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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863)

in das wahre Wesen unseres deutschen Volkes, das sich durch immer neue Erscheinungen von Tag zu Tag klarer darstellt. Es ist in der That, „wie kein zweites in der Welt, ein Volk aus einen Gusse – und, nach den drei Grundzügen seines Wesens, ein Volk von religiösem Bewußtsein, von unbegrenztem Wissensdrang, von opfermüthigem Freiheitsgefühl – und nur als ein solches darf es und will es genommen sein.“ Dieser patriotische Glaubens- und Lehrsatz unseres E. A. Roßmäßler,[1] der recht eigentlich als Motto gelten kann für eine Lebensbetrachtung, wie wir sie hier geben wollen, dieser Satz mahnt jeden Volkskämpfer an seine doppelte Pflicht: das Volk nicht wehrlos preiszugeben der rastlosen und bis in das Heiligste der Familie eingreifenden und einschleichenden Betriebsamkeit des Priesterthums, und vor Allem die Wiege unserer Volksbildung, die Schule, vom priesterlichen Gängelbande zu erlösen; denn nur der in seinem religiösen Bedürfniß nach seiner freien eigenen Gottesanschauung geschützte und vor jedem störenden Eingriff in seinen Bildungsgang gesicherte Deutsche wird mit ganzer Seele zum Vaterlande stehen. Wer daher für das Volk in den „strengen Dienst der Freiheit” geht, den muß die Einsicht leiten, daß beides, der Kampf auf dem politischen wie aus dem kirchlichen Gebiet, Schritt vor Schritt gemeinsam vordringen muß, wenn wir nicht abermals nur auf dem einen Flügel siegen wollen, während wir auf dem andern geschlagen werden. Man fürchte nicht, dadurch neue Feinde gegen das politische Streben des Fortschritts aufzuhetzen: nicht ein Feind kommt neu hinzu, sie stehen längst alle mitten im Kampf, nur daß die Heerschaaren des Priesterthums fast fröhlichen Sieges vorwärtsschreiten, weil sie auf so wenig geharnischte Gegner stoßen.

Diese Einsicht leitete den Mann, aus dessen edles Antlitz heute unsere Leser blicken: er verfolgte als Priester, Gelehrter und Bürger das eine Ziel der Volksbeglückung in der Kirche, in der Schule wie im Ständesaal, und wie er in seiner hohen geistlichen Stellung bei seiner kirchlichen Reformation das politische Feld nie außer Acht ließ, ebenso sollten unsere politischen Volksführer in ihrer hohen weltlichen Stellung nicht vom kirchlichen Gebiet so scheu, wie bisher, ihre geistigen Waffen zurückziehen. Das Volk denkt in dieser Hinsicht anders, als sie; und weil gerade jetzt in mehreren deutschen Ländern zugleich eine lebhaftere kirchliche Bewegung begonnen hat, so glaubten wir uns verpflichtet, gerade jetzt den einst von Hunderttausenden gesegneten und von Millionen gefeierten Wessenberg allen Deutschen wieder in das Gedächtniß zu bringen und allen deutschen Volkskämpfern als ein Vorbild auf die wohlverdiente Ehrensäule zu stellen.

Ignaz Heinrich Freiherr von Wessenberg ist der Sprosse einer alten Adelsfamilie, von deren Stammburg auf einem der Höhenzüge des Frickthals unweit Brugg, im heutigen Canton Aargau, nur noch wenige Trümmer zeugen. Er war der mittlere von drei Brüdern und am 4. November 1774 zu Dresden geboren. Sein Vater, Philipp von Wessenberg, bekleidete am kursächsischen Hofe die Stelle eines Conferenzministers und Obersthofmeisters der verwittweten Kurfürstin und leitete später die Erziehung des minderjährigen Kurfürsten Friedrich August, entsagte aber dem Hofleben im Jahre 1776 und zog sich auf sein Gut Feldkirch im Breisgau zurück.

Hier verlebte Heinrich seine Knabenjahre. Das Leben der Familie in Feldkirch, und während der Wintermonate im nahen Freiburg, war ein glückliches; selbst der ehrwürdige Schmuck eines Großvaters fehlte ihr nicht, eines neunzigjährigen Greises, der oft Heinrich‘s, seines Lieblings, Antlitz mit Freude streichelte und mit Stolz sagte: „Das ist noch eine rechte deutsche Stirn!”

Und diese Stirn log nicht; der Mann machte des Greises Ausspruch zu einem Prophetenwort.

Nachdem Wessenberg sich durch fleißige Studien auf den Schulen und Universitäten zu Augsburg, Dillingen, Würzburg und Wien für seinen Stand vorbereitet und schon im Jahr 1799 actives Mitglied der Domcapitel von Constanz und Augsburg geworden war, eröffnete ihm im Januar 1800 der Tod des Fürstbischofs von Constanz das Feld seines großen Wirkens. Dalberg bot ihm das Generalvicariat von Constanz an, und Wessenberg übernahm es, nachdem beide Männer in einer vertrauten Unterredung zu Augsburg sich den Plan über die zukünftige Gestaltung der Kirche gemeinsam vorgezeichnet hatten. „Nach jener Unterredung,” schreibt Wessenberg, „hatte ich nun meine Bestimmung, und mein Entschluß stand fest, ihr mein Leben und alle meine Kräfte zu widmen.”

