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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863)

Die schwedische Gräfin auf der Kunitzburg bei Jena.
Ein Mysterium.


Das Geheimnißvolle sammt seiner ihm innewohnenden Poesie hat in unsern modernen Polizeistaaten keinen Aufenthalt mehr. Und wenn auch einmal eine „wunderbare“ Persönlichkeit auftaucht, schnobernd und schnuppernd wird sie von der Polizei alsbald überall umgangen, gewaltsam ihr der Nimbus und die Glorie vom Haupte gerissen, bis das Wer? und Woher? seine urkundliche sichere Antwort gefunden, und so geschieht es denn freilich auch wohl, daß aus dem reichen Lord oder dem polnischen Grafen ein simples, aber pfiffiges – Schneiderlein sich entpuppt.

Vor Zeiten – noch just vor dem deutschen Bundestag – war es anders. Da konnte sich noch so mancher Schmerz hinaus in den Wald oder hinauf auf den Berg ein stilles abgeschiedenes Häuslein bauen und brauchte nicht zu fürchten, von einem Steuern und Abgaben heischenden Executor quartaliter an seinen unlösbaren Zusammenhang mit der Welt erinnert zu werden.

So vergönnt mir denn auch, Euch von dazumal eine recht mysteriöse Geschichte zu erzählen.

Im Frühjahre 1812 – also zu einer Zeit, wo es überhaupt recht dunkel und schwer über den deutschen Landen lag und jeder brave Mann im Vaterlande mit seinen eigenen Gedanken und mit dem Kummer in seinem Herzen genug zu thun hatte, als daß er noch hätte links und rechts auf seinen Nachbar schauen können, – im Frühjahr 1812 an einem Sonntag Nachmittags trat der alte Förster Blaufluß in die Schenke zu Golmsdorf – einem auf dem rechten Ufer der Saale, eine Stunde von Jena liegenden Flecken – und meldete den dort nach Feiertagsbrauch versammelten Bauern, daß eben die schwedische Gräfin auf dem Gleißberge angekommen sei. Das hatte er nämlich schon vor einiger Zeit erzählt, daß eine „berühmte schwedische Gräfin“ in die Gegend kommen werde, daß er bereits von seinem Oberförster Anweisung erhalten, auf dem Gleißberg hinter der Kunitzburg derselben 24 Acker Holz zum Umroden abzumessen. Wie aber diese fremde Gräfin hieß, woher sie komme, was sie hier mitten im Walde wolle, das hatte man ihm nicht gesagt, so sehr auch seine persönliche Neugier nach Beantwortung dieser Fragen getrachtet, kurz er wußte nicht mehr, als es sei eben eine schwedische Gräfin, welche sich dort niederlassen wolle.

Nur das hatte er von seinem Vorgesetzten noch erfahren, daß die Anweisung des Landes unmittelbar von dem Herzog in Weimar, von Karl August, ausgegangen war, und daß derselbe auch ihm und den Schultheißen von Golmsdorf und Kunitz Befehl ertheilt hatte, dem Aufenthalte und dem stillen Treiben der Fremden keinerlei Hinderniß in den Weg zu legen. Soviel erzählte denn auch der Förster – und von Tisch zu Tisch ging der Ruf: „die schwedische Gräfin ist da!“ Ob man auch nicht mehr als diesen Namen wußte, so war es doch, als wäre sie eine längst Bekannte und längst Erwartete.

So war sie also angekommen, nicht im Glanze und Prunke einer Fürstin, nicht mit reichem Gefolge – was hätte sie damit beginnen sollen droben auf der verfallenen Ritterburg, deren verwitterte Fensterhöhlen ein Asyl des Sturmes geworden, oder gar in der tiefen Waldeinsamkeit, in welche sie sich begeben wollte? – sie war allein mit einer einzigen Dienerin und ihrem, wie man sagte, Sohne, der eben in die Jahre des Jünglings getreten schien. Dagegen machte auf Jeden, der sie jetzt oder in der Folge sah, auch ohne jenen Schmuck, die Hohheit ihrer einfachen Erscheinung den entschiedenen Eindruck einer wenn nicht fürstlichen, doch mindestens vornehmen Abkunft.

Es war eine hohe, majestätische Gestalt, in vornehmer Haltung und zugleich Zurückhaltung, mit bleichem Gesichte, schönem Auge und dunkeln Haare.

Und so einsam, wie sie gekommen, so einsam wollte sie auch bleiben.

