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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863)

Junge, laß Dich nicht verblüffen!
Eine Scene aus Seume’s Leben.

Das Dörfchen Hohenstädt, eine Viertelstunde von der Stadt Grimma auf anmuthiger Höhe gelegen, schaute in freundlichster Nachmittagbeleuchtung auf dies grüne Thal herab, wo die Mulde wie ein sanftblaues Band an den Waldbergen dahin ging, als aus einem ziemlich am Eingange des Dorfes gelegenen und von Linden umschatteten Landhause zwei Männer traten und in eine Kirschallee einbogen, welche zwischen grüner Kornflur nach dem nahen Dorfe Böhlen führte.

Der eine der Männer, eine hohe stattliche Gestalt mit klaren, durchdringenden, aber zugleich wohlwollenden Augen, verrieth in seiner Kleidung, die sauber, ohne luxuriös zu sein, den wohlhabenden Mann. Der Begleiter, von mittlerer Größe, mit ernstem, fast düsterem Antlitz, schien weniger Aufmerksamkeit auf sein Aeußeres zu verwenden.

Die beiden Männer waren schweigend eine Zeitlang neben einander hergegangen. Jeder schien mit seinen Gedanken beschäftigt. Endlich blieb der Erstere stehen.

„Wie soll das enden?“ frug er. „Wir sind auf dem besten Wege eine französische Provinz zu werden. Bereits liegen Spanien, Italien, Holland zu den Füßen Frankreichs, und auch bei unsern deutschen Fürsten thäte es Noth, daß sie bei jeder einigermaßen wichtigen Regierungsmaßregel zuvor in Paris anfragten. Was ist aus diesen Franzosen, die wir so lange Zeit nur nach Roßbach und Krefeld beurteilten, geworden? Haben sie gänzlich ihr Wesen geändert?“

Der Begleiter, welcher gleichfalls stehen geblieben war und über die grünen Kornfluren nach den fernen Bergen schaute, erwiderte: „Nein, ihr Wesen haben sie nicht geändert, sie haben blos ihre Verhältnisse umgeschaffen. Die Franzosen sind seit funfzehn Jahren erst zur Nation im höheren Sinne des Worts geworden. Der Franzose, ohne Unterschied, schlägt sich jetzt für ein Vaterland, das ihm lieb geworden, da es ihm und seiner Familie eine gleiche Aussicht auf alle Vortheile vorhält und diese Vortheile wirklich gewährt. Nur nach dem, was er gilt, wird dort der Mann gewürdigt, bei uns wird die Schätzung genommen nach dem, was das Kirchenbuch spricht, der Geldsack des Vaters wiegt, oder das Hofmarschallamt vorschreibt. Für wen soll sich der deutsche Grenadier auf die Batterie oder in die Bajonnete stürzen? Er bleibt sicher, was er ist, und trägt seinen Tornister so fort und erntet kaum ein freundlich Wort von seinem mürrischen Gewalthaber. Er soll dem Tode unverwandt in’s Auge sehen, und zu Hause pflügt sein alter Vater fröhnend die Felder des gnädigen Junker, der nichts thut, nichts zahlt und mit Mißhandlungen vergilt. Der Alte fährt schwitzend die Ernte des Edelmanns ein und muß oft die seine verfaulen lassen; und dafür hat er die jämmerliche Ehre, der einzige Lastträger des Staats zu sein, eine Ehre, die klüglich nicht anerkannt wird. Soll der Soldat deshalb muthig fechten, um dasselbe Glück einst zu genießen? Er soll brav sein, und seine Schwester oder Geliebte muß auf dem Edelhofe zu Zwange dienen, jahrlich für acht Gulden, oft ohne Aussicht, ein Jahr wie das andere ihr Lebenlang; und seine alte Muhme, die kaum das trockene Brod hat, muß ihren zugewogenen Haufen Flachs spinnen; und sein kleiner Bruder muß Botschaft laufen in Frost und Hitze für einen Groschen den Tag. Das nennt man Staat und gute Ordnung und Gerechtigkeit, und fragt noch, woher das öffentliche Unglück kommt.“

Das sonst so farblose Gesicht des Sprechers hatte sich geröthet. Von dem Gegenstande erregt, fuhr er fort:

„Gleiches Recht für Alle ist ein göttlicher Gedanke, vielleicht der schönste, den wir haben. Unsere Feinde sind nur stark durch unsere physische und moralische Schwäche, die unsere Schuld ist. Ueberall gewahrt man unter dem Volke grobe und schmutzige Selbstsucht. Unter unsern Fürsten herrscht Mißtrauen; einer freut sich über das Unglück des andern, wird ohnmächtig durch Trennung, greift unüberlegt nach jedem kleinlichen Vortheil des Moments und bringt endlich sich und die Nation an den Rand des Verderbens. Ein Einziger ist jetzt Dictator von Europa, der vor fünfzehn Jahren nur eben Zutritt in das Vorzimmer dummstolzer Minister hatte. So geht es, wenn Memmen die Sache betreiben, und so geht es, wenn Knaben stehen, wo Männer stehen sollten. Wir sind, wenn wir so fortfahren, in Gefahr, weggewischt zu werden, wie die Sarmaten.“

