldigung bedürfend, daß die Erfüllung ihres Mutterberufes ihr als die erste, unabweisbarste Pflicht erschien. Da war kein Rufen und Laufen, keine Hast und Unruhe bemerklich, wie dies sonst bei unerwartetem Besuch im häuslichen Kreise wohl vorzukommen pflegt. Auch von einem besondern in Ordnung bringen und Herausputzen der eigenen, wie der Kindertoilette war, wie ich aus dem durch die halboffene Thür mit Interesse verfolgten Thun und Lassen der jungen Mutter wahrnahm, keine Spur. Im einfachsten Hauskleide, aber nett und zierlich, dabei – was sie mir ganz besonders interessant machte, bei den anwesenden Damen aber, wie ich später erfuhr, große Sensation erregt hatte – ohne Crinoline, trat endlich die Hausfrau mit ihrem in ein reinliches Deckchen leicht eingehüllten Säugling auf dem Arm zu ihren Gästen in die Stube und legte bald darauf ihr Kind in den Korbwagen, an welchem in der Mitte vom Obergeflecht ein Bällchen aus farbiger Wolle an einem Faden herabhing, dessen Bewegungen der Kleine mit seinen Augen folgte und sich ganz ruhig verhielt, bis auf das lustige Strampeln mit den freigelassenen Beinchen. Die Hausfrau konnte ungehindert ihre häuslichen Geschäfte besorgen und ging ab und zu, während der ältere Knabe den Gästen ungeheißen sein Spielzeug brachte und in höchst zutraulicher Weise mit denselben plauderte. Er vergegenwärtigte mir das Bild einer weise geleiteten frühesten Erziehung durch naturgemäße Beschäftigung, wie sie in Fröbel’schem Geiste nicht nur der Kindergarten, sondern auch das Elternhaus und die Kinderstube darbietet, wenn nur bei den Eltern Sinn und Verständniß dafür vorhanden ist; das Bild jener entwickelnden Erziehung, die, in naturgemäßer Stufenfolge vom Einfachsten ausgehend, sich vorzugsweise an die Phantasie und den Thätigkeitstrieb des Kindes wendet, und von hier aus auf Erkenntniß und Willen desselben einzuwirken bemüht ist.

Es fiel mir auf, daß die mannigfachen Spielsachen des muntern Kleinen nicht in der Stube verstreut, auf Stühlen oder dem Erdboden umherlagen, wie dies in den meisten Kinderstuben gewöhnlich der Fall ist, sondern ich nur das, womit sich das Kind gerade beschäftigt hatte, die Bauklötzchen, auf dem Tische erblickte, während die übrigen Spielsachen theils in Kästchen verschlossen, theils, mit Bändchen versehen, an der Wand über dem Tischchen hingen, oder in der Ecke des Zimmers an ihrem Platze standen.

Als der Knabe nun, um im Garten oder in der Umgebung des Hauses sich ein wenig auszuspringen, an der Hand des Hausmädchens die Stube verlassen hatte – denn ich halte es nicht für zweckmäßig, in Gegenwart der Kinder, selbst der kleinern, auf das Kind selbst sich beziehende Gespräche zu führen – drückte ich dem Vater desselben meine theilnehmende Anerkennung in Betreff seiner Erziehungsmethode aus, namentlich auch in Beziehung auf den wahrgenommenen Ordnungssinn seines Söhnchens. „Er weiß es eben nicht anders,“ sprach der verständige und bescheidene Vater, „denn er ist von frühester Kindheit an daran gewöhnt worden, jedes Spielzeug, ehe er zu einem andern greift, erst wieder an seinen Platz zu bringen. Auch besaß er davon nie zu viel und verschiedenerlei auf einmal.“

