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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863)

Ein Vertheidiger.
Von J. D. H. Temme.
(Fortsetzung und Schluß.)


In der vergangenen Nacht war in dem Wirthshause an der Eisenbahnstation Wiekel ein Mordanfall verübt, und der entkommene Mörder war der Freiherr Wallberg vom Schlosse Hard, der Angeklagte, der Mörder des Grafen Hochhausen.

„In vergangener Nacht? Der Angeklagte aber ist ja Gefangener! Auch in der vergangenen Nacht. Um neun Uhr heute Morgen stand er schon vor den Geschworenen.“

Aber die Wirthsleute hatten ihn erkannt. Sie sahen ihn hier wieder. Auch der Verwundete hatte ihn erkannt.

Es war ein Räthsel, ein Wunder! Aber mir gingen sonderbare Gedanken durch den Kopf: das bleiche Kind, die die Tochter des Gefangenwärters war; der Vertheidiger, den bei ihrem Anblicke im Saale eine so stechende Angst ergriffen hatte; der Angeklagte, dessen blasses Gesicht, als er sie sah, noch blässer geworden war und sich mit Wehmuth und Schmerz erfüllt hatte; die Ohnmacht, in die sie gefallen war, als der Angeklagte von der Bravheit und Treue seiner Frau sprach. Und sie war die Tochter des Gefangenwärters, und der Vertheidiger war der gewandteste Anwalt des Landes! War das Räthsel zu lösen?

Ich hatte keine Ruhe. Ich mußte Licht haben, und das Gefängniß, wo die Tochter des Gefangenwärters wohnte, mußte mir dieses Licht bringen. Das Publicum des Saales war nach Hause geeilt. Die Leute wollten erzählen und – essen. Die Verhandlungen hatten sich weit über die Mittagszeit hinausgezogen. Ich ging zu dem Gefangenhause. Es lag neben dem Gerichtsgebäude und war mit diesem durch einen verdeckten und verschlossenen Gang verbunden. Aber der Gang war nur für die Beamten und für die Gefangenen bestimmt. Der gewöhnliche Eingang war in einer Seitenstraße. In diese ging ich. Das dunkle Gebäude lag hinter einer hohen Mauer, man sah über dieser nur die obere Fensterreihe und das Dach. In der Mitte der Mauer war ein weites Einfahrtsthor, daneben ein kleines Pförtchen mit einem Klopfer und einer Schiebeklappe. Ich ging zu dem Pförtchen, denn ich wollte in das Gebäude.

Von der andern Seite der Straße kam ebenfalls Jemand auf das Pförtchen zu. Ich erkannte ihn, es war der Vertheidiger des Angeklagten. Ich trat einige Schritte zurück. Er klopfte an das Pförtchen. Die Klappe wurde zurückgeschoben.

„Zu wem wollen Sie?“ fragte ihn eine Stimme.

„Zu dem Gefangenen, Freiherrn von Wallberg.“

„Es darf Niemand zu ihm.“

„Ich bin sein Vertheidiger.“

„Ich weiß es. Aber der Befehl lautet allgemein.“

„Von wem ist er ergangen?“

„Vom Herrn Präsidenten, und so lange Sie nicht eine besondere Erlaubniß von ihm haben –“

„Der Herr Präsident ist in den Gefängnissen?“ fragte der Vertheidiger.

„Ja.“

„So führen Sie mich zu ihm.“

„Es thut mir leid, ich darf auch das nicht. Er will völlig ungestört bleiben.“

Der Vertheidiger stand von ferneren vergeblichen Versuchen ab und ging weiter, er mußte an mir vorüber. Ich trat hervor.

„Das nennt man das Recht der freien Vertheidigung,“ sagte ich zu ihm. Er kannte mich nicht und sah mich etwas befremdet an, aber er schritt weiter. Ich ging zu dem Pförtchen, das er verlassen hatte, und klopfte an. Die Schiebeklappe war schon wieder zu. Sie öffnete sich wieder. Ein bärtiges Gesicht erschien darin.

„Zu wem wollen Sie?“

Es war dieselbe Stimme, die den Vertheidiger gefragt hatte.

„Zu Niemandem,“ antwortete ich. „Ich wünsche nur das Gefängniß zu besehen; ich bin Baumeister.“

„Das Innere?“ sagte er. „Das würde heute nicht angehen.“

„Das Aeußere denn. Ich gebe ein gutes Trinkgeld.“

Das Pförtchen war schon geöffnet. Ich trat in den Gefängnißhof. Vorher sah ich mich nach dem Vertheidiger um. Er war noch hinten in der Straße und machte ein verdutztes Gesicht, als er mich in das geöffnete Pförtchen treten sah. Ein Gefangenwärter hatte mir geöffnet. Ich gab dem Mann sogleich einen Thaler.

„Führen Sie mich, wohin Sie dürfen,“ sagte ich ihm.

Merkwürdig, nun durfte er mich führen, wohin ich wollte, und im Gehen gab er mir Auskunft, worüber ich sie wünschte.

„In die Gefängnißzellen dürfen Sie mich wohl nicht führen?“

„In die jenes linken Flügels schon.“

„Warum nicht in die des rechten?“

„Dort werden gerade Verhöre abgehalten.“

„Vom Criminalgericht?“

„Von dem Herrn Präsidenten selbst.“

„Ah, wohl in der Sache, die heute vor den Geschworenen verhandelt wird?“

„Ja, ja.“

„Ich war im Saale. Das ist eine sonderbare Geschichte.“

„Ja, ja,“ sagte er noch einmal. „Man will heraus haben, ob der Angeklagte, der Freiherr von Wallberg, in der vergangenen Nacht fortgewesen sei.“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863).Leipzig: Ernst Keil, 1863, Seite 145. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1863)_145.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)