Während Johann Gottfried Seume diese Anschauungen, die er später in seinen Werken fast wörtlich so niederlegte, seinem Begleiter mittheilte, welcher Niemand anderes als der sehr geachtete und seiner Zeit um Buchhandel und Literatur wohlverdiente Buchhändler Joachim Göschen war, in dessen Landhause zu Hohenstädt Seume oft wochenlang als Gastfreund wohnte, war man im Weiterwandeln an eine Wiesenfläche gelangt, wo ein etwa vierzehnjähriger Knabe eine Kuh im fetten Grase weidete und sich dabei selbst gemüthlich in den hohen Klee gestreckt hatte. Da kamen durch den Hohlweg, der nach der Mulde hinabführte, zwei junge Cavaliere, die bei einer adeligen Familie in Grimma zu Besuch waren und ihre Zeit nicht besser anzuwenden wußten, als ihre Jagdlust zu befriedigen, und, da geschlossene Jagdzeit war, diese Passion an Schwalben und andern harmlosen Vöglein ausließen. Wahrscheinlich war ihnen das Jagdglück heute nicht günstig gewesen, denn sie schienen mißgelaunt und zugleich übermüthig gelaunt, welche mauvais humeur sie glaubten an dem wehrlosen Knaben auslassen zu müssen. Sie hielten sich für unbeobachtet, da die daher kommenden zwei Spaziergänger durch eine Schwarzdornhecke ihnen verdeckt wurden.

„Junge,“ rief der Eine der jungen Edelleute in vornehm näselndem Tone dem Hirtenknaben zu, „augenblicklich steige auf Deine Kuh und reite sie uns vor.“

Der Knabe war aufgesprungen und erwiderte: „Das darf ich nicht, mein Vater hat mir verboten, auf der Kuh zu reiten.“

„Du wirst thun, was ich befehle.“

„Ich darf nicht, lieber Herr.“

„Wirst Du pariren, widerspenstige Brut, oder ich schieße!“

Mit diesen Worten erhob der Cavalier sein Rohr, und der Hahn knackte.

Der Knabe, durch dieses verdächtige Geräusch in hohe Angst versetzt, hielt gleichwohl Stand und rief in weinerlichem Tone: „Mein Vater hat es verboten.“

Der Cavalier, anstatt durch diesen Gehorsam gegen das väterliche Gebot für den Knaben eingenommen zu werden, hielt diese Unfolgsamkeit für verstockten Bauerntrotz, legte das Gewehr zielend an die Wange und wiederholte: „Wirst Du pariren, oder ich schieße!“

Als der geängstete Knabe die Mündung des Rohrs drohend auf sich gerichtet sah, sprang er erschrocken ein paar Schritte zur Seite, gleichsam um der Gefahr auszuweichen.

In diesem Augenblicke sprang Seume, der Göschen eine kleine Strecke voraus war und durch eine Lücke in der Schlehdornhecke das unritterliche Verfahren des jungen Edelmanns mit angeschaut hatte, hervor und rief mit Stentorstimme. „Junge, laß Dich nicht verblüffen, der Mann darf nicht auf Dich schießen!

Wie die Cavaliere sich auf diese Weise überrascht sahen und in der Ferne Göschen erkannten, der jetzt gleichfalls hinter dem Zaune hervortrat und dessen Persönlichkeit in ganz Grimma und der Umgegend in hoher Achtung stand, hielten sie es für gerathener, von weiterer Beängstigung des armen Knaben abzusehen und in einen Seitenweg einzubiegen.

„Das war kein Meisterstreich, Octavio!“ rief ihnen Seume erzürnt und spottend nach; doch die jungen Herren setzten trotz dieses Nachrufs ihren Weg unbeirrt fort. Da keiner von ihnen Octavio hieß, brauchten sie denselben nicht auf sich zu beziehen, und die Bonmots aus den Schiller’schen Dichtungen waren damals noch nicht so bekannt wie heutzutage.

Seume, welchem das für sein Alter so standhafte Verhalten des Knaben sehr gefallen hatte, ließ sich mit dem kleinen Burschen in ein Gespräch ein. Es war ein blonder Lockenkopf mit treuherzig blauen Augen. Bald kam auch Göschen hinzu. Die Antworten und das Benehmen des Kleinen gefielen den Beiden. Man erfuhr, daß der Vater ein armer Häusler und Tagelöhner aus dem benachbarten Dorfe Bahren, und daß die Kuh der einzige Reichthum der mit zahlreichen Kinder gesegneten Familie sei.

„Kannst Du auch lesen?“ frug Göschen.

„O ja,“ war die Antwort.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863).Leipzig: Ernst Keil, 1863, Seite 200. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1863)_200.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)