Ich mußte mich bei diesen Worten unwillkürlich in der Stube umsehen, und mein Blick fiel auf den Schreibtisch des Vaters und das Arbeitstischchen der Mutter, das im Fenster stand. Beide waren augenscheinlich noch kurz vor der Ankunft des Besuchs benutzt worden, aber von einer Unordnung, von einem wüsten Durcheinanderliegen der gebrauchten Gegenstände war keine Spur. Bücher und Schriften lagen meist rechtwinklig neben- und aufeinauder. Das Nähzeug mit seinem Zubehör nahm den möglichst geringsten Raum ein und verrieth selbst in dem scheinbar rasch aus der Hand gelegten Vielerlei den Sinn für Symmetrie. Kurz, ein Geist der Ordnung und Regelmäßigkeit gab sich in Allem kund, was hier vor des Kindes Auge gerückt erschien, und es war, als ob der Geist der Elternliebe sorgsam Wache hielte auch über das eigene Thun und Treiben, um durchaus kein Bild der Unordnung und Verwirrung in der zarten Kinderseele aufkommen zu lassen.

Mein Freund bemerkte meinen prüfenden, musternden Blick und sprach, meine Gedanken errathend, lächelnd: „Ja, ja, ein Kind ist gar ein strenger Zucht- und Lehrmeister für Vater und Mutter!“ – Ich gestehe, mir schien in diesem Wort mehr Erziehungsweisheit und Elternliebe zu liegen, als in zehn gelehrten pädagogischen Abhandlungen und den zärtlichsten Liebkosungen.

Der Kleine im Korbwagen war unterdeß unruhig geworden. Er schien des schwebenden Bällchens müde zu sein und Langeweile zu empfinden. Sogleich waren einige von unsern Damen aufgesprungen und machten Miene, das Kind aus dem Korbe zu nehmen und mit ihm tänzelnd und schaukelnd im Zimmer umherzugehen. Doch die Mutter wehrte lächelnd ab und bat, das Kind ruhig im Korbe liegen zu lassen. Sie trat herzu und überzeugte sich bald von der Ursache der Unruhe des Kleinen, veränderte ein wenig seine Lage, zog statt des leidigen Wiegens, das bei mäßiger Anwendung zwar an sich nicht gerade schädlich, doch durch das so nahe liegende Uebermaß leicht mehr betäubend und verwöhnend, als wohlthätig wirkt, den Korbwagen etwas hin und her, brachte dem Kinde ein kleines, einfaches, geflochtenes Spielzeug, lächelte es freundlich an, sprach ein paar liebkosende Worte zu demselben und entfernte sich dann, ohne daß das Kind ihr nachweinte.

Allgemeines Staunen machte sich in den Mienen der anwesenden weiblichen Gäste bemerkbar, bei denen vielleicht daheim sechs Hände und Arme kaum ausreichten, um einem kleinen Schreihals beständig zu Diensten zu sein und seinem souveränen Willen gemäß ihn bei Tag und Nacht in der Stube umherzutragen. Als nach einiger Zeit der Kleine sich wieder meldete und zu weinen begann, ein Weinen, das aber für ein aufmerksames Vater- und Mutterohr ganz anders klang, als jenes frühere, nahm ihn die Mutter, aus Rücksicht für ihre Gäste, ein wenig auf den Schooß, aber ohne ihn zu wiegen und zu schaukeln, woran sich die Kinder so leicht gewöhnen, und nun stets gewiegt, geschaukelt und getragen werden wollen. Auch verließ sie die Gesellschaft nicht, um ihn etwa der Magd zu übergeben und seiner loszuwerden, sondern sie nahm blos das farbige Bällchen am Fädchen und drehte es vor den Augen des Kindes im Kreise, dann legte sie den Ball auf den Tisch und sprach: „Bällchen, komm her zum Kind!“ und ließ es langsam heranrollen. Da hörte der Kleine sogleich auf zu weinen, lachte freundlich, streckte seine Arme darnach aus und versuchte nun selbst am Fädchen zu ziehen.

Das war abermals für die anwesenden weiblichen Gäste keine geringe Ueberraschung, und eine der ältern Damen war aufrichtig

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863).Leipzig: Ernst Keil, 1863, Seite 814. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1863)_814.jpg&oldid=- (Version vom 6.1.2019)