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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863)

„Nur gegen den ersten Anlauf, also nur gegen die Fliehenden können wir uns schützen. Den Siegern, wenn sie in das Haus wollen, können wir es auf die Dauer nicht versperren. Danach müssen wir handeln. Verschließt und verrammelt zuerst, so fest wie möglich, alle Thore und Thüren, die in das Haus und die Ställe führen! Laßt vor allen Fenstern die Läden, so dicht, daß man von außen kein Licht sehen kann! Bringt kein Licht an ein anderes Fenster! Geht gleich an die Arbeit, macht Alles ordentlich! Und dann vertraut auf Gott, der in Gefahr und Noth erst recht bei dem Menschen ist, wenn der Mensch nur den Kopf klar und das Herz muthig bewahrt! – Noch Eins. Mein Bruder und der Verwalter sind noch nicht zurück. Achtet auf ihre Rückkehr, damit sie sogleich können eingelassen werden! Sollte ein Anderer Einlaß begehren, so ruft Ihr vorher mich herbei!“

Die Leute gingen, die Befehle auszuführen. Die Tante stand noch einige Minuten nachdenklich. Dann ging sie zu dem Wohnzimmer, in dem sich die Großmutter befand. Die alte, gelähmte Frau saß in ihrem Rollstuhle und sah sich durch das Fenster die Kronen der Bäume des Waldes an, die von den letzten Strahlen der untergehenden Sonne vergoldet wurden. Der Tag war trübe gewesen. Da hatte die Sonne bei ihrem Scheiden für die Nacht noch ihr Recht haben wollen und brach sich durch eine Wolkenschicht hindurch, um noch einen letzten Blick auf den Wald und über die Haide zu werfen.

„Und was wird kommen, bis sie morgen wiederkehrt?“ sagte die Großmutter. „Was wird der Abend, die Nacht uns bringen?“

Man hörte in der Stube, die nach dem Walde hin lag, wieder das Gewehrfeuer; es war näher gekommen, wie schon die Leute zu der Tante Therese gesagt hatten. Man hatte früher nur das Rottenfeuer gehört; jetzt glaubte man dazwischen auch einzelne Schüsse zu vernehmen. Die Großmutter hatte dennoch ihren guten Muth nicht verloren, wie die Tante den ihrigen wiedergewonnen hatte.

„Hast Du Alles besorgt, Therese?“ fragte sie die Tante.

„Alles, was besorgt werden konnte. Ich habe Thore und Thüren und Fensterläden schließen lassen. Mehr können wir nicht.“

„Mehr können wir nicht, Kind. Das Weitere müssen wir Gott anheimstellen.“

„Aber hier habe ich noch etwas zu thun, Mutter,“ sagte die Tante.

Sie ging in eine Kammer, die sich neben der Stube befand, und kam mit einem Korbe daraus zurück, den sie an einen großen eichenen Schrank setzte. Dann begann sie die Schubfächer des Schrankes zu öffnen und die Gold- und Silbersachen der Familie aus alter und neuer Zeit herauszunehmen und in den Korb zu legen. Oben unter dem Fußboden des nämlichen Thurmstübchens, in welcher die Tante den Freiherrn Adalbert aufgenommen hatte, war ein geheimer Versteck, aufzufinden nur von dem, der ihn kannte, und außer der Großmutter und der Tante und der alten Christine kannte ihn Niemand. Dort wollte Therese die Kleinodien verstecken. Sie ward auch daran gehindert. Man vernahm plötzlich draußen ein Geräusch in der Haide, abwärts vom Walde. Die Großmutter und die Tante horchten, das Geräusch kam näher. Es war ein Wagen, der rasch fuhr und auf das Schloß zuzufahren schien.

„Der Verwalter,“ sagte die Tante. „Gottlob, da haben wir doch noch eine Stütze.“

Aber die Großmutter schüttelte den Kopf. „Das ist kein Wagen vom Schlosse!“

Die gelähmte Frau mußte den ganzen Tag in ihrem Rollwagen zubringen. Da konnte sie bei dem, was draußen vorfiel, nur mit ihrem Gehöre sein. So kannte dieser Sinn im Schlosse Alles, was er zu erfassen vermochte, um so genauer. Auch die Tante überzeugte sich.

„Es ist ein fremder Wagen. Und wir erwarten Niemanden.“

Sie wurde unruhig, verlor aber ihre Besonnenheit nicht. Sie hatte an den Fenstern der Wohnstube noch nicht die Läden vorgelegt, um die Dämmerung des Abends zu ihrer Arbeit zu benutzen. Die Läden waren innen in der Stube. Sie legte sie rasch vor und verschloß sie dicht, fest. Sie schlossen die ganzen Fenster. Dann zündete sie ein Licht an. Von außen hatte man nichts sehen können, konnte man auch ferner nichts sehen. Der Wagen war nicht mehr zu hören.

„Er wird zum Einfahrtsthore gefahren sein,“ meinte die Tante.