Ehe er jedoch damit beginnen konnte, führte ihn die Nachricht von der Erkrankung eines Oheims nach Regensburg, und die Ereignisse der Zeit (der traurige Verlauf und Ausgang des österreichischen Kriegs gegen Frankreich, von den Schlachten von Marengo und Hohenlinden bis zu den Friedensschlüssen von Basel, Campo Formio und Lüneville, 9. Februar 1801) hielten ihn über ein Jahr dort zurück. Seine Bemühungen, den drohenden Säcularisationen geistlicher Herrschaften gegenüber „solche Stipulationen zu erhalten, wodurch die Selbstständigkeit der deutschen Kirche gesichert und zugleich die Interessen der Humanität und Bildung gefördert würden” – kurz, für die Kirche in Deutschland eine nationale Stellung und einen nationalen Charakter unter einem Primas zu erlangen – sie scheiterten an der persönlichen Bequemlichkeit und den politischen Nebenrücksichten der Kirchenhäupter jener Tage. – „Ueberhaupt war,” schreibt Wessenberg über jene Zeit, „im deutschen Vaterland, namentlich in gewissen Kreisen, aller Gemeinsinn und patriotische Geist erschlafft. Die heillose Schicksalsidee hatte sich, wie der dramatischen Dichtung, so auch des wirklichen Lebens bemächtigt. Entmuthigt und gedankenlos lebte man in den Tag hinein. … Die Wahrnehmung dieser Zustände erregte in mir einen wahren Ekel und die Sehnsucht, recht bald meine Kräfte einzig dem Berufe meines geistlichen Hirtenamtes zu widmen.”

Als Wessenberg die Verwaltung des Bisthums Constanz übernahm (so sagt Dr. Jos. Beck[2], der Biograph Wessenberg’s dessen vortreffliches Werk wir diesem Artikel zu Grunde gelegt haben), belief sich die Seelenzahl der katholischen Bewohner in den deutschen und schweizerischen Antheilen auf etwas über anderthalb Millionen, die gesammte Geistlichkeit umfaßte 6608 Personen, kam also auf etwa 233 Einwohner ein Kleriker! Der geistige Zustand der Diöcese war trostlos, von der geistlichen Regierung an bis hinab zu den untergeordneten Organen der kirchlichen Verwaltung. Hier lagen Schäden offen, die mit einer Gewalteur nicht zu heilen waren.

So begann er denn sein Reformationswerk mit der Berufsbildung der Geistlichkeit selbst. Um zunächst Ordnung und Pünktlichkeit in die Geschäfte zu bringen, entwickelte er eine riesige Arbeitskraft. Von Morgens fünf Uhr bis spät in die Nacht fand man ihn rastlos beschäftigt. Dadurch suchte er nicht nur die Unfähigen vor der Hand selbst zu ersetzen, sondern allen Geistlichen seiner Diöcese mit seinem Beispiel voranzuleuchten. Allmählich schritt er dann zu der Ausscheidung der durchaus Unbrauchbaren und Unverbesserlichen. Bei allen seinen Schritten aber ging er von dem Grundsatz aus: „Keine Reform vorzunehmen, die nicht eine Verbesserung wäre, und nichts zu ändern, was nicht einer Verbesserung bedurfte.”

Seinen Kampf gegen jenes hierarchische System, welches nur auf dem Boden geistiger Uncultur gedeiht, eröffnete er mit einem Regulativ, das den Studiengang der Candidaten der Theologie feststellte. Ueber die Aufnahme in das Seminar entschied fortan eine Hauptprüfung, welche Wessenberg, so oft als möglich, selbst leitete. Das Seminarwesen erfuhr eine völlige Neugestaltung, und insbesondere erhob er das Hauptseminar zu Meersburg zu einer Musteranstalt. Damit dies ganz in seinem Geist geschehe, zog er für einige Zeit selbst nach Meersburg, um das Ganze zu leiten und wichtige Lehrfächer so lange selbst zu übernehmen, bis er die rechten Männer für sie gefunden hatte. Sogar für eine Buchhandlung sorgte er, denn auch damit sah es in der Diöcese, bei dem gar zu geringen Bücherbedarf des bisherigen Priester- und Gelehrtenthums, schlimm genug aus.

Nicht weniger kräftig ging er an die Reformen in der Verwaltung des Bisthums, in der er vor Allem für einen bessern Organismus sorgte. Er strebte dahin, im Klerus wieder Sinn für christliches Gemeinleben zu wecken, rief die vergessenen Pastoralconferenzen wieder in’s Leben, gründete eine besondere Zeitung (Archiv für die Pastoralconferenzen etc.) für dieselben, deren Redaction er selbst fünfundzwanzig Jahre besorgte, richtete literarische Lesevereine und Capitelsbibliotheken ein, schrieb öffentliche Preisfragen aus, erneuerte die Concursprüfungen und suchte sogar die vielen geistlichen Müßiggänger, die sog. einfachen oder simplen Priester


  1. Die Fortschrittspartei und die Volksbildung.
  2. Freiherr J. Heinrich von Wessenberg. Sein Leben und Wirken. Zugleich ein Beitrag zur Geschichte der neuern Zeit. Auf Grundlage handschriftlicher Aufzeichnungen Wessenberg’s. Von Dr. Jos. Beck, großherzogl. bad. Geh. Hofrath. Freiburg, Fr. Wagner. 1862.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863).Leipzig: Ernst Keil, 1863, Seite 38. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1863)_038.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)