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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863)

Dichte Menschenmassen drängten sich neben und hinter den einziehenden Veteranen her, und glücklich schätzte sich der, dem es gelang, einen Platz an der Seite eines dieser alten Krieger zu erringen. Man bot gern den Greisen den Arm als Stütze, und von allen Seiten kamen neugierige Frager herbei, die womöglich schon auf dem Wege zur Stadt etwas von den Erlebnissen aus der Heldenkriegszeit hören mochten. Mit welcher Ehrfurcht hingen Aller Blicke an den ehrenden Zeichen der Tapferkeit, die jeder der Veteranen auf der Brust trug, und wie dürftig, wie altmodisch und abgetragen waren oft die Röcke, welche solchen Ehrenschmuck aufzuweisen hatten!

Nicht minder herzlich war der Empfang, welcher den Ehrengästen wohl ohne Ausnahme in der ihnen angewiesenen Wohnung zu Theil wurde. Wie vielen der ehrwürdigen Greise traten Thränen der Rührung und Freude in die Augen, als sie sich von ihren Gastgebern und deren Familien so liebreich aufgenommen sahen. Es waren dies freilich andere Tage als vor fünfzig Jahren, wo man den einrückenden Siegern bei der eigenen Noth der Stadt kaum hinreichend trockenes Brod zur Stillung des Hungers bieten konnte. Wie viele der gastfreundlichen Wirthe waren in jenen Schreckenstagen als Kinder beim Eindringen der Sieger in die Stadt ängstlich weinend geflohen und hatten sich zitternd hinter ihre Eltern verborgen, weil sie von der friedlichen Absicht der Soldaten keinen Begriff hatten. Die Erkenntniß der Absicht jener gefürchteten Männer war ihnen erst später geworden, und heute bot sich ihnen auch die Gelegenheit, die mangelhafte elterliche Bewirthung jener Zeit auszugleichen.

Im Laufe des Sonnabends trafen fast sämmtliche Veteranen und die Städtedeputationen in Leipzig ein, und für die Abendstunden dieses Tages war eine gesellige Zusammenkunft der Eingeladenen in den bekannten glänzenden Räumen des Schützenhauses veranstaltet. Nicht leicht möchte es aber noch eine Versammlung geben, welche sowohl für die Betheiligten, wie für Zuschauer ein größeres Interesse hätte bieten können. Die allgemeinste Theilnahme war natürlich den Veteranen gewidmet, von denen an achthundert an jenem Abende im Schützenhause anwesend sein mochten. Es war, als entrollte sich ein Stück Geschichte in lebendigen Lettern vor unsern Augen; denn diese Tapferen gehörten zu den Stiftern des herrlichsten Blattes in dem Ruhmesbuche der deutschen Nation. Die Orden und Ehrenzeichen, welche ein Jeglicher in größerer oder geringerer Zahl auf der Brust trug, waren sprechende Beweise dafür, daß von diesen Männern damals Keiner müßig die Hände in den Schooß gelegt hatte.

Aber wie verschieden erschienen diese ehrwürdigen Gestalten! Dort wankte Einer mühsam auf seinen Krücken heran, doch bald nahten sich gütige Männer, welche den Invaliden unterstützten; der danebenstehende Alte mit dem Stelzfuße kam sich im Vergleiche mit Jenem gewiß noch ganz glücklich vor, wenigstens verrieth seine Miene nicht im Geringsten, daß der fehlende Fuß seiner festlichen Stimmung Eintrag thun könne; er scherzt sogar noch und schließt die für den ihn umstehenden Zuhörerkreis bestimmte Erzählung seiner Kriegserlebnisse mit der Bemerkung: daß er hauptsächlich hierher gekommen sei, um sich von dem damaligen Bataillonschirurgen sein Bein zurückgeben zu lassen, welches man ihm zu jener Zeit unbegreiflicher Weise vorenthalten habe; die Gegend bei Wachau, wo er es vor fünfzig Jahren verloren habe, wisse er allenfalls noch genau genug anzugeben.

