Seite:Die Gartenlaube (1863) 714.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1863)

ein invalider Unterofficier, welcher während des Krieges unter Jenem, der damals nur noch Fähndrich war, gedient hatte. Der Unterofficter nahte sich seinem Oberen, nach welchem er sich bereits vorher erkundigt hatte, so viel als möglich im Paradeschritt, dann schulterte er mit dem ihn beim Gehen unterstützenden Krückenstock und rief, sich an den erstaunten Officier wendend. „Herr Hauptmann! Corporal Werner von der dritten Compagnie meldet sich nach fünfzigjährigem Urlaub als wieder eingetroffen!“ Der Hauptmann besann sich einen Augenblick, dann aber zog er den alten Unterofficier an seine Brust und rief gerührt: „Werner, habt Ihr Euren Fähndrich wieder erkannt?“ Und nun ging es an ein Erzählen wie bei allen den Anderen.

Solcher Züge und Begegnungen gäbe es wohl hunderte zu erzählen, denn wohin man nur immer schaute, überall fanden sich Freunde und Cameraden zusammen. Freilich aber fehlte auch so mancher Waffengefährte, dem man so gern im Leben noch einmal in das Auge geschaut oder dessen Hand man nochmals gedrückt hätte; aber der Tod hatte unter den Kriegern seit jenen Tagen der Schlacht viele abgerufen, und wie kurz ist vielleicht nur noch der Lebensfaden vieler der hier Erschienenen, von denen sehr wenige unter siebenzig, viele aber achtzig Jahre und darüber zählen.

In dem vorgerückten Alter der militärischen Festtheilnehmer lag auch der Grund, daß im Gegensatz zu anderen derartigen Versammlungen der größte Theil der Anwesenden um die zehnte Stunde das gastliche Nachtquartier aufsuchte. Fröhlichen Herzens schieden sie aber in dem Bewußtsein, mit den wiedergefundenen Kriegscameraden noch einige herrliche Festtage verleben zu können.

Klar und wonnig brach der Morgen des 18. Octobers an, begrüßt vom feierlichen Geläute aller Glocken und von Geschützsalven; zahlreiche Musikchöre ließen ihren fröhlichen Weckruf durch alle Straßen erschallen, und bald entwickelte sich in der Stadt ein ungemein reges Leben.

In allen Kirchen fand feierlicher Gottesdienst statt, und nicht vermochten sie die Beter zu fassen, welche an diesem so hochwichtigen Tage dem Himmel aus vollem Herzen ihren Dank darbringen wollten. Welch ein Jammerbild aber boten die der Verehrung Gottes geweihten Räume vor funfzig Jahren! Da war nur eine der Kirchen Leipzigs, die Nikolaikkrche, welche noch dem Gottesdienste vorbehalten blieb; alle anderen aber waren in schreckenerregender Weise zu Lazarethen umgewandelt und mit schwerverwundeten und sterbenden Kriegern überfüllt. Wohl auch manchem der heute zum Feste hier erschienenen Veteranen hatte man damals sein Schmerzenslager in einer der Kirchen angewiesen. Von Augenzeugen erfuhren wir, wie ein schwacher Greis in der Peterskirche mit Thränen in den Augen noch denselben Platz zu bezeichnen wußte, wo er in jenen Tagen schwerverwundet hier längst die Hoffnung verloren hatte, dem Leben und seiner armen Familie wiedergegeben zu werden, und heute – stand er noch lebend hier, um die Erinnerung an jene Tage mitzufeiern. Ehrfurchtsvoll geleitete man den würdigen Greis an denselben Platz, und wer wäre wohl im Stande, die Gefühle jenes Veteranen zu schildern, dem aus Rührung die Stimme gebrach, um in die zum Himmel dringenden, frommen Lieder des Dankes einzustimmen? Er selbst hat geäußert, daß ihm immer zu Muthe gewesen sei, als höre er noch die jammernden Klagelaute seiner verwundeten und sterbenden Cameraden, welche damals in so furchtbaren Massen in diesen Räumen einen nothdürftigen Zufluchtsort gefunden hatten.