Hoch über dem Dorfe Kunitz, eine Stunde von Jena, am rechten Ufer der Saale hebt sich aus dem waldigen Hintergrunde wie ein kahler Scheitel vorgeschoben der steile Gleißberg. Nur mühsamem Klimmen über das Gerölle des Felsens gelingt es, den Gipfel zu erreichen und sich dann belohnt zu sehen mit einer herzerquickenden Aussicht in das anmuthige Thal der Saale zwischen Jena und Dornburg, was sie dort die weimarische Schweiz heißen, und mit einem Blicke hinüber auf das Schlachtfeld von Anno 1806. Droben aber stehen die verwitterten Zeugen mittelalterlicher Romantik, hohe Mauern mit weiten Fensterbogen, sturmumpeitscht, zerborsten und zerfallen, einst wohnliche Hallen starker Männer und zarter Frauen. Das edle, aber in der „kaiserlosen“ Zeit entartete Geschlecht der Herren von Glißberg thronte einst hier, zuletzt friedlicher Landstraße gefürchteter Schrecken, bis die eherne Hand des ersten Habsburgers sie darnieder warf und unter dem Schutte ihrer Veste begrub. Aber nicht auf die Grabstätte dieses Geschlechtes, nicht vornhin am Gipfel, mit dem Blicke hinab in das blühende Leben des Thales, wollte sich die fremde Frau mit dem Geheimniß ihres Herzens flüchten, nein, tiefer hinein in die schweigende Wildniß des Waldes zog es sie. Noch jetzt heißen sie die Stätte ihres Asyls „die schwedischen Plätze“. An dieser ihr zugewiesenen und von ihr acquirirten Stelle, nachdem dieselbe zum Theil schon vor ihrer Ankunft umgerodet und bestellbar gemacht worden war, begann nun die Frau ein Breterhaus bauen zu lassen, und das Feld mit allerhand Früchten, mit Korn, Weizen und Gerste zu bestellen. Allmählich fing sich die kleine abgeschlossene Pflanzung à la Robinson an zu vermehren und zu vervollkommnen. An der Stelle des Breterhauses entstand ein kleines einstöckiges Wohnhaus mit Stallung. Hühner, Ziegen und ein Kälbchen bildeten einen kleinen Viehstand, eine Scheune erhob sich neben dem Wohnhäuschen. Ein Esel mußte die Bedürfnisse der kleinen Wirthschaft aus den am Fuße liegenden Dörfern Kunitz und Golmsdorf holen, von dorther holte das Mädchen mit Hülfe desselben auch das Wasser. Dieses Mädchen war es aber allein, welche den Verkehr mit den Menschen, mit der Außenwelt vermittelte. Ihre Gebieterin verließ in der ganzen Zeit ihres Aufenthalts nie die Holzung, sie betrat nie die Stätten der Menschen. Jene aber sprach eine den Leuten der Umgegend unverständliche Sprache, sie konnte sich nur mühsam und allmählich verständigen. Der Sohn aber entfernte sich fast nie von der Seite seiner Mutter. Er beschäftigte sich mit dem Ausbau und der Verschönerung des Hauses oder fertigte Holzschnitzereien. Es war ein stiller träumerischer Mensch. Wenn der Herzog Karl August in der dortigen Gegend jagte, so kehrte er in dem Häuschen ein und hatte oft lange Unterredungen mit der Frau, bei welchen sorgfältig alle Zugänge zum Häuschen, ja selbst die Fenster verschlossen wurden. Für ihn war das Geheimniß ihres Wesens und ihres Herzens gewiß geoffenbart, für die ganze andre Umgebung war und blieb die Person ein Mysterium. Für alle war sie aber nur die schwedische Gräfin – eine Gräfin und aus Schweden stammend. Mehr wußten sie nicht.

Die Frau blieb in ihrer Wildniß bis zum Herbst des Jahres 1813, bis daß sie bei Leipzig Napoleon auf’s Haupt schlugen und in Paris einzogen. Da war die Fremde plötzlich verschwunden, rasch, wie sie gekommen. Auch der Sohn war fort, nur die angebliche Magd blieb noch eine Zeit lang da und führte die Wirthschaft wie zuvor. Von ihr aber erfuhren die neugierigen Frager der Gegend, daß die Entschwundene nach Wien gegangen sei auf den Congreß. Von der einsamen Höhe auf dem Gleißberg zu dem Wiener Congreß, mitten in den Centralpunkt der Weltgestaltung!

Und wäre es vorher nicht schon klar gewesen, so wäre es jetzt geworden, daß die Fremde keine gewöhnliche Erscheinung war. Sie mußte eine Ebenbürtige sein des Geschlechtes, das unter den verfallenen Zinnen begraben lag. Das Interesse, welches die Anwesende erregte, es wurde noch lebhafter angeregt für die Verschwundene. Wer war die Frau?

Jetzt nach fünfzig Jahren seit ihrem Waldasyle steht hinter diesem Fragezeichen immer noch eine leere Stelle. Sollen wir dem Volksmunde glauben, der die Frau zu einer schwedischen Gräfin stempelte? Wir sind allerdings darauf angewiesen, und die schwedische Geschichte, die Geschichte der schwedischen Dynastie kurz vor jener Zeit des Auftretens der Frau schließt diese Möglichkeit keineswegs aus. Nach Allem war es nicht die Liebhaberei eines Sonderlings, welche diese fremde Frau antrieb, das Geheimniß des Waldes zu suchen und vor den Menschen sich zu bergen. Es war eine von den Verhältnissen gebotene erzwungene Resignation. Vor diesem Entschlusse mußten bittere Lebenserfahrungen liegen, vielleicht ein glänzendes, sonniges und plötzlich in öde Nacht gekehrtes Leben. Es war eine Flüchtende, Verbannte, welche vor der Welt floh.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863).Leipzig: Ernst Keil, 1863, Seite 188. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1863)_188.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)