Wahrhaft rührenden und ergreifenden Wiedererkennungsscenen konnte man an jenem Abende oft genug begegnen. So sah man unter Anderen einen vierfach decorirten, alten, aber noch rüstigen und äußerst lebhaften Mann durch die Säle gehen, von Tisch zu Tisch immer nur die Frage wiederholend: „Ist denn von den schlesischen Landwehrmännern, die bei Möckern fochten, Alles ausgestorben? Bin ich ganz allein übriggeblieben? Es waren damals doch noch kräftige Jungen genug, die mit halbwegs ganzer Haut in Leipzig einrückten!“ – Alle Nachforschungen des rüstigen Veteranen blieben lange Zeit ohne Erfolg, denn wohin er auch kam, nirgends war solch ein alter Schlesier aufzufinden. Umsonst luden andere alte Kriegscameraden den Suchenden ein, bei ihnen Platz zu nehmen und neue Cameradschaften anzuknüpfen; allein er schlug jeden ihm angebotenen Labetrunk aus und meinte immer dabei: das erste Glas in Leipzig wolle er nun einmal durchaus blos mit einem schlesischen Landwehrmanne trinken! Kopfschüttelnd sah man dem Eigensinnigen nach, und mancher Graubart rief wohl auch so etwas wie: alter Dickkopf! hinter ihm drein. Aber Alles dies kümmerte den Schlesier wenig und nichts konnte ihn davon abbringen, die Forschungen nach seinen Landsleuten fortzusetzen. Da endlich ertönte plötzlich auf seine immer gleiche Frage von einem Tische her ein militärisch meldendes: Hier! Bei diesem Tone malte sich auf den Zügen des Suchenden die höchste Freude, denn in der That erhob sich da drüben ein nicht weniger mit Ehrenzeichen geschmückter Veteran. Der Erstere wollte jedoch seiner Sache gewiß sein und schickte jetzt rasch die prüfende Frage nach: „Unter wem hast Du gefochten, Camerad?“ „Unter Steinmetz,“ lautete die Antwort, und mehr bedurfte es nicht, um den vorsichtigen Frager zu überzeugen. „Gott sei Dank! Also doch noch einer von den Braven am Leben,“ rief er und gleich darauf lagen sich die beiden Greise in den Armen. Jetzt wurde der Weihetrunk von dem durch langes Suchen ganz Erschöpften nicht mehr ausgeschlagen, und hierauf begann ein Fragen und Erzählen, das immer lebhafter wurde, als sich bald herausstellte, daß die beiden zu jener Zeit bei derselben Compagnie gestanden hatten. – „Erinnerst Du Dich noch des tollen Burschen, welchen alle Cameraden nur den tollen Jodelfritz nannten, weil er immer der Erste war, wenn es galt, ein Lied auf dem Marsche anzustimmen?“ fragte lächelnd im Anfange des Gespräches der andere Schlesier den über seine Entdeckung noch ganz glücklichen Cameraden. „Den Jodelfritz? Ob ich mich seiner noch erinnere!“ rief der Andere. „Im Quartier habe ich mich freilich manchmal über ihn geärgert, wenn die Anderen gern schlafen wollten und der Schreihals zu guter Letzt noch ein Lied zu singen anfing. Wenn ich nicht irre, so hat der arme Teufel seit der Schlacht bei Möckern nimmer wieder gesungen, denn dort sollen ihm die Franzosen erst den rechten Arm fast vom Rumpfe getrennt und zum Ueberflusse auch noch den Schädel gespalten haben. Was aus ihm geworden ist und wo er eingescharrt liegen mag, das weiß ich nicht.“

„Eingescharrt hat man den Schreihals, wie Du ihn ganz richtig nanntest, doch nicht, weil er noch nicht ganz todt war,“ lachte der Andere, „aber Mühe hat es genug gekostet, dies den Lazarethgehülfen glaubhaft zu machen. Mit der Schädelwunde hatte es nicht gar so viel auf sich, und den Arm hat man ihm auch wieder zusammengeflickt, aber steif ist er für immer geblieben.“ Bei diesen Worten schob der Erzähler lachend den Aermel zurück und zeigte dem erstaunten Kampfgenossen eine breite, furchtbare Narbe am rechten Unterarme.

„Wie? Was? Also Du – Du bist der Jodelfritz?“ fragte Jener, bald die breite Narbe, bald das frohe Gesicht seines Cameraden musternd, und im nächsten Augenblicke hielten sich die beiden Alten wieder umhalst und weinten und lachten vor Freude über dieses unverhoffte Zusammentreffen. Seit fünfzig Jahren hatte Keiner mehr vom Anderen etwas gehört, und hier erneuerten sie unter Freudenthränen einen Freundschaftsbund für die „letzten paar Lebensstunden“, wie sie wehmüthig hinzufügten. Die Trauer konnte sie aber bei dem Gedanken an den kleinen Lebensrast dennoch nicht übermannen, und die Erinnerung an jene glorreiche Zeit schien sie vielmehr nach und nach immer mehr zu verjüngen. Das erste Versprechen, das sie sich gaben, bestand darin, daß sie vor der Hand während des ganzen Festes sich nicht wieder trennen wollten, und redlich haben sie dies gehalten, denn unzertrennlich sah man Beide stets bei einander.

Solche Erkennungszeichen konnte man an jenem Abende in Menge beobachten. Ueberall begegnete man einzelnen Trupps früherer Waffengefährten, die sich gegenseitig ihre Erlebnisse erzählten und ihre Erinnerungen auffrischen halfen. Neugierige Zuhörer jüngerer Generationen umstanden aber jede dieser Gruppen und lauschten ehrerbietig den Berichten der Zeugen jener blutigen Tage. Ein alter böhmischer Veteran, dessen entschlossener Gesichtsausdruck so wie sein noch immer kühner und freier Blick wohl erkennen ließen, daß er dem Feinde gewiß furchtlos seine Brust gezeigt hatte, bediente sich bei seinen Erzählungen stets eines originellen Ausdruckes; er betrachtete nämlich die Gefechte und Kämpfe als eine Arbeit und meinte, daß er draußen bei Dölitz am 10. October unter Lichtenstein „halt brav mitgearbeit’ habe.“

Nicht nur alle Truppengattungen, sondern auch alle Rangstufen vom General bis herab zum Füsilier, Jäger oder Reiter, waren vertreten, doch wurde hier der Rangunterschied natürlich nicht mehr so streng eingehalten als im Dienste. So kam unter Anderem zu einem Hauptmann, der in Uniform erschienen war,

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