Das Einfahrtsthor war an der anderen Seite des Hauses. Die Tante wollte in ihrer Arbeit von Neuem beginnen. Sie wurde noch einmal darin gestört. Die alte Christine trat in die Stube.

„Mamsell, der Christian schickt mich. Vor der Brücke am Eingangsthore hält ein Wagen mit zwei Pferden. Der Christian, der an dem Thore aufpaßt, meinte zuerst, der Herr Verwalter komme zurück. Aber es war ein fremder Wagen, und ein fremder Herr war eilig herausgestiegen und hatte an das Thor geklopft und gerufen, man möge ihn einlassen. Da läßt der Christian fragen, was geschehen soll.“

Die Tante Therese hatte sich schnell besonnen. „Du erlaubst, Mutter, daß ich selbst hingehe?“

„Thue das, Kind!“

„Und daß die Christine mich begleite?“

„Nimm sie mit Dir!“

Die Tante Therese und die alte Magd gingen zu dem Einfahrtsthore. Sie traten aus der Stube in die Vorhalle, aus dieser in den Hof vor dem Schlosse. Den Hof umschloß eine hohe, dicke Mauer, die zu beiden Seiten bis an das Schloß reichte. In der Mitte der Mauer war das Einfahrtsthor, zu den Seiten des Thors waren in der Mauer zwei kleine, mit einer Fensterscheibe versehene Schaulöcher, durch die man die Brücke vor dem Thore überblicken konnte, ohne von außen selbst gesehen zu werden.

Der Knecht Christian stand an einem der Löcher. Er war der Vorknecht auf dem Schlosse, der zugleich eine Oberaufsicht über die anderen Knechte führte, und ein eben so entschlossener, wie zuverlässiger Mann. Er kam der Tante entgegen.

„Es ist eine fremde Herrschaft, Mamsell. Der Wagen kam von rechts über die Haide in gestrecktem Galopp, als wären die Leute auf der Flucht, gerades Weges auf das Schloß zu. Hier meinten sie wohl, sofort in das Thor fahren zu können, aber es war verschlossen, und sie mußten an der Brücke halten. Der Kutscher sagte es in den Wagen hinein. Da sprang ein Herr heraus und besah sich eilig das Schloß. Dann kam er über die Brücke an das Thor und versuchte es zu öffnen. Als er das nicht konnte, klopfte er an und rief. „Heda, heda!“ Er bekam keine Antwort, ich hielt mich ganz still. Er klopfle noch ein paar Mal und rief lauter: „Heda! Verirrte Reisende bitten um Aufnahme!“ Ich hielt mich still, wie zuvor. Er ging zu dem Wagen zurück. „Steige ab,“ sagte er zu dem Kutscher. „Wir wollen um das Haus herum gehen, ob wir keinen anderen Eingang finden. Ich gehe rechts; gehe Du links.“ Der Kutscher stieg vom Bock, und sie gingen um das Haus, der Eine nach der einen, der Andere nach der anderen Seite. Sie sind noch nicht zurück, aber sie müssen jeden Augenblick kommen.“

„Wie sah der Herr aus?“ fragte die Tante den Knecht.

„Es war ein großer Mann in mittleren Jahren und sah recht vornehm aus.“

„War er allein in dem Wagen?“

„Nein, Mamsell. Er muß seine Frau und Kinder bei sich haben. Hinein sehen konnte ich in den Wagen nicht; es war schon zu dunkel. Aber ich hörte ein paar Kinderstimmen, und als eins von den Kindern weinte, suchte eine Frauenstimme es zu trösten und zur Ruhe zu bringen.“

Die Tante trat an eins der kleinen Fenster, um selbst hindurch zu sehen. Das Dunkel der Dämmerung hatte zugenommen, nur der Wagen war zu erkennen, der vor der kleinen Brücke hielt. Was in seinem Innern sich befand, war in der Dunkelheit nicht zu entdecken, doch glaubte die Tante leises Weinen zu hören.

Sie werden aufgenommen! der Entschluß stand dennoch fest[1] bei meiner braven Tante, die schon so viele eigene und selbst fremde Sorge zu tragen hatte. Sie sind zwar, sagte sie zu sich, auch hier vielleicht schweren Gefahren unterworfen, aber die Frau und die Kinder finden doch ein Unterkommen, eine warme Stube, Essen und Trinken. Draußen müßten sie in der kalten dunklen Nacht und in der nacken Haide herum irren, ohne Obdach, ohne nur einem Menschen zu begegnen, sie müßten denn zwischen das Feuer der Soldaten kommen. Sie werden aufgenommen! Aber ich will doch vorher den Fremden sehen.

Zwei Personen kamen an die Mauer.

„Der Herr und der Kutscher!“ flüsterte an seinem Fenster der Knecht Christian der Tante zu.

Die Tante sah eine große Mannesgestalt; näher konnte sie in der Dunkelheit den Herrn nicht erkennen. Er war an den Wagen getreten und sprach hinein.

  1. WS: Im Original unleserlich, sinngemäß ergänzt.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863).Leipzig: Ernst Keil, 1863, Seite 708. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1863)_708.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)