Nach beendigtem Gottesdienste sah man die würdigen Veteranen gruppenweise oder einzeln durch die Straßen ziehen, um jene Häuser und Plätze aufzusuchen, wo sie in den Zeiten des Krieges einquartiert gewesen waren oder bivouakirt hatten. Auch da gab es wieder schmerzliche und erhebende Erinnerungen genug. Einer der Veteranen fand nach langem Suchen von derselben Familie, die ihn damals so freundlich aufgenommen und gepflegt hatte, nur noch das jüngste Kind seiner Wohlthäter am Leben, und dieses Kind war nun selbst zur würdigen Matrone geworden. Ein Anderer, der nach dem Einzuge der Verbündeten sein Quartier im Brühl erhalten hatte und gar nicht genug die liebevolle Verpflegung loben konnte, begab sich nach jener Straße, um nach seinen Wohlthätern oder deren Nachkommen zu forschen. Das Haus war wohl bald genug gefunden, aber der Name jener Familie, nach welcher der Greis so eifrig suchte, war sämmtlichen Bewohnern jenes Hauses unbekannt. Endlich drängte sich ein altes Mütterchen aus der Nachbarschaft herbei und gab die freilich traurige Auskunft, daß sie sich jener Familie noch recht gut entsinne, aber daß vor einigen Jahren auch der letzte Angehörige derselben begraben worden sei. Das Anerbieten der alten Frau, den sichtlich gerührten Veteran hinaus auf den Friedhof zu den Gräbern seiner Wohlthäter zu geleiten, ward von dem Greise dankbar angenommen, und der alte Mann erbat sich als Geschenk einen der Laubkränze, mit denen das Haus, in dem er vor funfzig Jahren Unterkommen fand, geschmückt war. Es sollte dieser Kranz ein Andenken sein, das er mit in die Heimath nehmen wollte, und gern erfüllte man seinen Wunsch. Als er, von dem Mütterchen geleitet, draußen auf dem Kirchhofe die Gräber seiner ehemaligen Wirthsleute gefunden hatte, konnte er sich der Thränen nicht erwehren. Er hätte ja so gerne Denen noch einmal auf Erden seinen Dank dargebracht, die ihn damals so herzlich aufgenommen hatten. Den Kranz, den er von jenem Hause mitnahm, legte er jetzt tiefgerührt auf eins der Gräber und pflückte dagegen von den letzteren einige herbstliche Blumen, die ihm, wie er meinte, doch ein noch wertheres Andenken wären, als jener Kranz, der nur als ein Zeichen der Dankbarkeit hier auf der Ruhestätte seiner Wohlthäter zurückbleiben sollte.

Der sogenannte „alte“ Friedhof war überhaupt das Ziel vieler Besucher, denn man hatte die Gräber der hier ruhenden Gefallenen aus den Freiheitskriegen an diesem Jubel- und Ehrentage festlich geschmückt. Ganz besonders war Motherby’s Grab unaufhörlich von Besuchern umringt. Manche der Veteranen erinnerten sich noch dieses kühnen Hauptmanns der Königsberger Landwehr, der hier unweit seines Grabes von einer Kugel getödtet ward, als er unmittelbar hinter Friccius, dem Erstürmer des Grimmaischen Thores, in die Stadt dringen wollte. Das Grab des tapfern, für die Befreiung seines Vaterlandes gefallenen Helden schmückt jetzt ein sinniges Denkmal.

Unmittelbar neben jenem Friedhof und an derselben Stelle, wo früher das äußere Grimmaische Thor stand, erhob sich eine mächtige Ehrenpforte, um den Ort zu verherrlichen, wo todesverachtend die tapfere Landwehr unter einem Hagel von Kartätschen ihren Nachfolgern Bahn brach in die von den Franzosen dort auf das Aeußerste vertheidigte Stadt. Dicht vor dieser Ehrenpforte aber war das einfache Steindenkmal bereits errichtet, welches jene Heldenthat auch künftigen Geschlechtern im frischen Andenken erhalten sollte. Die feierliche Einweihung dieses Denkmals war jedoch erst für den 19. October bestimmt, und wkir kommen später auf dieselbe ausführlicher zurück.

Ein anderes, nicht minder bedeutungsvolles Denkmal, zu welchem am Turnfeste bekanntlich der Grundstein gelegt ward, konnte jetzt zum Völkerschlachtsjubiläum ebenfalls bereits der Oeffentlichkeit übergeben werden. Noch ehe nämlich die Erstürmung des Grimmaischen Thores am 19. October 1813 stattfand, bemächtigte sich eine andere Abtheilung des Bülow’schen Corps, ebenfalls aus preußischen Freiwilligen bestehend, eines nördlich von jenem Thore gelegenen Vorwerkes, welches die Franzosen mit verzweifelter Wuth vertheidigten. Ganze Reihen der andringenden Preußen wurden durch das wohlgezielte Gewehr- und Geschützfeuer niedergestreckt; aber immer wieder stürmten neue Kämpfer löwenmuthig vor und gelangten endlich in den Besitz des mit Strömen von Blut erkauften Punktes. Schon früher stand als Denkzeichen an der Stelle des niedergerissenen Vorwerkes ein einfaches Monument, welches wegen der dabei befindlichen, auf den Schlachtfeldern gesammelten Kanonenkugeln das Kugeldenkmal genannt wurde. Der Besitzer des anstoßenden Grundstückes, Dr. Lampe, hatte jenes Denkmal errichten lassen, doch faßte man in neuerer Zeit den Beschluß, das baufällige Monument durch einen entsprechenden Denkstein zu ersetzen.

Als bemerkenswerth dürfte bei dieser Gelegenheit wohl angeführt werden, daß sich bei der Schlachtfeier auch zehn Veteranen derselben Truppenabtheilung befanden, welche damals das Vorwerk nach so furchtbaren Verlusten eroberten. Dr. Lampe hatte sich die zehn Tapferen als Ehrengäste ausgebeten, und so wohnten diese Veteranen jetzt auf demselben Grund und Boden, den sie damals so heldenmüthig erobern halfen. Wohlverdiente Ehre und Theilnahme wurden ihnen von allen Seiten zu Theil. Einer von ihnen, der um die Erzählung der Umstände des Kampfes gebeten wurde, erwiderte treuherzig: „Ja, lieber Herr, da werden Sie wohl meine Cameraden drum fragen müssen, denn ich müßte eine Lüge erfinden, wenn ich den Kampf so recht beschreiben sollte. Gehört und gesehen habe ich wenig, denn ich war blind vor Wuth, als meine

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1863).Leipzig: Ernst Keil, 1863, Seite 714. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1863)_714.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)